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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1301–1303

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brungs, Alexander, Mudroch, Vilem, u. Peter Schulthess [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Philosophie des Mittelalters. Bd. 4: 13. Jahrhundert. 2 Teilbde.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2017. 1713 S. m. 24 Abb. = Grundriss der Geschichte der Philosophie (Ueberweg), Mittelalter, 4. Lw. EUR 290,00. ISBN 978-3-7965-2626-8.

Rezensent:

Martin Klein

Nachdem der Schwabe Verlag in den 1950er Jahren die Rechte für den Nachdruck der Neubearbeitung von Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie erworben hatte, plante er schon eine dritte, völlig neu zu bearbeitende Ausgabe. Zwischen den inzwischen abgeschlossenen Abteilungen zur Antike, zum 17. und zum 18. Jh. klaffte bisher eine Lücke, die nun geschlossen werden soll. Den Anfang macht der im letzten Jahr erschienene Band zur Philosophie des 13. Jh.s, der auch schon auf andere Bände der Abteilung zur Philosophie des Mittelalters verweist, deren Publikation für die kommenden Jahre geplant ist.
Das 13. Jh. wird in zwei Halbbänden präsentiert, die sich in insgesamt drei Teile gliedern. Teil I ist den Voraussetzungen des Philosophierens gewidmet. Diese betreffen den Philosophiebegriff, die institutionellen Rahmenbedingungen und Quellen, ihre Übersetzungen (sehr hilfreich sind hier die umfangreichen Listen zur Übersetzungstradition in § 6) sowie die Rezeption früherer Philosophie (unter erfreulich breiter Berücksichtigung der arabischen und jüdischen Tradition). Die Einleitung zum Philosophiebegriff macht sogleich deutlich, worin sich dieser Grundriss von anderen Darstellungen zur mittelalterlichen Philosophie unterscheiden soll: Ausgangspunkt ist der zeitgenössische und nicht unser gegenwärtiger Philosophiebegriff. Damit grenzt der Mitherausgeber Peter Schulthess den Band von (etwas pauschal) als analytisch-englischsprachig identifizierten Aktualisierungsunternehmungen ab (vgl. 5), denen gegenüber eine »historisierende Sichtung« bevorzugt wird, die »Differenzen hervorzuheben sucht und der Philosophie […] die Koordinaten Ort, Zeit und Sprache […] zumisst« (8 f.). Dies verlangt in der Folge dem Leser einige Bereitschaft gegenüber scholastischem Jargon ab. Thematisch bedeutet dieses historiographische Vorgehen für die Darstellung der Philosophie im 13. Jh. eine starke Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Theologie, in Teil I vor allem in institutioneller Hinsicht (vgl. die Ausführungen zur Artes- und theologischen Fakultät an der Universität sowie knapp zum Studienwesen der Bettelorden in Kapitel 2).
Wie konfliktreich das Verhältnis von Theologie und Philosophie sein konnte, wird in Teil II in § 15 zur »Verurteilung von 1277« angesprochen, das L. Bianchi konzise verhandelt (wenn auch eine Ge­samtdarstellung aller wichtigen Verurteilungen und ihrer Folgen im 13. Jh. denkbar gewesen wäre). Teil II ist ein unschätzbarer Fundus und widmet sich einzelnen Autoren oder Gruppen nach dem Schema Leben-Werk-Wirkung, eingeleitet jeweils mit Listen ihrer Schriften, Editionen und Übersetzungen. So hat man zwar alles auf einen Blick, derartige Repertorien sind jedoch heute in Onlinedatenbanken, die beständig aktualisiert werden können, vielleicht besser aufgehoben. Den so gewonnenen Platz hätte man für eine umfangreichere Bibliographie nutzen können, die jedes Kapitel abschließt und die für die englischsprachige Literatur Lücken aufweist (für ein Studium der Sekundärliteratur wäre zudem eine al­phabetische Ordnung nach Autorinnen günstiger gewesen als die gewählte chronologische).
Zu den wichtigen Denkern, denen traditionellerweise im Ueberweg je ein eigener Paragraph gewidmet ist, rechnet man entsprechend der getroffenen regionalen Einteilung u. a. Thomas v. Aquin (Frankreich), Roger Bacon (England), Albertus Magnus (Imperium) und Petrus Hispanus (mindestens fünf verschiedene Autoren gleichen Namens, vgl. 1046) (Iberische Halbinsel). Nicht verhandelt werden aus wirkungsgeschichtlichen Gründen Autoren wie Johannes Duns Scotus und Meister Eckhart (vgl. XXII), mit denen sich der Band zum 14. Jh. zu beschäftigen haben wird. Es dürfte auch die Wirkungsgeschichte sein, die Thomas con Aquin den gegenüber anderen Autoren meisten Platz im Band einräumt. Diese beson-dere Hervorhebung wird jedoch komplementiert durch die er­freulich hohe Dichte an traditionell weniger beachteten Autoren, die dieser Grundriss aufweist. Hiervon jedoch ausgenommen sind Frauen, von denen es nur wenigen möglich war, einen Beitrag für die Philosophie des 13. Jh. zu leisten, wie das Vorwort erwähnt, denn mit der editorischen Entscheidung, mystische Literatur nur am Rande zu berücksichtigen (vgl. XXI f.), geht eine völlige Abwesenheit von Denkerinnen dieser Zeit im Band einher. Wenn es auch verständlich ist, sich selbst auf fast 1700 Seiten, die der neue Ueberweg dem 13. Jh. gönnt, auf eine Auswahl zu beschränken, so hätte auch hier die »›rebellische Diversität‹ sichtbar gemacht werden« (8, ein Ausdruck P. Vigneuxs) können, die der Band abbilden will.
Eine besondere Leistung der Herausgeber ist es, der sonsti-gen Zweiteilung eines Grundrisses einen ausführlichen Überblick philosophischer Disziplinen und Themen hinzuzufügen. Teil III besticht vor allem darin, in systematischer Weise den Facettenreichtum des Philosophierens im 13. Jh. abzubilden, und stellt somit eine äußerst nützliche Ergänzung zum doxographischen Teil II dar. Die Disziplinen umfassen nicht nur Logik, Grammatik und Rhetorik, die Naturphilosophie, die mathematischen Wissenschaften, die Metaphysik und die praktische Philosophie, sondern auch die Medizin und Alchemie, die nach heutigem Verständnis (mit Ausnahme vielleicht der Medizinethik) kaum der Philosophie zuzuordnen wären. Dass der Medizin und Alchemie ein Kapitel gewidmet wird, erklärt sich vor dem Hintergrund des diversen zeitgenössischen Philosophiebegriffs (s. o.). Ob aber die Medizin zur Philosophie gehört, war freilich im 13. Jh. schon fragwürdig, wie auch das entsprechende Kapitel 14 deutlich macht. Aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zur Naturphilosophie und Ethik wird sie hier aber zu Recht berücksichtigt. Bedauerlich ist demgegen über die vergleichsweise weniger ausführliche Beachtung der selbstverständlich der Philosophie zuzuschlagenden scientia de anima, deren disziplinäre Verortung knapp im Kapitel zur Naturphilosophie diskutiert wird (1359 f.). Hier tritt die unvermeidliche Spannung offen zutage, in diesem Teil philosophische Themen disziplinär zu ordnen. Die Seelenlehre wird denn nur im Kontext des Spannungsverhältnisses von Naturphilosophie und Theologie (hinsichtlich der Intellekttheorie und Anzahl substantieller Formen, 1370–80) näher behandelt. Weitere Berührungspunkte zwischen Philosophie und Theologie, die in Teil III behandelt werden, betreffen u. a. die Sprachphilosophie, die Ewigkeit der Welt und die Rolle der Metaphysik.
Die Beiträge in einem solchen Werk sind naturgemäß von unterschiedlicher Qualität. Während einige Autoren eher anhand der Quellen die Position eines Denkers referieren (s. z. B. Th. Ko­busch über Heinrich v. Gent [§ 16.3]), gehen andere auch auf Forschungsdebatten ein (s. z. B. D. Perler über Robert Grosseteste [§ 22]). Nahezu alle Beiträge liefern einen ausgewogenen Überblick, ohne die eigene Deutung zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Eine Ausnahme stellt vielleicht der angesprochene Beitrag von L. Bianchi dar, der auffallend oft auf die eigene Publikationsleis-tung verweist.
Streckenweise liest sich der Grundriss wie ein Fußnotentext, was zum Teil in der Natur der Sache liegt. Oft hängt es aber auch damit zusammen, dass auf Fußnoten gänzlich verzichtet wird und Literatur- wie Quellenverweise in den Text eingearbeitet sind. Dies erschwert teilweise erheblich den Lesefluss. Natürlich soll der Grundriss kein leichtfüßiger Text sein. Wie in einer gewissenhaf-ten Fußnote, die dem Leser alle nötigen Belege zum Text bietet, findet man hier das Fundament, auf dem die eigene Forschung aufbauen kann. Zugleich will der Grundriss aber auch mehr sein als eine bloße Auflistung relevanter Autoren und Werke, Doktrinen und Debatten, und liefert Einschätzungen und Einordnungen, Diskussionsstände und Interpretationsangebote. Es wäre eine Überlegung wert, diese unterschiedlichen Darstellungstypen auch typographisch voneinander abzuheben und einige Passagen ähnlich den Werk- und Literaturlisten in kleinerer Schrift zu setzen. Für eine systematisch motivierte Orientierung im Band wünschte man sich zudem einen mit Blick auf Sublemmata ausführlicheren Sachindex.
Ohne Übertreibung muss behauptet werden, dass mit diesem Grundriss die umfassendste Darstellung der Philosophie des 13. Jh. vorliegt, für die man den Herausgebern sowie den Autorinnen und Autoren nicht genug danken kann. Dieses massive Werk, das auch von seiner hohen Qualität der Bindung und des Papiers besticht, erweist hier in der Tat die von P. Wilpert 1961 im Editionsbericht zur Neugestaltung angestrebte »Brauchbarkeit eines Ueberweg als eines Nachschlage- und Orientierungsbuches« nicht nur für eine philosophie-, sondern auch theologiegeschichtlich interessierte Leserschaft.