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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1276–1279

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

[Schnelle, Udo]

Titel/Untertitel:

Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament. Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle. Hrsg. v. M. Labahn.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 469 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 271. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-54069-5.

Rezensent:

Ingo Broer

Absicht dieser Festschrift für den Hallenser Neutestamentler ist es, wie der Herausgeber in seinem Vorwort darlegt, »in einen kritischen Dialog mit dem Autor eines theologischen Bestsellers einzutreten«. Dabei behandeln die Autoren nicht nur die sog. Einleitungsprobleme der neutestamentlichen Schriften, sondern widmen sich in Übereinstimmung mit der Schnelleschen Einleitung als Dialogpartner durchaus auch theologischen Fragestellungen, so z. B. T. Söding, der die Christologie des Mk-Evangeliums behandelt, und J. Herzer, der in Gal 3,28 den häufig vertretenen und auf dem Mehrheitstext basierenden Einheitsgedanken in Frage stellt und das Problem textkritisch löst: Es geht in Gal 3,28 nicht um die Einheit der Gemeinde, sondern um die Gleichheit ihres Status als Christuszugehörige.
Das Eingangstor zu dem Werk, das 20 Beiträge zu Methoden und Aufgaben der Einleitungswissenschaft sowie zu den neutestamentlichen Schriftengruppen und der Ethik enthält, bildet freilich der Beitrag von C. Breytenbach, in dem dieser nach einem Überblick über die »großen« Einleitungswerke des 19. und 20. Jh.s seinen Finger auf die »Wunde« legt, die (fast) jeden Verfasser einer Einleitung bewegt: Wie gehen die historische Betrachtung der Schriften des Neuen Testaments und die gleichzeitige Bindung an den Kanon zusammen? Dabei befriedigt die auf den ersten Blick kraftvoll er­scheinende Antwort des zu ehrenden Jubilars Breytenbach offensichtlich nicht, wenn dieser den historischen und theologischen Charakter der Einleitungswissenschaft auf das Zeugnis der zu untersuchenden Schriften selbst zurückführt (vgl. dazu auch 333 f. den Hinweis Horns, dass der Kanon ungleich mehr impliziert als der theologische Anspruch der einzelnen neutestamentlichen Schriften, und analog die ebenso mutige Schnellesche Kennzeichnung des pseudepigraphischen Charakters der entsprechenden neutestamentlichen Schriften als theologisch legitimen und ekklesiologisch notwendigen Versuch zur Bewahrung der apostolischen Tradition in einer sich verändernden Situation). B. plädiert für eine konsequentere Orientierung am Kanon, d. h. eine Darstellung der einzelnen Schriften im Verlauf des Sammlungs- und Kanonisierungsprozesses oder alternativ für eine urchristliche Literaturgeschichte.
M. Frenschkowski wendet sich in seinem Beitrag »Zur Formierung des neutestamentlichen Kanons« gegen die übliche Engführung der Kanondiskussion auf die christliche Literatur und betont die Notwendigkeit der Berücksichtigung des gesamten spätantiken Schrifttums, in dem sich eine Vielfalt von ähnlichen Sammlungsprozessen finden lässt. Das verdeutlicht er an verschiedenen literarischen Genera unterschiedlicher Räume (z. B. Mesopotamien), wobei er den Unterschied zwischen Corpus und Kanon sowie religiösen und anderen, z. B. juristischen, philosophischen und medizinischen Texten durchaus im Blick behält. Darüber hinaus betont er die Bedeutung der Zahlensymbolik für die Kanonbildung, die sich aus den verwendeten Zahlen ergibt und unterschiedliche Gestalt aufweist. So hat u. a die Symbolik der Zahl 4 Anteil daran gehabt, dass das kleine und sonst wenig beachtete Mk-Evangelium sich im Kanon der Evangelien halten konnte und auch bei der Sammlung der Paulus- und der Katholischen Briefe hat die Symbolik der Zahl 7 mitgewirkt.
Der schwierigen Frage der ursprünglichen Einheit des 2Kor geht M. Vogel in seinem Beitrag nach. Vor allem mit Hilfe der aus den erhaltenen Papyrusbriefen zu gewinnenden Erkenntnisse über Brüche in der antiken Literatur plädiert er für die Einheitlichkeit des 2Kor, also für den ursprünglichen Zusammenhang von 2Kor 1–9 und 10–13. Die dort vorliegende Abfolge von Versöhnung und Streit ist eine in der antiken Briefrhetorik durchaus vorhandene Möglichkeit. 10,6 ist »als programmatische Formulierung dieser Abfolge« zu lesen, das »Strafen jedes Ungehorsams« setzt den erfüllten Gehorsam der Adressaten bereits voraus! Nur unter der Voraussetzung der schon wiederhergestellten Beziehung zwischen Paulus und den Korinthern kann Paulus »die im Raum stehenden Dissens- und Konfliktpunkte klar und offen ansprechen«. Auch für die Paulusbriefe gilt: Die »Logik des brieflichen Beziehungsmanagements entspricht nicht heutigen Vorstellungen, muss aber deswegen nicht als ›unhistorisch‹ eingestuft und literarkritisch zu­rechtgerückt werden.« Das gilt cum grano salis auch für den am meisten als sperrig empfundenen Abschnitt 6,14–7,1.
In dem den Synoptikern und der Apostelgeschichte gewidmeten Teil behandelt K. Backhaus das Verhältnis von Markion zur Apos-telgeschichte. In Aufnahme neuerer Forschungen diskutiert B. ausführlich Für und Wider der alten These, Markion bzw. die markionitische Schule habe die Apostelgeschichte verworfen, und entscheidet sich dafür, dass die Apostelgeschichte Markion »entweder unbekannt oder irrelevant« war. Für diese Lösung maßgebend ist unter anderem die Tatsache, dass die Behauptung der Ablehnung der Apostelgeschichte durch Markion erst aus dem 3. und 4. Jh. stammt. Außerdem gibt es starke Hinweise dafür, dass Markion die Apostelgeschichte überhaupt nicht gekannt hat und diese im 2. Jh. auch noch keinen Verbindlichkeitsstatus hatte wie dann im 3. und 4. Jh. Die These, dass vor allem die (möglicherweise erst durch eine spätere Redaktion) in Zusammenhang mit dem Lukasevangelium gebrachte Apostelgeschichte bereits auf Markion zurückblickt und dessen Werk ablehnt, wird von B. scharf kritisiert: »Wie soll man sich eine antimarkionitische Tendenzschrift erklären, die auch in ihren redaktionellen Teilen keine Spur von Auseinandersetzung mit Markions dualistischem Gottes-, Christus- oder Weltbild, seiner Ablehnung der biblischen Schriften Israels oder seinem aszetischen Ethos verrät?« (224 f.) Ist so die Apostelgeschichte nicht gegen Markion gerichtet, so eignet sie sich doch im ausgehenden 2. Jh. als »die Lösung für das Problem, das Markion darstellt« (225). Markion und andere in Opposition zur sich herausbildenden Kirche stehende Gruppen werden mit Hilfe der Apostelgeschichte ins Unrecht gesetzt. Darin muss man nach B. nicht notwendig eine Verfälschung der lukanischen Absicht sehen, sondern kann darin deren theologische Fortschreibung erkennen.
Im Abschnitt über die Deuteropaulinen beschäftigt sich S. Schreiber mit den falschen Verfasserangaben im neutestamentlichen Briefkorpus und richtet den Fokus auf die grundlegende Frage, »welche Einsichten aus der antiken Literatur für ein vertieftes Verständnis fiktiver Paulusbriefe zu gewinnen sind«. Mit den pseudepigraphischen Briefen stellen sich die christlichen Autoren in einen in der Antike weiter verbreiteten Traditionsstrang und greifen dabei inhaltlich und formal auf die damals bekannten pseudepigraphischen Briefe zurück, [ihr Rückgriff beschränkt sich keineswegs auf die bekannten Motive der Erinnerung an das Leben des (Pseudo-) Autors oder auf sonstige, persönliche Notizen.] Die Ak­zeptanz pseud-epigraphischer Briefe beruht wesentlich auf der Übereinstimmung des Inhalts mit der Überlieferung der Rezipientengruppe bzw. auf der Anschlussfähigkeit an diese. Die Deklaration von Dokumenten als unecht hatte dementsprechend vor allem inhaltliche Gründe, dient doch die Brieffiktion der »Auseinandersetzung mit einer Person und Lehre der Vergangenheit in ihrer Bedeutung für die Gegenwart« (247). Nicht zur Gruppe des Verfassers (und damit zu anderer Tradition) Gehörige waren sowohl dem Inhalt als auch dem Verfasser gegenüber eher kritisch eingestellt. Das ist umso leichter möglich, als pseudepigraphische Autoren sowohl Elemente aus der Tradition (z. B. des Schulhauptes) übernahmen als auch eigene Akzentuierungen vornahmen (vgl. nur die Ämterstruktur der Past) und sich damit der Kritik aussetzten. Pseudepigraphische Briefe dienen so als Mittel der Auseinandersetzung rivalisierender Schulen im Kampf um die richtige Interpretation der Tradition/des Gründers für die Gegenwart mit Hilfe der (geliehenen) Autorität des Letzteren. Diese Auseinandersetzung dient zugleich der Identitätsbildung bzw. -verstärkung der eigenen Gruppe.
F. W. Horn richtet in seinem Beitrag den Blick auf den 1. Petrusbrief unter der in den »Bestsellern« häufig vernachlässigten Perspektive der allgemeinen Einleitung, also von Kanon- und Textgeschichte. – Die Stellung und Reihenfolge der Katholischen Briefe im Kanon hat im Laufe der Zeit mehrfach gewechselt, im 4. und 5. Jh. standen sie in der Mehrheit der Handschriften zusammen mit der Apostelgeschichte hinter den Evangelien und vor den echten Paulusbriefen, was die theologische Geltung dieser Siebenergruppe betont. Die Katholischen Briefe wurden damals offensichtlich als »maßgebliche Stimmen der ›Urapostel‹« wahrgenommen. Ist für den Jakobusbrief die Kritik an Paulus wahrscheinlich, so gilt dies nicht für den 1. Petrusbrief, der als eigenständiges Zeugnis zu beurteilen und bei dem ein Zusammenhang mit der paulinischen Tradition kaum gegeben ist. Das Ziel dieses Briefes ist die Stabilisierung einer möglichst großen Adressatenschaft in den kleinasiatischen Landschaften.
Beim Corpus Johanneum richtet M. Karrer den Blick auf das Verhältnis von johanneischen Schriften und Apokalypse. Seit Irenäus werden zwar die Schriften des Corpus Johanneum immer mehr demselben Johannes zugeschrieben, zur Ausbildung eines eigenen Corpus Johanneum kommt es aber weder in den alten noch in den jüngeren Handschriften. Das Evangelium wird in der Evangeliengruppe, die Briefe unter den katholischen Briefen und die Apokalypse als selbstständiges Werk sehr oft am Ende der jeweiligen Handschriften (und dann auch der Drucke) überliefert. Die Bedeutung der Apokalypse darf nicht unterschätzt werden, sie verstärkte nicht nur die älteren Traditionen der Lokalisierung des Evangeliums nach Kleinasien und der Autorschaft des Johannes für das Evangelium und die Briefe, sondern wird wohl auch als erstes neutestamentliches Zeugnis als Schrift bezeichnet.
Es handelt sich bei dieser Festschrift zweifellos um ein interessantes und anregendes Werk! Die besprochenen Beiträge mögen zur Lektüre auch der übrigen Artikel anregen.