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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1283–1285

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Hornung, Christian

Titel/Untertitel:

Apostasie im antiken Christentum. Studien zum Glaubensabfall in altkirchlicher Theologie, Disziplin und Pastoral (4.–7. Jahrhundert n. Chr.).

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. IX, 437 S. = Vigiliae Christianae. Supplements, 138. Geb. EUR 157,00. ISBN 978-90-04-32375-9.

Rezensent:

Julia Winnebeck

In seiner Habilitationsschrift untersucht Christian Hornung, seit Oktober 2017 Professor für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, das Phänomen der Apostasie, welches das frühe Christentum – so die zentrale These – gleichsam als Gegenbewegung zu seinen missionarischen Erfolgen und seinem rasanten Wachstum von Anfang an intensiv beschäftigte.
Überzeugend kann H. eingangs darlegen, dass Apostasie im frühchristlichen Verständnis sowohl in einem engeren als auch in einem weiteren Sinn verstanden werden konnte. Im engeren Sinn bezeichnete Apostasie den Glaubensabfall, der sich in verschiedenen Formen des Götzendienstes (z. B. heidnisches Kultopfer, Verzehr von Götzenopferfleisch) konkretisierte. Im weiteren Sinn konnten die Kirchenväter aber auch jede Sünde oder sündhafte Handlung als Ausdruck eines inneren Glaubensabfalls verstehen. In ihrem engeren Sinn, d. h. als Glaubensabfall im Götzendienst, beschäftigte die Apostasie die junge Kirche zunächst vor allem im Kontext der Christenverfolgungen, während derer zahlreiche Christen den rö­mischen Göttern opferten und/oder ihrem Glauben abschworen. Diese Glaubensabfälle nötigten die Kirche dazu, die Frage nach dem Umgang mit den Apostaten zu beantworten. Aber auch nach der Erhebung zur Reichsreligion musste sich das Christentum weiter mit dem Phänomen des Glaubensabfalls auseinandersetzen. Dieses begegnete ihr nun außer im Abfall zu konkurrierenden Religionen wie dem Judentum und dem Manichäismus vorwiegend in subtilerer Form: der fortgesetzten Praxis bestimmter heidnischer Bräuche und Lebensformen, die als apostatisch angesehen wurden, im Alltagsleben der Christen aber tief verwurzelt waren.
Nach einer Hinführung, in der er sich neben der Definition auch der Herkunft und Abgrenzung des Begriffs widmet, nähert sich H. dem Phänomen der Apostasie aus drei verschiedenen Perspektiven, die auch die Gliederung der Untersuchung vorgeben. Um die theologische Perspektive (vgl. Kapitel 2: Theologie) auf die Apostasie zu erhellen, analysiert H. exemplarisch Kirchenväterschriften. Hier kommt er zu dem Ergebnis, dass die theologische Auseinandersetzung mit der Apostasie vornehmlich im Kontext der Diabologie und Dämonologie stattgefunden habe, wodurch diese heilsgeschichtlich verortet und in den Heilsplan Gottes integriert wurde.
Die (kirchen-)rechtliche Perspektive (vgl. Kapitel 3: Disziplin) auf das Phänomen erhebt H. aus den Kanones der altkirchlichen Konzilien und Synoden sowie den einschlägigen Gesetzescodices (namentlich Codex Theodosianus und Iustinianus). Dabei weist er einen zunehmend differenzierten Umgang mit den verschiedenen Formen der Apostasie im Rahmen der kirchlichen Disziplin nach, der sich zum Teil auch in den Rechtssatzungen niederschlug. So fanden Überlegungen zu den Motiven für den Abfall, zu den äußeren Umständen und zur Schwere des Abfalls Eingang in die Buß- und Rechtsbestimmungen.
Die praktische oder praxeologische Perspektive (vgl. Kapitel 4: Pastoral) auf die Apostasie gewinnt H. schließlich aus der exemplarischen Analyse der Predigtcorpora von Johannes Chrysostomus und Caesarius von Arles. Hier zeigt H., wie die Kirchenväter in der Paränese vorsichtig abwägen mussten, welche heidnischen Praktiken christlich neu interpretiert werden konnten und welche wegen der Gefahr der Verführung zur Apostasie ausdrücklich abzulehnen waren.
Insgesamt schildert H. in seiner Studie den Umgang des antiken Christentums mit dem Phänomen der Apostasie als einen komplexen Entwicklungs- und Verhandlungsprozess. In diesem Prozess sah sich die junge Kirche nicht nur mit vielfältigen Formen von Apostasie konfrontiert, sondern musste darüber hinaus stets prüfen, auf welcher Ebene und in welchem Maße sie eine strenge Strategie der Abgrenzung und Sanktionierung verfolgen wollte und auf welcher Ebene sie stattdessen lieber auf alternative Strategien wie Depaganisierung oder Christianisierung setzen konnte. Vor dem Hintergrund der theologischen Beurteilung der Apostasie als der Hauptsünde schlechthin lässt sich auf der Ebene der Disziplin, trotz der genannten Differenzierungen, sowohl innerhalb des Bußwesens als auch innerhalb der Rechtssatzungen in Bezug auf das Strafmaß überwiegend eine strenge Sanktionierung der Apostasie feststellen. Demgegenüber führt H.s Analyse der pastoralen Ebene zu dem Ergebnis, dass in der Paränese vor allem die Strategien der Depaganisierung und Christianisierung von apostatisch angese-henen Praktiken und Riten verfolgt wurden, während die auf der Ebene der Disziplin angedrohten Sanktionen kaum in den Blick kamen.
Die von H. beobachtete »bemerkenswerte Diastase zwischen kirchlicher Disziplin und Pastoral« (362) wirft – wie er selbst ausdrücklich betont – die grundlegende Frage nach der praktischen Umsetzung normativer Bestimmungen im »Gemeindealltag« der frühen Christen auf, deren Untersuchung als Desiderat moder-ner Kirchengeschichtsschreibung gilt. Dabei gelingt H. mit seiner exemplarischen Analyse der Predigtcorpora von Chrysostomos und Caesarius ein aufschlussreicher Einblick in die frühkirchliche Praxis. Wie bei allen exemplarischen Einblicken bleibt jedoch zu fragen, inwiefern die in den Predigten des Chrysostomos und des Caesarius gemachten Beobachtungen tatsächlich als repräsentativ für die gesamte Kirche in einem »umfangreichen Zeitraum« (304) gelten können.
Einen weiteren, damit zusammenhängenden, Anknüpfungspunkt für zukünftige Untersuchungen bietet die Frage nach der Verbindung der drei Bereiche, in die H. seine Studie gliedert: So wäre neben der Annahme, dass die theologische Beurteilung der Apostasie Einfluss auf den Umgang mit derselben auf der Ebene der Disziplin gehabt hat, zu prüfen, ob nicht auch umgekehrt die Nötigung zum Umgang mit Apostaten auf der Ebene der Disziplin (z. B. im Kontext der Christenverfolgungen) Einfluss auf die theologische Argumentation hatte (vgl. z. B. Cyprian). Im Bereich der Disziplin (konkret in den Kanones) finden sich darüber hinaus zahlreiche Hinweise auf den »Handlungsspielraum« der Bischöfe, der den Befund einer Diastase zwischen normativen Bestimmungen und paränetischer Praxis erklären könnte.
Methodisch wählt H. für die einzelnen Kapitel einen »analy-tischen« Ansatz: Die einschlägigen Quellen werden einzeln in chronologischer Abfolge vorgestellt, untersucht und analysiert. Die be­sprochenen Quellentexte finden sich in Originalsprache mit eigener Übersetzung als Perikopen deutlich abgesetzt vom um-gebenden Fließtext. In den Zusammenfassungen an den Kapitel-enden bietet H. stets eine kurze »Synthese« auf der Basis der ge-machten Beobachtungen. Durch diesen Aufbau eignet sich die Untersuchung ausgesprochen gut für die eigene Forschung und insbesondere auch zur Nutzung in Lehrveranstaltungen. Die analytische Vorgehensweise hat allerdings den Nachteil, dass z. B. die Lektüre von Inhaltsangaben soeben gelesener Quellentexte zuweilen etwas repetitiv wirkt. Insbesondere der Theologie-Teil (Kapitel 2) hätte m. E. von einer eher synthetischen Betrachtung profitiert.
Im Anhang bietet H. ein umfangreiches und gut sortiertes Literaturverzeichnis sowie ein Register, das ausgewählte Stellen und Stichwörter aufführt.