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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1242–1243

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rommelspacher, Birgit

Titel/Untertitel:

Wie christlich ist unsere Gesellschaft? Das Christentum im Zeitalter von Säkularität und Multireligiosität.

Verlag:

Bielefeld: transcript Verlag 2017. 446 S. = Edition Kulturwissenschaft. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-8376-3496-9.

Rezensent:

Christian Grethlein

Der postum erschienene Band der 2015 verstorbenen Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Ge­schlechterstudien (Alice Salomon Hochschule Berlin) ist – wie einleitend erläutert – primär am »kulturellen Christentum« (18.41) interessiert, eröffnet also eine für Theologinnen und Theologen ungewöhnliche Perspektive.
In einem ersten vorwiegend historisch gehaltenen Teil »Christliche Religiosität und kulturelles Erbe« rekonstruiert Birgit Rommelspacher das »widersprüchliche Erbe« (43) des Christentums. In mehrfachen Anläufen weist sie auf dessen »Doppelstruktur« hin (69.81.114 und später 406): Jenseits und Diesseits, Asketismus und Weltzugewandtheit, Liebes- und Freiheitsbotschaft sowie Verdammnis der Sünder und Ungläubigen werden gegeneinander gestellt. Materialiter entsteht so eine Gewaltgeschichte des Chris­tentums, wobei vor allem Augustin als – problematischer – Ge­währsmann dient. In welche Richtung die Ambivalenz ausschlägt, hängt wesentlich vom politischen Kontext ab. Entsprechend der engen Liierung mit dem Reich gestaltet sich demnach die Ge­schichte der westlichen (päpstlichen) Kirche gewaltförmiger als die der Ostkirche. Dass die Vfn. bei aller Berechtigung der Kritik an der Gewaltgeschichte des westlichen Christentums dabei manchmal sehr weit geht, zeigt sich z. B., wenn die »Kindstaufe« folgendermaßen interpretiert wird: »Hier wird einem einer eigenen Willensbekundung unfähigen Menschen der christliche Glaube aufgenötigt.« (108; vgl. auch 249)
Der zweite Teil »Säkularität: Das Christentum in einer säkularen Gesellschaft« radikalisiert die bereits genannte kritische Sicht des Christentums noch weiter. Besonderes Gewicht legt die Vfn. auf eine Rekonstruktion der Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus (173 ff.). Trotz bzw. in der zwar unterschiedlich akzentuierten, insgesamt aber zustimmenden Haltung beider großer Kirchen zum Nationalsozialismus entdeckt die Vfn. insgesamt deren Stärkung. Sie schlägt sich bis heute vor allem in den beiden großen Wohlfahrtsverbänden – Diakonie und Caritas – nieder. Für die Gegenwart konstatiert R. ebenfalls, »dass die Kirchen in Deutschland, was ihre säkulare Rolle anbetrifft, sehr aktiv und mächtig sind. Sie wirken über ihre pastoralen Aufgaben weit in die säkulare Gesellschaft hinein und dies vor allem mittels ihrer karitativen Tätigkeiten, bei denen sie vom Staat hoch subventioniert werden« (203). Auch sonst dominiert – wie exemplarisch anhand von kritisch dekonstruierten Äußerungen von Jürgen Habermas gezeigt wird – eine »christlich geprägte« Säkularität (283).
Die ganze, stets kirchen- und christentumskritische Argumentation mündet in den dritten Teil »Christliche Dominanz in einer multireligiösen Gesellschaft«. Zuerst wird dabei die christliche Mission als menschenverachtend skizziert. Selbst die beiden entwicklungspolitisch engagierten Aktionen »Misereor« und »Brot für die Welt« werden – einseitig – auf der Folie »postkoloniale Beziehungsmuster« (328) präsentiert. Dazu tritt die Kritik hinsichtlich des Umgangs mit dem Islam. Auch hier stellt die Vfn. eine »Privilegierung der christlichen Kirchen« (374) fest. »Säkularismus« wird dabei – unter Aufnahme einer entsprechenden Argumentation von Talad Asad – als »Ideologie der Kontrolle und Macht« (345) entlarvt. Erst im letzten Kapitel werden tendenziell im Sinne eines kritischen Katholizismus gewisse positive Ausblicke gegeben. Vor allem »Toleranz« im Sinn des Machtverzichts und damit der Deutungs hoheit wird empfohlen. Sie zeigt sich z. B. im Ansatz von Hans Küng oder den »Afrikanischen Unabhängigen Kirchen«.
Insgesamt liegt ein engagiertes, kirchen- und christentumskritisches Opus vor, das die deutschen christlichen Kirchen vor selbstgefälligem Verharren auf ihrem privilegierten Status warnt. Dabei werden zahlreiche geschichtliche Ereignisse und Entwicklungen herangezogen, die parteilich und einseitig entfaltet werden. Die eingangs in Aussicht gestellte These des »kulturellen Christentums« tritt dadurch aber bei den ausgedehnten Ausflügen ins Mittelalter, nach Nahost, Afrika usw. zurück.