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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1243–1245

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wiemer, Hans-Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kulträume. Studien zum Verhältnis von Kult und Raum in alten Kulturen.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017. 307 S. m. zahlr. Abb. u. 2 Ktn. = Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, 60. Kart. EUR 56,00. ISBN 978-3-515-11769-2.

Rezensent:

Julia D. Preisigke

Der hier vorgestellte Sammelband ist das Ergebnis einer Tagung des »Interdisziplinären Zentrums Alte Welt« (IZAW) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (17. und 18. Juli 2014). Das Ziel der zusammengetragenen Beiträge ist, das Verhältnis von Kult und Raum kulturspezifisch, aber auch kulturübergreifend zu beleuchten. Das Spektrum der betrachteten »alten Kulturen« reicht dabei räumlich von Westeuropa bis in den Vorderen Orient und zeitlich vom mitteleuropäischen Jungpaläolithikum bis in die Spätantike. Die Beiträge stammen sowohl aus der Ur- und Frühgeschichte, der klassischen Archäologie, aus der Indogerma-nistik als auch der Alten Geschichte. Zudem finden sich Beiträge der Wissenschaften vom Alten und Neuen Testament, der älteren Kirchengeschichte sowie der Religionswissenschaft. In diesem Maße und Umfang wurde ein ähnliches Unterfangen nach Kenntnis der Rezensentin bisher nicht versucht, was dieses Werk auch über die Grenzen der in den Beiträgen vertretenen Forschungsrichtungen beachtenswert macht.
In der Einleitung von Hans-Ulrich Wiemer wird der Begriff Kult-raum nicht nur als ein topographischer (ortsfester), sondern auch als ein sozialer (mobiler) Raum definiert, in dem wiederholt und absichtlich kultische Praktiken (abweichend von alltäglichen Handlungen) durchgeführt wurden. Ein Kultraum besitzt somit eine symbolische Funktion und ist mit der Verortung und Speicherung von Erinnerung verbunden. Dieser Raum ist meist als anders markiert und von seiner Umwelt abgegrenzt (durch natürliche Gegebenheiten oder durch künstliche Objekte). Ferner werden kulturspezifische Termini für Kulträume definiert und ihre Etymologie erläutert (u. a. temenos = heiliger Bezirk / naos = Tempel / synagogê = Versammlung der Gläubigen, später das Gebäude). Zudem werden im Sinne aktueller kulturwissenschaftlicher Debatten sechs Aspekte zum Verhältnis von Kult und Raum diskutiert und in diesem Zusammenhang ein Katalog von Forschungsfragen zusammengestellt, die im Zuge der einzelnen Studien besprochen und zum Teil beantwortet werden (sollen).
Alle Beiträge versuchen das gemeinsame Thema zu würdigen, was bei einigen besser gelingt als bei anderen. Besonders die Untersuchungen von Andreas Grüner zum »Kapitol als Klangraum«, Andreas Pastoors zum Thema »Kultraum oder Bilderhöhle« und Doris Mischka zum sogenannten »Kosbacher Altar« sind wegen ihrer klaren Strukturierung, umfassenden Analyse und sehr guten Einbindung in die Thematik des vorliegenden Buches hervorzuheben. Doris Mischka geht der Frage nach, ob der »Altar« aus der frühen Latènezeit (450–380 v. Chr.), der Anfang des 20. Jh.s in direkter Nachbarschaft zu einem Hügelgrab bei Erlangen entdeckt wurde, als Kultraum interpretiert werden kann. Dabei werden verschiedene Deutungsmöglichkeiten vorgestellt (z. B. Altar, Überreste einer Wegepflasterung, Vorplatz eines Grabhügels etc.) und umfassend diskutiert. Nach Mischka kann der »Altar« am wahrscheinlichsten als Teil einer Grabanlage und der mittig aufgestellte »Pfeiler« als eine Art Cippus nach Vorbild der Etrusker interpretiert werden. Dieser Brauch soll durch eine immigrierte Personengruppe aus dem Süden importiert worden sein. Andreas Pastoors untersucht mögliche Kulträume in Bilderhöhlen der jüngeren Altsteinzeit (40.000–12.000 v. Chr.) und zeigt anhand von verschiedenen Ge­brauchsspuren wie Konstruktionen, Deponierungen, Feuerspuren und Fundkonzentrationen etc., dass eine klare Abgrenzung zwischen profanem und sakralem Raum innerhalb der Höhlen zum jetzigen Forschungsstand nicht möglich ist. Er widerlegt damit sehr plausibel die lange vorherrschende Forschungsmeinung, die Höhlen wären allein aufgrund der vorhandenen bildlichen Darstellungen als Heiligtümer anzusprechen. Es wäre sicher lohnenswert, die Befunde zusätzlich mit den vorhandenen Darstellungen in den jeweiligen Höhlen zu kontextualisieren, um weitere mögliche Interpretationsansätze zu generieren. Andreas Grüner analysiert anhand visueller Darstellungen in Form von Statuen und Reliefs akustische Phänomene im Kult sowie deren Einfluss auf Kulträume (soundscapes) und deren Wahrnehmung. Dabei weist er besonders auf die prominente Position des Flötenspielers als Garant für die korrekte Durchführung von Opferhandlungen in den Reliefs hin, die die Wichtigkeit der musikalischen Untermalung von Kulthandlungen untermauert und verdeutlicht. Er kann damit überzeugend argumentieren, dass Musik und Klang für das Verhältnis von Kult und Raum essentiell sind.
Der Beitrag von Norbert Oettinger analysiert anhand von Textquellen die Bedeutung von Flüssen für die Religion der Hethiter und speziell für ein schriftlich belegtes Heilungsritual, in dem eine Parallele zwischen Flüssen und den Gliedern eines erkrankten Kindes gezogen wird. Dieses hat, nach Oettinger, vorzugsweise an einem Fluss (= Kultraum) stattgefunden. Archäologische Belege werden nicht einbezogen. Bernhard Maier nutzt zur Identifikation von keltischen Kulträumen sowohl archäologische als auch textliche Belege, die vor allem den Terminus nemeton (lat. nemus = Holz) als Bezeichnung für keltische Sanktuare und heilige Orte nutzen. Konkrete Heiligtümer sind durch eine ausgeprägte regionale Vielfalt jedoch nur schwer zu fassen. Eine stärkere Verknüpfung der archäologischen Befunde und der Texte hätte möglicherweise mehr Antworten auf die einleitend genannten Fragen generieren können. Im Beitrag von Henrik Pfeiffer geht es um die Heiligtümer des israelitischen Staatskultes und den Zeitpunkt ihrer Gründung nach den biblischen Erzählungen sowie um ihre Rolle für die Legitimation und die Integration neu erworbener Gebiete. Hans-Ulrich Wiemer zeichnet die bewegte, fast 700-jährige Geschichte des Apollon-Heiligtums in Daphne nach, die besonders durch den Konflikt zwischen Heiden und Christen geprägt wurde. Lukas Bormann reflektiert auf Grundlage vor allem der Paulusbriefe die These kritisch, die frühen Christen hätten sich zur Religionsausübung ausschließlich in Privathäusern versammelt. Vielmehr stünde der soziale Raum, der durch Handlungen und Sprech-akte konstituiert wurde, im Fokus. Die Annahme Bormanns von gemieteten Räumen in Tavernen sollte jedoch nochmals überdacht werden (so auch Bremmer in diesem Band). Hanns Christof Brennecke zeigt auf, dass der Raum der christlichen Gottesdienste bis zum 4. Jh. nie mit den gängigen Worten für Tempel oder Heiligtum bezeichnet wurde. Zunächst wurde der Begriff für die Gemeinde ekklesia auf den Versammlungsraum übertragen, der sich jedoch im Laufe der Zeit zu einem Tempel entwickelte. Annette von Stockhausen fragt, wie es zu einer liturgischen Inszenierung der christlichen Heilsgeschichte in Jerusalem als Kultlandschaft seit dem 4. Jh. kam und welche Formen diese annahm (Stationsliturgie). Zur Visualisierung der verschiedenen festlichen Prozessionswege zu den heiligen Orten, die lediglich aufgelistet werden, wäre eine schematische Karte sehr hilfreich gewesen.
Jan Bremmer fasst die Ergebnisse des Bandes abschließend zusammen, wobei er die Beiträge zum Teil kritisch reflektiert. Er gibt zudem wertvolle Anregungen für weiterführende Forschungen über die Grenzen dieses Sammelbandes hinaus, in dem insgesamt facettenreiche Erkenntnisse veröffentlicht sind.