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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1303–1305

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Held, Klaus

Titel/Untertitel:

Der biblische Glaube. Phänomenologie seiner Herkunft und Zukunft.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann Verlag 2018. 176 S. = Klostermann Rote Reihe, 105. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-465-04353-9.

Rezensent:

Hermann Deuser

Es ist bloß ein Gerücht, dass Philosophie und Theologie sich gegenseitig nichts mehr zu sagen hätten. Klaus Held beweist das Gegenteil, und zwar gerade auf der Basis der strengen phänomenologischen Methode Edmund Husserls und ihrer Weiterentwicklung in der Philosophie der Lebenswelt. Im Ergebnis liegt ein leidenschaftlicher theologisch-philosophischer Traktat vor, der nicht weniger als die Aktualität des »biblischen Glaubens« diskutieren will, in der Transparenz des philosophischen Argumentes bei gleichzeitiger Kulturkritik der Gegenwart. Das Büchlein endet mit der offenen Frage nach der Realität der Auferstehung (176) und warnt die Theologie, in diesem alles entscheidenden Punkt noch auf empirisch-historische Tatsächlichkeit zu setzen oder im anderen Extrem auf eine Entmythologisierung (175), die den Narrativen die ihnen eigentümliche Kraft nimmt. Worin besteht dann die »Realität«, die die biblischen Texte »glauben« und zum Ausgangspunkt für die jeweilige Lebenspraxis gewählt haben? Wie kommt es zum Glauben an den »einzig-einen« (96) Gott?
Dem eigentlichen Traktat sind zwei Kapitel vorangestellt, eine Einleitung zur »geschichtlichen Stellung der phänomenologischen Epoché«, womit zugleich die Eckpunkte der methodischen Basis für die folgende Gesamtthese abgesteckt werden; und ein nicht minder grundlegendes Kapitel »Gott in Husserls Phänomenologie«, das zum einen für die Husserl-Forschung aufschlussreich und zum anderen für den Spielraum der folgenden Thesenbegründungen ausschlaggebend ist. In aller Kürze ist festzuhalten: H. entwickelt das Recht der phänomenologischen Methode im lehrreichen Vergleich mit der Philosophie der Griechen, den frühen Naturphilosophen, den Klassikern (Plato und Aristoteles) und dem geistesgeschichtlich für das Christentum entscheidenden Hellenismus bzw. Neoplatonismus. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Vergleichspositionen liegt einerseits religionsgeschichtlich in der immer vorausgesetzten polytheistischen Religionsauffassung und andererseits in der Geburtsstunde der Philosophie: in der kritischen Wendung aufgrund der Frage nach dem (wahren) Sein im Gegensatz zu bloßen Meinungen (Heraklit). Diese zu vermeiden setzt die Blockierung der »natürlichen Einstellung« (Husserl) vor aus, die immer schon bei den Dingen ist. Stattdessen muss die Wahrheit der Dinge als »Unverborgenheit« erst erfahren werden. Bei trotzdem unüberwindbarer Perspektivität der Urteile erscheint eine Urteilsenthaltung (phyrronische Skepsis) als Lösung, was allerdings selbstwidersprüchlich doch auf einem Urteil beruht, nämlich der Nichtübereinstimmung von Erscheinung und Wahrheit der Dinge. Die moderne Phänomenologie hält also – mit und gegen die Skepsis – die Wahrheit des Seins der Dinge in einer gewissen Schwebe: »Erscheinen von Sachen in Erscheinungsweisen« (33). Das bedeutet für die Religion, dass die Vielheit zwar alltagstauglicher, aber immer auch konkurrierender Göttervorstellungen tendenziell in der Kritik steht (Xenophanes), und dafür ist die Phänomenologie der neutrale Beobachter.
Es gibt aber vor allem auch einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen phänomenologischer Methode und biblischer Religions- bzw. Gottesauffassung. Dies zeigt sich in der Grundstruktur der Phänomenologie selbst und dann in den Texten Husserls, die immer wieder auf das Gottesproblem zurückkommen: Im Umgang mit den Erscheinungen der Dinge bleiben diese in ihrer Perspektivenvielfalt abhängig von den jeweiligen Lebenshorizonten, aus denen sie stammen; und diese wiederum stehen in einem Zusammenhang gegenseitigen Verweisens mit der Tendenz zu einem umfassenden »Universalhorizont« (35). Dieser – immer perspektivischen – Horizontbindung ist nicht zu entkommen, mehr noch: Es bleibt bei einer »Verborgenheit« sozusagen der »Rückseite« dessen, was als »Welt« im umfassenden und immer präsenten Sinn er­scheint (36 f.). Hier gilt nicht mehr der substanzhafte Dualismus Descartes‘, der eine abgetrennte Außenwelt unterstellte (30), sondern die »Verweisungsspielräume« (37) der horizontabhängigen Lebenswelt sind unsere Realität. Hinzu kommt die Intentionalität der Dingerfahrungen, die eine teleologische Erwartung auf Erfüllung impliziert, die auf Gewissheit und Bewährung aus ist – einem »instinktiven« Glauben folgt (44). Gott wäre dann (mit Platon) als Inbegriff des Guten zu verstehen, das Gewissheit und Lebensgestaltung verspricht (45 f.). Dies in die Dimensionen des Universalhorizontes übertragen, in dem das Gewisswerden auch die nicht auflösbare asymmetrische Erfahrung des Anderen erlebt, würde bedeuten: »Gott als die Gewährleistungsinstanz für die Erreichbarkeit von Einstimmigkeit im unendlichen Welthorizont zu begreifen« (57). Das führt einerseits zur monotheistischen Konsequenz, andererseits, wegen der Abhängigkeit von nicht einholbaren Horizontverweisungen, zur vorausgeltenden Anerkennung der Lebenswelt. Dadurch kann Gott nicht mehr als höchster Begriff der Metaphysik, nicht als Superlativ alles Anderen vorgestellt werden – immer aber selbst im Werden und im Komparativ zu allem (58). Wird der Gottesglaube dadurch nicht immer »idealer« und tendenziell (theistisch-metaphysisch) immer abstrakter gegenüber der Lebenswelt, was so für die polytheistischen Traditionen noch nicht möglich war?
Zum Traktat selbst: § 1 präzisiert die »Weltgewissheit« (73) des (phänomenologischen) Basisglaubens, der biblisch aus den polytheistischen Horizonten (Israels) entsteht und als das »unthematisch […] Selbstverständliche« in Kraft ist. – § 2 erläutert dieses »Paradox« des Unthematischen, worin das philosophische Staunen und die Welt als solche zu denken seit der Achsenzeit (Karl Jaspers, 73) in der griechischen Philosophie und (vor allem) in den prophetischen Texten des Alten Testaments zum Ausdruck kommt. – § 3 zeigt die Analogie zwischen der biblischen (antipolytheistischen) Tora und den Ursprüngen der Philosophie in der »Offenheit für das Weltganze« (79). – § 4 nennt die religiöse Grunderfahrung des einen Gottes (der jetzt für alles verantwortlich gemacht werden muss) und der einen Welt »Übermacht-Erfahrung« (89). Sie führt zu einem »denkenden Glauben« in »weltoffener Grundhaltung«. – § 5 be­stimmt genauer, warum nicht mehr (wie in der traditionellen christlichen Metaphysik) vom »Wesen« Gottes gesprochen werden kann. Allein »komparativ« kommt die Überbietung des »anschauungsentzogenen Wüstengottes« (101) zum Zuge. Der biblische Begriff der Hoffnung steht als »intentionales Gefühl« (108) für diese neue Lage. – § 6 demonstriert an Anselms Gottesbeweis dessen Unmöglichkeit und (mit Kant) das Scheitern jeder Theodizee, deren Voraussetzung des »superlativischen« Denkens als »Lebensweltvergessenheit« gebrandmarkt werden muss (123) und die eine moderne Verständigung über Schöpfung und Evolution verhindert hat. – § 7 summiert die Hauptthese, dass die »Verborgenheit« des biblischen Gottes der der »Einzigkeit« der Welt korrespondiert (131), was im geschichtlichen Handeln zum Ausdruck kommt. – § 8 interpretiert das Samariter-Gleichnis (Lk 10,25–37) als Grenzsituation (»Limessituation«, 142), deren bleibende Relation zum ›normalen‹, alltäglichen Leben aber nicht übersprungen werden sollte. Goldene Regel und das Gebot der Nächstenliebe sind auf solche Gegenseitigkeit aus, und § 9 vertieft diesen Ansatz. »Liebe als Gefühl« kann durchaus auch ›geboten‹ werden. – § 10 insistiert auf der »Radikalität des christlichen Durchbruchs zu einer […] universalistischen Weltoffenheit« (153), während § 11 und § 12 auf die Gefahr der »Vertauschung« von regelfreier Grenzsituation des Handelns mit der »Normalität eines heimweltlichen Ethos« (156) aufmerksam machen. Hierin ist die kulturkritische Schlussthese von einer ethischen »Verwüstung« begründet, wenn der Ausnahmefall zur Regel erklärt werden soll. Diese Lebensweltvergessenheit (166 ff.) erscheint als a-religiöse Konsequenz der biblisch-philosophischen antipolytheistischen Grundhaltung. Das ist gut barthianisch gedacht (161), doch warum soll der Religionsbegriff nicht so gefasst werden, dass er mit der monotheistischen Bindung die Tendenzen zur Subjektivierung und neuen Ritualisierung, den Common Sense von Alltagsethik und evolutionistischem Denken einschließen kann? Augustin (»dilige et quod vis fac«, 158) hat dem Problem des tertius usus legis pointiert Gehör verschafft, muss aber nicht das letzte Wort in dieser Sache haben.