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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1290–1291

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hasselhorn, Benjamin, u. Mirko Gutjahr

Titel/Untertitel:

Tatsache! Die Wahrheit über Luthers Thesenanschlag.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 152 S. Kart. EUR 10,00. ISBN 978-3-374-05638-5.

Rezensent:

Johannes Schilling

Man sollte sich durch den reißerischen Titel und die farbige Covergestaltung nicht täuschen lassen: Dieses Büchlein hat Substanz, und sein Fazit, der Thesenanschlag habe am 31. Oktober 1517 tatsächlich stattgefunden, dürfte nun nicht mehr leicht zu bestreiten sein. Die beiden Autoren Benjamin Hasselhorn und Mirko Gutjahr, wissenschaftliche Mitarbeiter der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt und daher mit Quellen und Kontexten bestens vertraut, bringen ihren Gegenstand, zugleich ihr Anliegen, flott und mit Verve vor. Das Büchlein hat Tempo, es liest sich gut, die Disposition ist klug und zielt auf ein finale furioso, eine bisher unbeachtete Quelle. Und dabei geht es nicht nur um die Geschichte der Ereignisse um Luthers Thesenanschlag, sondern auch um Fragen nach Luthers Verhältnis und Verhalten zur römischen Papstkirche, sein Verständnis von Buße und die Bedeutung des Ereignisses für ihn selbst.
Ausgehend von den Bezeichnungen und Qualifizierungen des Ereignisses im vergangenen Reformationsjubiläumsjahr 2017 wird die Debatte um den Thesenanschlag seit einem Vortrag des katholischen Kirchenhistorikers Erwin Iserloh 1961 in ihren wissenschaftlichen und ökumenepolitischen Folgen dargestellt. Ist bzw. war 1517 ein Epochenjahr? Die Autoren bieten etliche Belege für diese Ansicht aus den Quellen bis ca. 1550; diese lassen sich vermehren. Es scheint mir lohnend und geboten, solche Äußerungen einmal zusammenzutragen – das Ergebnis wird das Jahr 1517 in den Wahrnehmungen der Zeitgenossen und der folgenden Generation als Epochenjahr bestätigen.
Mit Akribie und strategischem Interesse werden die Argumente contra und pro Thesenanschlag benannt und diskutiert. Die Quellen für den Thesenanschlag erscheinen den Autoren glaubhaft, und es gibt keinen Grund, ihnen darin zu widersprechen. Ein Dokument hatte in den bisherigen Debatten noch gar keine Rolle gespielt – ein Exemplar des Leipziger Plakatdruckes der 95 Thesen mit einem Eintrag von Johannes Lang. Luther hatte es am 11. No­vember 1517 seinem Erfurter Ordensbruder mit einem Brief zugeschickt. Langs handschriftliche Notiz auf dem Plakatdruck Jacob Thanners lautet: »Anno 1517 ultimo Octobris Vigilie [?] (aber Lang konnte Latein und kannte den Ablativus temporis, also: Vigilia) Omnium Sanctorum indulgentie [!] (nicht: idulgentie) primum impugnate« (105) – im Jahr 1517, am letzten Tag des Oktober, am Vortag von Allerheiligen, wurden die Ablässe erstmals angegriffen .– Damit ist der »Anschlag« noch nicht bewiesen, aber auch für diesen liefern die Autoren Argumente, sogar für Hammer und Nägel.
Einige kleine Schönheitsfehler gibt es auch – Sekundärzitate sollte es, auch wenn die Autopsie der Quellen Zeit kostet, auf keinen Fall geben, und dass sich in den entscheidenden Quellentext ein Versehen eingeschlichen hat, ist schade, aber korrigierbar.
Bedenkenswert ist schließlich vor allem, was Hasselhorn und Gutjahr über Entmythologisierung, Historisierung und Aktualisierung zu sagen haben (27–32). Hier zeichnet sich eine Position ab, die für einen weniger distanzierten Umgang mit der Geschichte eintritt als den der um 1930 geborenen Generation akademischer Vorgänger. Zwar war die Nürnberger Lutherausstellung 1983, an­ders als ein Kritiker sie seinerzeit wahrnahm, keineswegs »langweilig«, aber es bedurfte vielleicht einer belebenden Führung, um sie den Besuchern nahezubringen. Denn in der Tat: »Fremdheit« als solche ermöglicht keine Beziehung. Und um eine lebendige Beziehung zur Geschichte, auch und gerade zur Geschichte des Thesenanschlags, ist es den Autoren zu tun. Wie sollte man ihnen darin nicht zustimmen, wollen wir nicht in einen öden Historismus verfallen. Auf falsche Behauptungen aber kann sich eine solche Beziehung nicht stützen – harte historische Arbeit nach allen Regeln der Kunst ist und bleibt die Grundlage für einen seriösen und leben-digen Umgang mit Geschichte. Diese Arbeit haben die Autoren geleistet, und darauf können die Leser nun bauen. Es ist nun an ihnen, an uns, den Geist aus den Buchstaben zu erwecken.