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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1269–1272

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Carlston, Charles E., and Craig A. Evans

Titel/Untertitel:

From Synagogue to Ecclesia. Matthew’s Community at the Crossroads.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XIII, 618 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 334. Lw. EUR 179,00. ISBN 978-3-16-151804-1.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

Charles E. Carlston und Craig A. Evans legen mit ihrer Studie nichts weniger als eine monumentale Theologie des Matthäusevangeliums (MtEv) vor. Auf fast 500 Seiten untersuchen sie fünf zentrale Motivkomplexe und stellen sie in einen theologischen Zusammenhang: 1. Christologie (3–93), 2. Gesetz (97–241), 3. Kirche (245–329), 4. Schrift und Tradition (333–389), 5. Geschichte, Eschatologie und Apokalyptik (393–483). Der Einsatz bei der Christologie ist gut begründet, denn schließlich sei das Buch »an interpretative story of Jesus« (3), wie man allein schon an seinem ersten und letzten Vers erkennen könne: »… it is no accident that Matthew begins with the genealogy of Jesus and ends with the promise of the Risen Lord’s continuing presence. Everything between is commentary« (482). Damit wird zugleich eine der Stärken und eine der Schwächen der Studie sichtbar.
Einerseits gelingt es den Autoren, gleichsam eine systematische Theologie des MtEv vorzulegen, weil sie alle Details an die Christologie zurückbinden und an ihr messen. Andererseits verlieren auf diesem Weg mögliche Spitzenaussagen des Evangeliums an Profil. Das zeigt sich beispielsweise im Kapitel über das Gesetz. Die Autoren sprechen dort von einer »Old Economy« im Blick auf das Gesetz und die Propheten (99). Damit geben sie ihrer Analyse von vornherein ein aus der christlichen Tradition bekanntes Gefälle: Nach Jesus können Gesetz und Propheten nur zur »Old Economy« gehören. Dass Matthäus das Gegenteil behauptet, sehen die Autoren klar (vgl. die Besprechung von Mt 11,13 im Vergleich zu Lk 16,16 [100]). Befunde, die an sich unverdächtig sind, erscheinen im Licht der Gegenüberstellung von »Old Economy« und »New Economy« je­doch als problematisch: Matthäus spricht häufig vom Willen Gottes. Bei der Lektüre der Belege nötigt nichts zu der Annahme, als sei dieser von der Tora unterschieden. Genau dies vermuten Carlston und Evans bei aller Vorsicht, weil Matthäus nirgends den Willen Gottes und die Tora nebeneinander nenne (102). Vielleicht tut er das aber deshalb nicht, weil beide Begriffe wie in anderen jüdischen Gruppen auch genau das Gleiche meinen und es überflüssig wäre, beide nebeneinander zu nennen? Matthäus bekenne sich zwar zur »continuing validity of the Law« (102), doch sei im Judentum das Gesetz zugleich noch mehr, denn es regele das alltägliche Leben in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Kultes (102). Was aber, wenn der Kult nicht mehr existiert, wie es nach 70 der Fall war, und Antworten, wie man damit umgehen soll, noch nicht abschließend gefunden waren?
Die Autoren nehmen eine doppelte Tendenz im Evangelium wahr. Einerseits fordere Matthäus zur Befolgung des Gesetzes auf, andererseits gebe es Texte, »that […] do away with either the tradi-tional interpretation of the law or specific provisions of it« (97). Diese Prämisse lässt sich in Frage stellen, denn erstens ist zwischen den Geboten der Tora und ihrer Interpretationen, die von Gruppe zu Gruppe variieren können, zu unterscheiden und zweitens zeigt sich bei genauerem Lesen der von Carlston und Evans angeführten Texte, dass es keinesfalls ausgemacht ist, dass sie die Geltung der Gebote beschneiden. Nach den genannten Beobachtungen und ihren Auslegungen überrascht es nicht, dass ein Text wie Mt 5,17 ff. nicht einfach sagen kann, was seinem Wortlaut entspricht. Diese Verse seien nämlich im Licht des gesamten Evangeliums zu interpretieren (103).
V. 17 besage demnach, dass Jesus den Willen Gottes, wie er in »the Old Dispensation« zum Ausdruck komme, erfülle – in seinem Leben und in seiner Lehre (hierauf liege im unmittelbaren Kontext der Akzent, während im Blick auf das Gesamtevangelium Leben und Lehre nicht voneinander geschieden werden dürften [124]) – und zwar in einer Weise, »that neither Jewish teachers nor christian ›antinomians‹ do« (106). Sagt Mt 5,17 all dies wirklich? Weiterhin behaupten die Autoren: »For Matthew, the Christological emphasis defines the nomistic, not the other way around« (107). Und darum dürfe Mt 5,17 ff. nicht zur Schlüsselaussage über jede Aussage zum Gesetz im Matthäusevangelium gemacht werden (107). Von ihrer Stellung im Kontext sind diese Verse aber genau dies. Hier äußert sich der matthäische Jesus zum ersten Mal und grundsätzlich zum Gesetz und zu den Propheten. In den folgenden Versen führt er dann exemplarisch aus, was das konkret bedeutet – und natürlich werfen diese Verse ihr Licht auf alles, was Matthäus ansonsten zum Gesetz zu sagen hat. Nach Carlston und Evans sei dies nicht so. Diese Verse seien von der Herkunft ihrer Traditionen her disparat und dürften deshalb nicht univocally verstanden werden (129). Hier zeigt sich, dass die hohe Gewichtung der Christologie sich im Detail als Korsett erweisen kann, das den einzelnen Texten eine Form aufzwingt, die ihnen nicht unbedingt entspricht. Natürlich lässt sich diese Tendenz auch bei der folgenden Besprechung der einschlägigen Passagen im Evangelium beobachten, doch bestechen diese durch ihre Gründlichkeit und Ausgewogenheit, die im Rahmen dieser Rezension nicht angemessen gewürdigt werden können.
Das Kapitel über die Kirche beginnt mit einer umfassenden Diskussion der Frage, wie Matthäus und seine Gemeinde sich zum ihm zeitgenössischen Judentum verhalten (246–263). Die Autoren schließen sich nicht der Meinung derer an, die einen klaren Bruch zwischen Kirche und Synagoge für das MtEv voraussetzen. Dagegen spricht für sie u. a. die konsequente Unterscheidung zwischen dem Volk und seinen Eliten, gegen die sich die Polemik richte (262 f.), das Bekenntnis zur bleibenden Geltung des Gesetzes und ein grundsätzlich positives Verhältnis zum Tempel (263). Matthäus vertrete »a kind of moderate Judaism«, in das hinein er auch die nichtjüdischen Jesusanhänger integrieren möchte (263). Kirche sei im MtEv vor allem missionarische Kirche (264 ff. – »the ›mission‹ of the church and its ›nature‹ are mutually definitive« [292] ), die in Mt 28 zu Juden und Nichtjuden gesandt wird (285). »Many elements […] go into making up Matthew’s understanding of the church: salvation-history, vari-ous kinds of church leaders (scribes, prophets and desciples, includ-ing Peter), and a world wide mission […] And each of these relates in some way to the person of Jesus. In the final analysis, Matthew’s ecclesiology is Christologically determined« (329).
Im folgenden Teil wenden sich die Autoren dem Themenbereich Schrift und Tradition zu. Dabei setzen sie mit den sogenannten Erfüllungszitaten ein. Was ihre Textform anbelangt, schlagen sie vor, sich von dem traditionellen Bild des »copy editors« abzuwenden. Sie weisen darauf hin, wie unwahrscheinlich es sei, dass dem Evangelisten alle kanonischen Schriftrollen zur Verfügung gestanden hätten. Die Texte wurden ihm vermutlich mündlich überliefert (339). Das erkläre die Abweichungen von den uns bekannten Textfassungen. Die Zitate stellen Erzähltraditionen über Jesus in ein biblisches Licht, zuweilen sind sie aber auch das Material, aus dem solche Traditionen erst geschaffen werden (337). Nach der Besprechung der nicht ausdrücklich gekennzeichneten Zitate und Anspielungen, die das Evangelium durchziehen, kommen Carlston und Evans zu dem Schluss, dass Matthäus seiner jüdischen und nichtjüdischen Leserschaft zeigen wollte, dass Jesu Leben und Ta­ten in den »historical/conceptual« Rahmen des alten Gottesvolkes gehören und dort hineinpassen. »In Jesus the sacred tradition is continued and has come to its fulfillment« (359).
Auch hier lohnt es sich, auf die Details – zum Beispiel die besonders instruktive Besprechung der ersten 17 Verse des Evangeliums – zu achten. Im Anschluss an Davies und Allison vermuten die Verfasser, die ersten Worte des Buches wollten einen Bezug zum Buch Genesis schaffen: »Matthew almost certainly intended to set up the story of Jesus as a counterpart to the story of Genesis« (349). Wahrscheinlicher scheint es dem Rezensenten, dass Matthäus ein Buch schreiben wollte, dessen biblische Sprachfärbung gleich zu Beginn klarstellt, dass sein Buch in den noch nicht abgeschlossenen Kanon der heiligen Schriften Israels hineingehört, weil die Jesusgeschichte die Geschichte Gottes mit seinem Volk weitererzählt. Bedenkenswert ist die Deutung der Frauen im Stammbaum. Nicht um die Frauen gehe es, sondern um ihre Nachkommen: »Jesus is not the first in the Messianic line to come into the scene in an irregular and unconventional manner« (353). Carlston und Evans zeigen, dass Matthäus mit den ihm überkommenen Jesustraditionen (Mk und Q) weitgehend konservativ umgegangen sei und daraus eine kohärente Erzählung gestaltet habe (388). Es gehe ihm darum zu zeigen, dass die lange Geschichte göttlichen Gnadenhandelns an seinem Volk in Jesus »its legitimate culmination« finde (389).
Das letzte Kapitel klärt zunächst das Verhältnis des Matthäusevangeliums zum Judentum und zur »säkularen« Welt und bespricht danach die Struktur des Evangeliums. Dabei sind die Autoren konsequent im Gespräch mit der (älteren) Forschung. Dadurch sehen sie bisweilen Dichotomien, die sich der christlichen Tradition verdanken, den biblischen Texten insgesamt aber nicht ganz angemessen sind: »In traditional theological terms, the structure of the work shows that while grace and ethics are inseparable, grace is primary« (411). Gibt es ein biblisches Buch, in dem dies anders ist? Zusammenfassend stellen sie fest, dass Matthäus ein Buch geschrieben habe, das an Jesu Eschatologie des »schon« und »noch nicht« festhalte und zwei Generationen nach Jesu Tod das Kommen des Gerichts als Motivation zur Jüngerschaft betone (427).
Die Studie repräsentiert den state of the art der Matthäusexegese. Sie widersetzt sich dem Wunsch nach einem schnellen Überblick (nicht zu jedem Kapitel finden sich Zusammenfassungen) und nötigt zur Auseinandersetzung mit dem Detail. Die allerdings ist in jedem Fall lohnend. Dass die Autoren dabei nicht selten in traditionelle Fahrwasser der Auslegung geraten, mag an ihrer Grundentscheidung liegen, bei der Christologie einzusetzen. Zum Teil mag es auch daran liegen, dass traditionelle Denkfiguren (»Old Economy«, »salvation-history«) an das Buch herangetragen werden. »Matthew is not, to be sure, a systematic theologian in the modern sense. But all the motifs discussed in this work are intimately associated, not simply side by side, in Matthew’s mind« (93), schreiben beide im Blick auf die matthäische Christologie. Gelegentlich stellt sich dabei die Frage, wo die Grenzen solcher systematischer Interpretationen und der damit verbundenen Fragerichtungen liegen. Folgt aus der Tatsache, dass in der Darstellung des Matthäus die Vorstellung, dass Jesus Gottes Sohn ist, eine besondere Rolle spielt, notwendigerweise, dass »›the first-born son‹ of Exodus 22–23 is no longer Israel as such, but Jesus« (58)? Wird mit dem Immanuel-Prädikat ein Hauptthema des Alten Testaments, »God’s presence with the chosen people« (89) christologisch interpretiert? Traditionellerweise werden diese Texte so gelesen. Aber ist es in beiden Fällen nicht wahrscheinlicher, dass bekannte Theologumena auf Jesus angewandt werden, um zu beschreiben, wer er ist? Bedürfen die biblischen Vorgaben einer christologischen Interpretation oder Jesus einer biblischen?