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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1247–1249

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zander, Helmut

Titel/Untertitel:

»Europäische« Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2015. VII, 635 S. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-041783-8.

Rezensent:

Daniel Cyranka

Das Buch von Helmut Zander ist bereits einige Male besprochen worden. Die hier mit einiger Verspätung erscheinende Rezension wird sich dementsprechend weniger einer ausführlichen Präsentation des Inhalts als vielmehr der Frage nach der Art des Umgangs mit diesem umfänglichen und gehaltvollen Werk widmen.
Z.s Buch enthält ein Konzept, das an diversem Material durchgespielt wird, welches einen Europa-Bezug hat und in den Rahmen der Religionsgeschichte gehört. Der Titel kann, wie bereits andere Rezensenten bemerkten, auch ganz anders aufgefasst werden, nämlich als eine Religionsgeschichte Europas. Nun ist das Thema »Religionsgeschichte Europas« aber hochgradig kompliziert und umstritten. Das hat mit einer doppelten Grenzziehung zu tun, die dieses Feld konturieren soll. (Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob es um »europäische Religionsgeschichte« gehen soll oder um das von Burkhard Gladigow initiierte plurale bzw. letztlich pluralistische Konzept einer »Europäischen Religionsgeschichte«, als formuliertes Programm.) – Die doppelte Grenzziehung ist darum schwierig, weil beide Referenzgrößen – Europa und Religion – als durchaus umstritten gelten bzw. als fluide zu beschreiben sind.
Dass »Europa« (nicht nur) ohne »Nicht-Europa«, ohne sein An­deres, gar nicht zu haben ist, wird von Z. insofern thematisiert, als er seine Grundthese anhand religionsgeschichtlicher Vergleiche mit diversen Kontexten beleuchtet. Eine religionshistorische Be­trachtung von entanglements, wie sie seit Jahren eingefordert und praktiziert wird, ist dies allerdings nicht. In Z.s Werk haben diese Bezüge auf diverse Religionsthemen und -traditionen eine andere Funktion. Es handelt sich hier letztlich um einen bzw. mehrere durchgeführte religionssystematische Vergleiche, die Z. als »interkulturell« bezeichnet. Die Kritik, dieses Buch behandele Europa, auch wenn »Europa« im Titel in Anführungszeichen gesetzt wird, gewissermaßen als eine Insel und vergleiche Aspekte dieser Insel mit Aspekten anderer Inseln, ist an sich zwar völlig berechtigt, trifft Z.s beeindruckende Studie aber letztlich gar nicht. Denn diese Studie entzieht sich, trotz der Verwendung von viel religionsgeschichtlichem Material, gerade dem durch ihren Haupttitel zu erwartenden Rahmen – Religionsgeschichte. Dass »Europa« eine fluide und damit konzeptionell schwer, systematisch eigentlich gar nicht zu greifende Größe ist, deutet Z. schon durch die Titelformulierung an. Dieser Aspekt versteht sich allerdings beinahe von selbst und wird hier nicht weiter zu diskutieren sein. Allerdings wird ebenso der Rahmen der Religionsgeschichte resp. der Religion b erührt, was ein mindestens ebenso stark diskutiertes und diskussionswürdiges Unternehmen ist wie der Referenzrahmen »Europa«. Dabei macht es letztlich keinen entscheidenden Unterschied, ob es um »Religion« oder um »Religionskultur« geht, wie Jan Assmann es bemerkt. Denn auch die gesellschaftliche »Einbettung« oder die geschichtliche »Entwicklung von Religion« (Assmann, ZRGG 68, 2/2016, 194) rekurriert auf das – an sich dann im­mer noch ungeklärte oder eben historisch verwobene Thema (Bergunder, ZfR 19, 2011, 3–55), das sich keinesfalls in einen konzisen Begriffs- oder Phänomenrahmen einpassen lässt – wenn man vom historischen Material ausgeht. Was hier als »Religionskultur« er­scheinen mag, ist in antiken Texten mit Blick auf religio z. B. als Götterkult zu begreifen, für das christliche Mittelalter dann eher mit lex zu fassen, von der neuzeitlichen Entdeckung der Religionsgeschichte (Kippenberg), den global-kolonialen Aushandlungsprozessen und der Invention of World Religions (Masuzawa) im 19. Jh. und den Säkularisierungs- und Wiederkehr-Narrativen des 20./21. Jh.s ganz zu schweigen. Hier sind Religionswissenschaft und ihr Gegenstand in ihrer jeweiligen Genese als ineinander verschränkt zu beschreiben, wie es Z. an anderer Stelle auch unternimmt.
Systematisch ist der in dieser Studie zu findende Zugriff insofern, als Z.s Kernmomente »Entscheidung« und »Zugehörigkeit« als kategoriale Zugriffspunkte für das Thema »Religion« fungieren. Dass dies sich dem Rahmen der Religionsgeschichte im historiographischen Sinne entzieht, hat damit zu tun, dass die zugrundeliegende These systematischer Natur ist. Und diese Grundthese bestimmt letztlich auch das hier eingeschriebene Europa-Verständnis, das gleichermaßen Grundlage und strukturierendes Moment der Studie ist. (An dieser Stelle ist zu bemerken, dass dies bis zu einem gewissen Punkt auch für jede im eigentlichen Sinne religionshistorische Studie gilt, die ja immer konkrete Fragestellungen verfolgt und in diesem Sinne systematische Momente aufweist. Doch es geht in einer solchen Perspektive im­mer um die Gewichtung, die Widerständigkeit und die Ambivalenz bzw. Uneindeutigkeit der Quellen, die in streng historisch arbeitenden Verfahren stärker und grundsätzlicher zur Geltung kommen.)
Das zu rezensierende Buch expliziert das Thema »Entscheidung« als grundlegendes Moment bzw. Spezifikum »europäischer« Religionsgeschichte. Z. vergleicht immer wieder (synthetisch) religionsgeschichtliche Gemeinsamkeiten und (analytisch) entsprechende Un­terschiede und muss dabei von phänomenologisch, nicht historisch erhobenen konsistenten Wesenheiten ausgehen, die die historischen Besonderheiten und Kontexte nivellieren müssen, damit überhaupt vergleichbare Essenzen oder Kategorien generiert werden. Das steht in Spannung gegenüber einer »Religionsgeschichte«.
Z.s Ausgangspunkt ist die bereits angedeutete These, dass das Christentum in der mediterranen Antike eine neue Form der Zugehörigkeit zu einer Religion (Was ist das in diesem Kontext genau, was in den anderen besprochenen »europäischen« Kontexten?) markiere, die von zwei Momenten gekennzeichnet sei. Sie beruhe erstens nicht mehr auf Geburt, sondern auf intentional freier Entscheidung und markiere zweitens eine exklusive Mitgliedschaft resp. Zugehörigkeit. Er ordnet diese Überlegungen in den Kontext von Globalgeschichte (Bayly, Darwin, Osterhammel), der genannten »Europäischen Religionsgeschichte« (Gladigow u. a.) und be­zieht die Theorie des kulturellen Gedächtnisses (Halbwachs, Assmann/Assmann) mit ein. Letztere Entscheidung verdeutlicht, wie es zu dem systematischen Zugriff kommt: Es geht primär um ein Konzept und weniger um sperrige, überraschende oder gar widerspenstige historische Befunde und disparate Quellen im Kontext der Religionsgeschichtsschreibung.
Selbst wenn man, wie der Autor dieser Rezension, solchen derzeitigen systematisierenden Konzepten kritisch gegenübersteht, da sie historische Befunde, Quellen oder historiographische Narrative zur Illustration eines systematischen, meist an irgendeiner Scharnierstelle exklusiven oder exkludierenden Konzepts einsetzen, wird man Z.s monumentale Studie mit ihren vielen Einzelbeobachtungen mit großem Gewinn lesen. Z. führt seinen Entwurf in drei großen Abschnitten aus. Der erste Teil (»Festlegungen«) enthält konzeptionelle Vorentscheidungen und eine knappe Auswahl religionsgeschichtlicher Stationen. Der zweite Teil (»Systemwechsel«) entwickelt und illustriert die Grundthese vom Zoroastrismus über Christentum und Judentum bis zu Islam, Hinduismus und Buddhismus. (Hier geht es also weniger um entanglements oder Verlaufsgeschichte als um bestimmte erhobene Merkmale und Differenzen zwischen diesen erhobenen Merkmalen.) Der dritte Teil (»Konsequenzen«) setzt vier Themen, die letztlich den Referenzrahmen des ganzen Konzepts abbilden: Schrift, Stadt, Uni-versität und neuzeitliche Naturforschung. Diesen Themen wird »westliches« Christentum zugeordnet, hier hat das Such- und Begriffsraster für das Thema »Religion« seine Entsprechungen. Es lässt sich nicht übersehen, dass in diesen rein okzidentalen Rastern jedenfalls »östliches«, griechisches oder russisches Christentum nicht vorkommt.
Man muss Z.s Zugang – Exklusivität eines neuen Zugehörigkeitsverständnisses und damit (Re-)Konstruktion eines europäischen Religionsverständnisses im interkulturellen Vergleich – nicht zustimmen oder folgen, um aus diesem sehr gut lesbaren Buch viel zu lernen. Z. hat ein wichtiges und klärendes Buch vorgelegt, das noch lange für Diskussionsstoff sorgen wird. Es wird deutlich, dass ein religionsgeschichtlicher Zugriff auf das Thema Religion und Europa immer auf spezifische Weise strukturiert vorgeht und damit notwendigerweise ausschneidet, ausgrenzt und eingrenzt. Diesem strukturierten bzw. strukturierenden Ansatz stehen Fragen nach entanglements gegenüber, die auf Verwobenheiten, Ambivalenzen, auf Fluidität und Hybridität, vor allem aber auf die Aushandlungsprozesse achten, die hier und da, und immer wieder auf unterschiedliche Weise als Entstehungsbedingungen für Religion(en), für Themen wie Schrift, Stadt, Universität und Naturforschung (resp. Wissenschaft) zu betrachten sind.
Für sein Buch, das eine Zugangsmöglichkeit anbietet, erläutert und einschließlich angedeuteter Konsequenzen illustriert, sei Z. sehr gedankt. Nach seinen bisher schon vorgelegten religionsgeschichtlichen Detail- und Überblickswerken z. B. zur Seelenwanderung oder zu Rudolf Steiner und zur Anthroposophie, die nach wie vor Diskussions- und (Er-)Kenntnisstandards setzen, hat Z. ein weiteres großes, diesmal ganz anders gelagertes Werk vorgelegt.