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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1279–1281

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Dettinger, Dorothee

Titel/Untertitel:

Neues Leben in der alten Welt. Der Beitrag frühchristlicher Schriften des späten ersten Jahrhunderts zum Diskurs über familiäre Strukturen in der griechisch-römischen Welt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 448 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 59. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-374-05221-9.

Rezensent:

Christine Gerber

Wie Familie in der Antike gelebt und entworfen wurde, ist in den letzten Jahrzehnten viel untersucht worden, sozial- und kulturgeschichtlich und in theologischer Perspektive. Bibelstudien können wegen der Wirkungsgeschichte der Texte und der aktuellen Debatten über »Lebensformen« sogar auf ein aktuelles Interesse setzen. Mittlerweile gibt es viele Detailuntersuchungen zur Antike, die literarische, epigraphische und archäologische Quellen auswerten und ein differenziertes Bild zu Familienidealen und Realitäten zeichnen: Es gab nicht das eine Familienkonzept, sondern Diskurse mit unterschiedlichen Perspektiven und Idealen. Und das reale Familienleben war abhängig von der Kultur, Religion wie besonders von der jeweiligen sozialen und ökonomischen Situation.
Die vorzustellende Arbeit von Dorothee Dettinger, eine Tübinger Dissertation, reiht sich in diese Forschungen ein, bündelt aber Themen und Texte, die in letzten Jahren je für sich studiert wurden. Sie behandelt sowohl die Relation von Eheleuten als auch (wesentlich kürzer) die von Eltern und Kindern und untersucht dafür die Haustafeln des Kol und Eph sowie die haustafelähnlichen Traditionen in den Pastoralbriefen, 1Petr und den sogenannten »Apostolischen Vätern«. Ihr Ziel ist, den spezifisch »christlichen Beitrag« dieser Schriften zum allgemeinen Diskurs aufzuhellen. Da die Texte erkennbar an Unterordnungsvorstellungen der Umwelt anschließen, sollen die christlichen »Begründungsstrukturen« (24) im Vergleich mit der paganen philosophischen Tradition und ge­sellschaftlichen Situation, der »alten Welt«, Aufschluss geben darüber, inwiefern in dieser »neues Leben« (ebd.) entworfen wird.
Die nach Textkorpora klar gegliederte und gut lesbar geschriebene Untersuchung skizziert zunächst den Horizont, vor dem die neutestamentlichen Texte interpretiert werden: den philosophischen Diskurs der Oikonomik-Literatur sowie Gedanken zu Ehe und Liebe z. B. bei Platon, stoischen Philosophen und Plutarch. Sozialgeschichtliche und juristische Beobachtungen zu Oikos und Ehe schließen sich an; hier geht die Arbeit auch kurz auf frühjüdische Konzepte ein. Der Durchgang zeigt die grundsätzliche Unterordnung der Frauen und bildet die Basis für die Interpretation der o. g. neutestamentlichen Texte zu Frauen und Männern. Sowohl für die eigentlichen »Haustafeln« im Kol und Eph, deren Gattung hier unterschiedlichen Einflüssen zugeschrieben wird, als auch für die späteren haustafelähnlichen Texte ergibt sich, dass die Rollenvorstellungen den Konventionen der Umwelt entsprechen, die Begründungen jedoch spezifisch christliche Motive heranziehen. In den Schriften der Apostolischen Väter treten diese Begründungen dann allerdings zurück. Knapp wird abschließend in analogem Aufbau die christliche Eltern-Kind-Re­lation evaluiert.
Die Arbeit vermittelt ein eindrückliches Panorama von Diskursen der Primär- und Sekundärliteratur und entwickelt differenziert begründete Einzelauslegungen, die hier nicht referiert werden können. Im Ergebnis entsteht ein moderates Bild des frühen Christentums: Die Entsprechung zu hierarchischen Familienkonzepten der »alten Welt« wird benannt, aber als Verortung in bestehenden gesellschaftlichen Strukturen erklärt, die – insbesondere in 1Petr und den Pastoralbriefen – auch apologetisch motiviert sei. Die unter Einbeziehung der brieflichen Kontexte jeweils erhobenen theologischen Begründungen würden die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen spezifisch christlich interpretieren und die Normen so prägen. Vor allem die Haustafeln würden die Familie christlich entwerfen. Das zeige die in der griechisch-römischen Oikonomik-Literatur fehlende Reziprozität, die Frauen und Kinder als ethische Subjekte würdige. Auch mahne Eph 5,21 zu wechselseitiger Unterordnung. Die Liebe, die Kol und Eph von den Männern fordere, sei ein christliches Signum, werde sie doch im Kontext als Folge des Heilsindikativs von allen, auch den Frauen, verlangt (vgl. z. B. Kol 1,4.8; 3,14; Eph 1,4; 5,2; s. 166 f.172). So werde die Herrschaftsstellung der Ehemänner relativiert.
Heutige Anfragen an das patriarchale Modell seien anachronis-tisch: »Abgesehen von der Frage, ob die urchristlichen Autoren die Notwendigkeit zu einer Umwälzung gesehen haben oder nicht, muss beachtet werden, dass die Christen sich zunächst einmal in einer bereits bestehenden Gesellschaft vorfanden […] Neue Gesellschaftsformen zu denken, wäre einer geradezu visionären Idee gleichgekommen.« (385)
Man könnte die Texte freilich auch bewerten als Versuch, mittels theologischer Begründungen Machtinteressen durchzusetzen und in den Gemeinden egalitäre Bewegungen, asketische Konzepte, lehrende Frauen auszuschalten, wie es seit E. Schüssler Fiorenzas Arbeit »Zu ihrem Gedächtnis« (München 1988) diskutiert wird. Dass die Aussagen nicht deskriptiv sind, sondern präskriptiv, also aus ihnen z. B. zu schließen ist, dass Frauen nicht schwiegen – eine zentrale Figur der Hermeneutik des Verdachts –, wird zugestanden (388), aber nicht in die Erschließung der Texte einbezogen. Dies weist auf das Manko hin, dass die Vfn. die Prämissen ihrer Studie nicht erklärt. Doch dass es keine neutrale Herangehensweise gibt, lässt sich an der Studie selbst zeigen. Ihr Aufbau und ihre Argumentation ruhen auf der vorgängigen Entscheidung, die christlichen Texte vom Ende des 1. Jh.s im Kontext der paganen Konzepte einer griechischen und römischen Elite zu interpretieren statt innerhalb frühchristlicher Diskurse. Das Bild ändert sich jedoch erheblich, sobald man die Texte als Voten in innerchristlichen Debatten über die bleibende Bedeutung von Ehe und Elternehre liest. Deren Spuren, etwa die familienkritische Haltung der Jesusbewegung, werden in der Studie übergangen. Misslich ist das insbesondere in Bezug auf die eheasketische Tradition, die Paulus selbst in 1Kor 7 teilt (ein nur in vier nicht konsistenten Fußnoten erwähnter Text). Die Virulenz dieser politisch widerständigen Paulus-Tradition geht nicht nur aus den in der Arbeit ignorierten apokryphen Apostelakten, namentlich den Thekla-Akten, hervor, die Ehefreiheit propagieren (s. auch IgnPolyk 5,2), sondern ebenso via negativa aus den Pastoralbriefen, die die Ehe als Normalfall fordern (vgl. z. B. 1Tim 3,2.12; 5,14).
Auch methodisch ist die Arbeit unterbestimmt, denn der Fokus auf den Begründungen hätte Argumentationsanalysen verlangt, die auch die impliziten Begründungen und Prämissen ausloten. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht: Eine Argumentationsanalyse von Eph 5,21–33 zeigt, dass der Text die Forderung der Unterordnung an die Ehefrauen für weniger strittig hält als die Forderung an die Männer, ihre Frauen zu lieben. Denn diese wird dreifach wiederholt (5,25.28.33) und mehrfach begründet, etwa mit dem bemerkenswerten Argument, dass Männer, die ihre Frauen, ihren Leib, lieben, sich selbst etwas Gutes tun (5,28 f.). Wozu das? Sollte die aufwändige Argumentation einem zölibatären Ideal, wie es in 1Kor 7,1–9.32–34 erkennbar wird, wehren?
Und im Blick auf 1Tim 2,8–15 wären die impliziten Prämissen der schöpfungstheologischen Argumentation zu diskutieren. Denn die Begründung der Forderung, dass die Frauen sich in Stille unterordnen, weil Eva als Zweite erschaffen und zudem verführt wurde, funktioniert nur dank des Axioms, dass man von der Ur-Frau Eva auf den Charakter aller Frauen, auch der christlichen, schließen kann. Selbst wenn derartige Geschlechterstereotypien bis heute nicht nur der Comedy Stoff bieten, steht doch seit Gal 3,28 die Gegenthese, dass Taufe und Glaube den Menschen vor Gott bestimmen, nicht das Geschlecht.
So liegt der Gewinn der Studie in ihrem informativen Überblick über Konzepte und Texte sowie in etlichen bedenkenswerten Auslegungen. Die angemessene Kontextualisierung, das Gesamtbild und die hermeneutischen Prämissen müssen aber weiter diskutiert werden.