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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1245–1246

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zamagni, Gianmaria

Titel/Untertitel:

Das »Ende des konstantinischen Zeitalters« und die Modelle aus der Geschichte für eine »neue Christenheit«. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 280 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-451-37544-6.

Rezensent:

Adolf Martin Ritter

Das Schlagwort vom »Ende des konstantinischen Zeitalters« ruft innerhalb der Leserschaft dieser Zeitschrift vermutlich am ehesten Erinnerungen wach an einen Streit, der sich vor mehr als 60 Jahren innerhalb des deutschen Protestantismus an einen Vortrag des märkischen Generalsuperintendenten G. Jacob (gest. 1993) vor der 2. Synode der EKiD auf ihrer Außerordentlichen Tagung vom 27. bis 29. Juni 1956 in der Ostberliner Marienkirche anschloss (vgl. etwa W. Schneemelcher, Art. Konstantinisches Zeitalter, TRE 19, 1990, 500–503). Dass es jedoch falsch wäre zu meinen, es handele sich dabei um eine typisch protestantische Fragestellung, belegt zuletzt das hier anzuzeigende Buch. Gianmaria Zamagni (geb. 1974), 2004 in Bologna zum Dr.phil. in Religionswissenschaften promoviert, von 2009 bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzclus-ter »Religion und Politik« in Münster und seit 2015 Privatdozent für Religionsgeschichte in Frankfurt (Main), behandelt darin das, von Protestanten seinerzeit kaum wahrgenommene, katholische Gegenstück zur innerprotestantischen Debatte – und zwar, ohne diese Debatte auch nur mit einer Silbe zu erwähnen! Dafür entführt er seine Leser in die Vorgeschichte des II. Vaticanum und dessen Ringens um eine Neubestimmung des Verhältnisses von katholischer Kirche und moderner Welt.
Dem Buch liegt eine schließlich als Habilitationsleistung für das Fach Religionsgeschichte durch den Fachbereich Katholische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. (2014) – zwei Jahre nachdem er sich für dasselbe Fach in Bologna habilitiert hatte! – angenommene Untersuchung zugrunde. Ihren Grundstock bildet eine Studie über den Hintergrund von M.-D. Chenus, eines der Initiatoren der Konzilsbotschaft für die Welt (Gaudium et Spes), Beitrag über »La fin de l’ère constantinienne« zu dem von J.-P. Dubois-Dumée/J. De Broucker et al. im Vorfeld des II. Vaticanum herausgegebenen Sammelwerk »Un concile pour notre temps« (Paris: Cerf 1961, 59–87). Die Anregung dazu wiederum hatte der weit über Italien hinaus bekannte Kirchen- und speziell Konzils-historiker G. Alberigo gegeben, dessen Idee es war, »zur 1700. Wiederkehr des sog. ›Mailänder Edikts‹ Konstantins im Jahre 2013 die Ereignisgeschichte und die Geschichte von dessen Ideal zu diskutieren und historisch einzuordnen« (9). Herausgekommen ist aus diesem Anstoß, Jahre nach Alberigos frühem Tod (2007), auf der einen Seite ein auf Italienisch erschienener, schmaler Band Z.s mit dem Titel »Fine dell’era costantiniana. Retrospettiva genealogica di un concetto critico« (erschienen Bologna: il Mulino 2012); er ist offensichtlich inhaltlich identisch mit dem ersten, umfangreichs-ten Teil des hier zu besprechenden Buches und hat mit »Ereignisgeschichte« und dem »historischen Konstantin« so wenig im Sinn wie einst die von G. Jacob angestoßene protestantische Debatte, ganz im Gegensatz zu dem zweiten Unternehmen, das sich Alberigos Anregung verdankt, nämlich der von A. Melloni, seinem Schüler und Nachfolger in der Leitung der Bologneser »Fondazione per le Scienze Religiose«, herausgegebenen Enzyklopädie »Costantino I. Enciclopedia costantiniana sulla figura e l’immagine dell’imperatore del cosidetto Editto di Milano, 313–2013« in drei Bänden (erschienen Rom: Enciclopedia Italiana 2013).
Für die Zwecke der Frankfurter Habilitation ist noch ein zweiter, kürzerer Teil hinzugetreten, der »das Ideal einer ›neuen Christenheit‹« zum Inhalt hat. »Das vorliegende Buch wird daher«, behauptet Z. etwas kühn (9), »durch zwei klar voneinander unterschiedene Teile bestimmt«; doch ist der Unterschied schon deshalb weniger »klar«, weil natürlich weder Chenu noch seine »Inspirationsquellen« (10) vom »Ende« eines bis in die Gegenwart mindestens nachwirkenden Zustandes (gemeint: das »Bündnis von Kirche und politischer Macht« [ebd.]) sprachen und sprechen konnten, ohne wenigstens umrisshaft erkennen zu lassen, was an dessen Stelle trat bzw. treten solle. Und so verwundert es kaum, dass wir im zweiten Teil des Buches nahezu denselben Autorennamen begegnen wie im ersten.
Geboten wird insgesamt ein bunter Strauß von Einzelstudien unterschiedlicher Länge und unterschiedlichen Gewichts, eher locker zusammengehalten durch die von allen behandelten Autoren, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung und Dichte, geteilte »Diagnose von der Notwendigkeit einer ›neuen Christenheit‹ und vom Ende eines ›konstantinischen Zeitalters‹« (277). Nennenswert viel konkreter wird das Buch leider an keiner Stelle.
Fesselnd und stringent in der Gedankenführung sind in meinen Augen besonders die beiden ersten Kapitel des I. Teils, über das »Ende des konstantinischen Zeitalters« bei M.-D. Chenu (21–51) und den Beitrag des Wiener katholischen Kulturhistorikers F. Heer (52–78), sowie das vierte Kapitel (109–137) über die tragische Geschichte des als »Priester, Historiker und Mann des Glaubens« (109) vorgestellten E. Buonaiuti (1881–1946), der nicht nur – wie Chenu und andere Anhänger einer »Nouvelle Théologie« und Freund der Arbeiterpriester in Frankreich – mit einem Lehrverbot belegt, sondern schließlich (1926) exkommuniziert und zum vitandus erklärt worden war. Enttäuscht hat mich dagegen, wie wenig Z. aus der besonderen inhaltlichen Nähe zwischen Chenu und J. Maritain gemacht hat (vgl. 100 ff.243 ff.). Hier ist Chenu, ein Thomaskenner und -liebhaber wie Maritain, bei Weitem nicht auf seine Kosten gekommen.
Mein Fazit aus der Lektüre: 1) Für historische Fragen, vor allem die Konstantinforschung betreffend, ist das Buch unergiebig. 2) Wie in der protestantischen Debatte, so zeigt sich, ging es im katholischen Diskurs beim Schlagwort vom »Ende des konstantinischen Zeitalters« um das Ende der (im Wesentlichen im Mittelalter begründeten) Allianz von Religion und Macht, allenthalben, spätestens im katastrophenreichen 20. Jh. 3) Wie mit dem Übergang von der »Volkskirche« zur Minderheiten-, wenn nicht gar Diasporakirche verantwortlich und »christlich« umzugehen sei, ist eine allen Konfessionen sich stellende Frage und Herausforderung. Hier ist nach wie vor guter Rat teuer. Warum sollte er nicht auch »aus der Ge­schichte« kommen können?