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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1305–1308

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jürgasch, Thomas, u. Tobias Keiling [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anthropologie der Theorie. Hrsg. in Zusammenarb. m. Th. Böhm u. G. Figal.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. VIII, 347 S. = Otium, 6. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-155441-4.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Der Band versammelt verschiedene Aufsätze, die alle um die Thematik der Verhältnisbestimmung von Anthropologie und Theorie bzw. von Theorie und Muße als Voraussetzungsbedingung von Theorie kreisen. Sie stehen im Kontext eines Freiburger Sonderforschungsbereichs zum Thema der Muße unter der Perspektive ihrer Verbindung zur Theorie, wie sie von Aristoteles bereits in der Nikomachischen Ethik entfaltet wurde.
Zentraler Ausgangspunkt des Forschungsprojekts zur Muße ist es, die Bedingungen von Theorie reflexiv auf ihre Parameter zu untersuchen, zu denen auch ihre anthropologische Einbindung ge­hört. Mit dem Thema der »Anthropologie der Theorie« wird die besondere Stellung des Menschen in diesem Zusammenhang reflektiert, einschließlich seiner leiblich-natürlichen Umwelt. Die Verbindung von Theorie und Muße vollzieht sich nicht mehr nur in traditionellem Sinne jenseits der natürlichen Bedingungen, sondern sie ist orientiert an einer Anthropologie als Naturphilosophie des Menschen. Das Spezifikum der Muße zeigt sich in dieser Auseinandersetzung darin, dass sie nach dem metaphysischen Bruch in der Neuz eit sozusagen die leiblich-geistige Disposition des Menschen in ihrer Verschränkung aufzeigt, die als leiblich-natürliches, sinn-liches Pendant des Transzendentalen ihren Ort in einer philoso-phischen Anthropologie haben kann. Die Bestimmung der Theorie bezieht sich daher zunächst auf die Anthropologie als Reflexion über den Menschen, sodann aber auch auf die empirische Erforschung des Menschen, wie es in Biologie oder Psychologie erfolgt, sowie auf die Schnittstelle zwischen philosophischer und empirischer Untersuchung, wie es Anliegen der »Philosophischen Anthropologie« war. Im Zwischenbereich von Naturalismus und Idealismus vermag sich eine solche Theorie in einem höheren Realismus hermeneutisch zur Darstellung zu bringen. Selbst in diese Anthropologie eingespannt, vermag diese, die Theorie selbstkritisch reversibel und fortschreitend sich selbst verstehend, nicht als regressus ad infinitum, sondern als progressus ad infinitum zu beschreiben, oder besser in Form eines hermeneutischen Zirkels als Progress im Regress und vice versa, der sich am Distanznehmenkönnen des Menschen, das prinzipiell dessen Fähigkeit zur Theoriebildung impliziert, orientiert.
In allen Beiträgen kommt diese Einsicht in gewisser Weise zum Vorschein. Der erste Beitrag von Günther Figal ist trotz seines geringen Umfangs für das Werk zentral, indem er – als einer der Sprecher des Sonderforschungsbereichs (SFB) – das Thema Anthropologie der Theorie als solches einer genaueren Betrachtung unterzieht und »zum Geleit« (1) gibt. Daher nimmt Figal umfassend die Zielrichtung des SFB zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Er setzt bei der Formulierung Odo Marquards an, Anthropologie sei die »Naturphilosophie des Menschen« (1) und ergo auch die Naturphilosophie der Theorie. Dies bedeutet insofern einen Konflikt, als dies es erfordert, den Theoriestatus der Anthropologie selbst zu klären (2). Am Beispiel der Phänomenologie Husserls kann dies nachgezeichnet werden, da diese in besonderer Weise selbst in ihrer Entwicklung als »Austrag der anthropologisch-theoretischen Spannung« beschreibbar ist (2 ff.). Dabei ist der Bezug auf Husserl auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Wahl; schließlich rief Husserls Kritik am »Anthropologismus« in den Logischen Untersuchungen I eine Spaltung von Phänomenologie und Anthropologie hervor, die besonders über Heidegger bis heute nachhallt. Demgegenüber stellt der späte Entwurf Husserls zu einer Anthropologie ein eigenes Konzept dar, dessen Grundcharakter Figal als eine Entwicklung der Freiräume darstellt, die die phänomenologische Betrachtung auf dem Boden ihrer leiblich-personalen Fundamente ansiedelt. Damit stellt Figal also eine verbreitete Konkurrenz von Phänomenologie und Anthropologie bereits »an der Quelle« infrage, indem über Husserls Phänomenologie Konvergenzen beider Diskurse sichtbar gemacht werden. Mit dieser Einordnung der Anthropologie gelingt es Figal über die Phänomenologie Husserls zugleich einen Beitrag für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um einen möglichen Realismus zu leisten. Denn mittels solcher Einordung wird ein Realismus weder in einen Naturalismus nivelliert noch in einen Idealismus verengt. Er bildet vielmehr gemäß dem In-Spannung-Sein des Menschen das Verhältnis zwischen Geist und Natur ab und versucht dieses Verhältnis theoretisch einzuholen.
Das In-Spannung-Sein des Menschen ist dann auch in allen weiteren Beiträgen vorausgesetzt, sei es in der Frage nach dem Verhältnis von Begrenzung durch unsere Natur auf der einen und der Freiheit der Theorie und in der Muße auf der anderen Seite, wie es für Platon im Beitrag von Hilder Telo (11–28) gezeigt wird, oder in der Verbindung nicht nur von Theorie und Praxis, sondern auch mit der Muße als Ausdruck individueller Sinnfindung, wie es nach Simon Varga (29–48) bei Aristoteles als die erstrebenswerte Lebensform bestimmt wird. Dass für eine Anthropologie der Theologie nicht von ungefähr biologische Merkmale ins Spiel zu bringen sind, zeigt Michael Vollstädt gerade für die christliche Anthropologie im patris-tischen Zeitalter anhand des zentralen Hinweises Gregors von Nyssa auf die Bedeutung des »aufrechten Gangs«, die ihm nach Vollstädt gerade als solche zur Begründung einer Anthropologie der Theoria dient (49–64). Andreas Kirchner (65–98) zeigt eine umfassende Bedeutung der Theoria für die Anthropologie in hervorgehobener Weise bei Plotin auf. Er entdeckt dort im Streben nach Theoria das Wesen der Wirklichkeit und damit deren Geiststruktur, durch die der Mensch seine besondere Stellung als »diskursiv denkende Seele« im Gefüge der Wirklichkeit erhält (91). Auch im mystischen Konzept einer »apophatischen Theorie« bei Dionysius Areopagita wird das Verhältnis von Anthropologie und Theorie gegenseitig bestimmt. Nach Thomas Jürgasch (99–132) liegt die Pointe beim Areopagiten jedoch darin, dass das Verhältnis von Theorie und Anthropologie wie auch zur Theologie vom Apophatischen zum Hypophatischen überschritten wird, das in einem »Überseienden« als höchstmöglicher Verwirklichung seine Darstellung findet (120). Entscheidend ist dabei für beide Bestimmungen jener genannte Zwischenraum oder Hiat zwischen Theorie als Vollzug und ihrer Totalität, der die Gottesbeziehung des Menschen als seine eigene Verfasstheit zu charakterisieren vermag. Wie für Gott, so sind daher auch für den Menschen keine Prädikationen möglich. Menschsein ist nur im Vollzugsein und daher weder abschließend noch in einer Bestimmung durch Prädikate zu erfassen.
Neben diesen Beiträgen, die in expliziter Weise die theologische Dimension der Verhältnisbestimmung von Theorie und Anthropologie in den Blick nehmen, wie etwa auch der weitere von Emanuele Coccia zum monastischen Recht und der Regel des Franziskus (133–190) oder der von Burkhard Hasebrink zu Meister Eckhart in seinem Beitrag »Die Anthropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckhart« (191–208), kommt die ästhetische Dimension in dem Beitrag von Margot Wielgus zu Henry David Thoreaus Verhältnis von »Solitude & Thinking« (209–224) zum Tragen. Wie die Frage der Verhältnisbestimmung dann unter den Bedingungen im Übergang zur Moderne bei Nietzsche im Beitrag von Volker Gerhardt (225–246), in der Phänomenologie bei Husserl im Beitrag von Hanne Jacobs »Phänomenologie als Lebensform? Husserl über phänomenologische Reflexion und die Transformation des Selbst« (247–275) und bei Heidegger mit Blick auf Schelling zum Thema »Das Ethos des Denkens, ein Ethos der Muße« (275–294) bei Sylvaine Gourdain sowie im Blick auf die »ethischen Implikationen der Theorie ausgehend von Emmanuel Levinas und Hannah Arendt« im Beitrag von Jochen Gimmel (295–322) exemplarisch dargelegt wird, bildet die Bandbreite der Ausdifferenzierung der in der Theorie wurzelnden Bezüge zu den Transzendentalia des Schönen, Wahren und Guten in ihren modernen und postmodernen Gestalten einer Anthropologie der Theorie ab. Mit einem Beitrag zu Blumenbergs Phänomenologie der Theorie »Am Rand der Lebenswelt« (323–342) durch das Autorenduo Sonja Feger/Tobias Keiling, die das umfangreiche Werk Blumenbergs kundig darlegen, schließt der Band. Überraschenderweise jedoch ist bei diesem letzten Beitrag das für das Thema der Theorie einschlägige Werk Blumenbergs, »Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie«, nicht beachtet worden. Deutlich wird gleichwohl in diesem letzten Beitrag, wie auch in den vorigen, dass ein Moment der Unterbrechung, sozusagen als Freiheit zum Nachdenken, dasjenige ist, das anthropologisch relevant und für das Verhältnis von Anthropologie und Theorie entscheidend bleibt.
Als einschlägig hat sich also für dieses Gesamtprojekt das Zwischensein des Menschen erwiesen, oder wie es Volker Gerhardt mit Nietzsches Verständnis von Muße als »Pause vor der Produktivität«, als Zwischenschritt zur Selbstüberschreitung (244), zwischen Geist und Natur, Vernunft und Freiheit dargestellt und damit die Problematik der theoretischen Selbsterfassung des Menschen und seiner (Lebens-)Welt erfasst hat. Die Beiträge zeigen eindrücklich, dass dieses Zwischensein seit jeher in der Theorie bearbeitet wurde, sei es als höchste Form der Praxis, sei es als Kontemplation in der Muße, sei es in der Bestimmung der Theorie als Nachdenklichkeit in den lebensweltlichen Eingebundenheiten des Menschen. Es ist dieses Zwischensein als das das Menschsein in seinem Vollzug selbst beschrieben werden kann, das zwischen den Formationen von Dasein/Existenz/Lebenswelt als seinen Ursprungsbedingungen und seiner Zielrichtung der Theorie seine Form der Reflexion findet. Diesen Zwischenraum in einer komplexen, in sich widersprüchlichen und doch aufeinander bezogenen Gestalt durchsichtig zu machen, ist durch eine nicht abschließbare Vollendung gekennzeichnet, wobei das Nichtabschließbare aber nicht als Defizit, sondern gerade als in der Muße liegende Ermöglichungs- und Vollzugsbedingung von Theorie gesehen werden kann.
Das Werk hat hohe erkenntnistheoretische und ethische Relevanz, die ontologische Grundfragen berührt, die gerade in einer Zeit der Infragestellung der philosophischen Erfassungsmöglichkeit von Realität, die eben auch mit einem Theorieverlust einhergeht, von Bedeutung ist. Damit bietet es nicht nur eine Anschlussfähigkeit, sondern eine informative Selbstverständigungshilfe für vielfältige wissens-theoretische Diskurse. Für den gegenwärtigen philosophischen und theologischen Diskurs, insbesondere im Bereich der Ethik, sind seine Einsichten insofern von Bedeutung, als etwa in der Diskussion um den Menschenwürdebegriff das nicht abschließbare Offene dieses Begriffs nicht als Defizit, sondern als angemessene Bestimmung der besonderen Existenzform des Menschen angesehen werden kann.
Es wäre dem Buch eine weite Verbreitung in den für die Theorie und Anthropologie einschlägigen Fachdiskursen zu wünschen.