Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

119–121

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Buckenmaier, Achim

Titel/Untertitel:

"Schrift und Tradition" seit dem Vatikanum II. Vorgeschichte und Rezeption.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 1996. 560 S. gr.8 = Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, 62. Lw. DM 158,-. ISBN 3-87088-907-1.

Rezensent:

Matthias Haudel

Ökumenische Bemühungen, die am theologischen Konsens interessiert sind, stoßen in den unterschiedlichsten Themenbereichen immer wieder an ihre Grenzen, weil grundlegende hermeneutische Differenzen nach wie vor im Wege stehen. So kommen bei vielen ökumenischen Dialogen jedesmal neu die Probleme zum Tragen, die sich aus einer divergierenden Bestimmung des Verhältnisses von Schrift, Tradition und Kirche ergeben. Deshalb ist es zu begrüßen, daß Achim Buckenmaier das Thema "Schrift und Tradition" aufgreift, indem er die Bedeutung der Thematik für das Vatikanum II sowie deren Rezeption nach dem Konzil analysiert, um eine Annäherung an ein angemessenes Verhältnis von Schrift, Tradition und Kirche erreichen zu können. Dabei gibt die engagierte und umfangreiche Untersuchung B.s allerdings zu erkennen, daß auch sie nicht ganz von dem Grundproblem verschont geblieben ist, welches in beträchtlichem Ausmaß für die ökumenischen Schwierigkeiten mit den hermeneutischen Differenzen verantwortlich ist: Längst erzielte ökumenische Übereinstimmungen in diesen Fragen werden weder von den Kirchen noch von einem Großteil der Theologen angemessen wahrgenommen.

Doch bevor darauf eingegangen wird, bleibt voller Anerkennung festzuhalten, was B. für die Aufarbeitung der innerkatholischen Entwicklung des Verständnisses von Schrift und Tradition geleistet hat. Zunächst ist beachtenswert, daß auf den ersten 200 Seiten eine dezidierte Erörterung der Geschichte des Verhältnisses von Schrift und Tradition erfolgt (Kap. II u. III), die sich von der jüdischen Überlieferung und den biblischen Schriften über die Alte Kirche und die Reformationszeit bis ins 20. Jh. erstreckt, wodurch das Thema der Untersuchung in einen weiten Rahmen gestellt wird, der grundlegende Informationen für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Schrift, Tradition und Kirche liefert. Das dem neutestamentlichen Verständnis entsprechende dynamische Zusammenwirken von Schrift, Tradition und Kirche in der Patristik (Kap. III, 2) bildet die Basis für die Analyse der Konzilskonstitution Dei Verbum (Kap. IV) und deren Wirkungsgeschichte im Blick auf das Verhältnis von Schrift und Tradition (Kap. V-XIV).

B. zeigt auf, wie die Kirchenväter in der Schrift das Kriterium der Lehre erkannten und von einem dynamischen Überlieferungsprozeß der Offenbarung ausgingen, in welchem die Schrift auf die Kirche als pneumatologisch qualifizierten Auslegungskontext angewiesen bleibt, der wiederum durch eine der Schrift entsprechende Tradition gewährleistet wird. Von daher kann es sich bei der Tradition nicht um die Hinzufügung neuer Glaubensinhalte handeln, was die Frage nach der Schriftsuffizienz beantwortet. Zusammen mit dem trinitarisch-heilsgeschichtlichen Offenbarungsbegriff prägte dieses Verständnis die Konzilstexte:

Die Bezugnahme auf die trinitarische Selbsterschließung Gottes öffnet in Dei Verbum den Blick für die Verbindung zwischen der Inspiration der Schrift und dem pneumatologisch konstituierten Überlieferungsgeschehen, weil die in Christus offenbare Erkenntnis Gottes und seines Heils im Heiligen Geist fortwährend vergegenwärtigt wird. Entsprechend lassen sich Gotteserkenntnis und Offenbarung nur in der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch angemessen qualifizieren. Diese "heilsgeschichtliche Konzeption der Offenbarung" in ihrem "Charakter als Wort- und Tatgeschehen" (504) bildet die Basis für die dynamische Interdependenz von Schrift, Tradition und Kirche, die sowohl die traditionskritische Funktion der Schrift als auch die hermeneutische Funktion kirchlicher Tradition vor Augen hält und so zwischen schriftgemäßer apostolischer Tradition und kirchli chen Traditionen zu unterscheiden vermag, ohne den Zusammenhang beider Bereiche leugnen zu müssen. Damit wird einer Aufteilung von Schrift und Tradition in zwei Quellen gewehrt.

Die z. T. als Kompromißtexte entstandenen Konzilsaussagen nehmen die genannten Zusammenhänge in unterschiedlicher Weise auf, so daß nicht alle Dimensionen gleichermaßen zum Tragen kommen. Daher kann B. "das Fehlen einer ausdrücklichen Kriteriologie für die Unterscheidung evangeliumsgemäßer und entstellender Tradition in der Offenbarungskonstitution" (435 f.) konstatieren, welches sich auch darin äußert, daß die Frage der Schriftsuffizienz auf dem Konzil letztlich offenblieb. Entsprechend wird in der Rezeptionsgeschichte der in Dei Verbum enthaltenen Aussagen zu Schrift und Tradition auf unterschiedliche Aspekte zurückgegriffen, was B. ausführlich bei K. Rahner, J. Ratzinger, W. Kasper, H. U. von Balthasar und H. Fries untersucht (Kap. V-IX), um danach ca. 30 weitere römisch-katholische Konzeptionen zu analysieren, die während oder nach dem Konzil entstanden (Kap. X u. XI). Hinzu kommt die Analyse von lehramtlichen Dokumenten und Katechismen sowie einiger Ergebnisse der bilateralen Dialoge mit anderen Kirchen (Kap. XII u. XIII).

Für B. ergibt sich aus seinen Nachforschungen die Erkenntnis, daß der heilsgeschichtliche Offenbarungsbegriff durchaus als Kontext der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition aufgenommen wurde, wobei jedoch hinsichtlich der daraus gewonnenen Schlußfolgerungen unterschiedliche Prioritätensetzungen miteinander konkurrieren. Während einige die "Vorgängigkeit der Kirche" (Ratzinger) bzw. der "Urkirche" (Rahner) betonen, verlangen andere nachhaltig die Beachtung der traditionskritischen Funktion der Schrift (Kasper). So erkennt B. richtig, daß die dynamische Interdependenz von Schrift, Tradition und Kirche, die einer "historischen, wissenschaftlichen Sezierung der Schrift" (516) ebenso vorbeugt wie einer unreflektierten Traditionshörigkeit, insgesamt zu wenig beachtet wird. Deshalb gebe es auch noch keinen Konsens in Fragen, welche das Verhältnis von Schrift und Tradition impliziert, wie z. B. nach dem verbindlichen Lehren (Lehramt), der Autorität oder der Schriftauslegung. B. sieht die Lösung in der Berücksichtigung der von ihm aufgezeigten heilsgeschichtlichen Dynamik, die ein Fortschreiten der Wahrheitserkenntnis auf der Grundlage der am Wort Gottes orientierten Urkirche ermöglicht und so "die Kirche in ihre hörende und dem Wort Gottes gegenüber dienende Funktion verweist" (514). Aber das konkrete "wie" einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Schrift, Tradition und Kirche - vor allem hinsichtlich der traditionskritischen Funktion der Schrift - tritt dabei noch nicht deutlich genug hervor.

Daß der ökumenische Dialog hier jedoch unter Beteiligung der katholischen Kirche bereits zu konkreten Ergebnissen gekommen ist, die auch die Fragen von verbindlichem Lehren, Autorität oder Schriftauslegung einschließen, entgeht B., weil er nur kurz auf die Sektion II ("Schrift, Tradition und Traditionen") der Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung (Montreal 1963) eingeht und die bis 1978 durchgeführten Folgestudien zum altkirchlichen Schriftverständnis, zur biblischen Hermeneutik, zur Autorität der Schrift, zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament sowie zum verbindlichen Lehren völlig übersieht.

Das erklärt wohl auch, daß er die Untersuchung des Rezensenten (Haudel, Matthias: Die Bibel und die Einheit der Kirchen. Eine Untersuchung der Studien von "Glauben und Kirchenverfassung" = Kirche und Konfession, 34. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21995/1. Aufl. 1993) nicht zur Kenntnis genommen hat, in der die Geschichte des dynamischen Verhältnisses von Schrift, Tradition und Kirche seit Beginn der ökumenischen Bewegung sowie innerhalb der verschiedenen Konfessionen analysiert ist und in der nachgewiesen wird, daß Glauben und Kirchenverfassung mit den genannten Studien unter katholischer, protestantischer, orthodoxer und anglikanischer Beteiligung längst einen ökumenischen Durchbruch erzielt hat, der die dynamische Verhältnisbestimmung von Schrift, Tradition und Kirche konkret zuordnet und in ihrer Bedeutung für die Fragen der Schriftauslegung und des verbindlichen Lehrens aufzeigt.

Es wird außerdem herausgestellt, welche ökumenischen Chancen dieser ökumenische Durchbruch eröffnen könnte, wenn ihn die Kirchen endlich rezipieren würden. Denn laut dieser Übereinstimmung gilt die Schrift innerhalb des pneumatologischen Traditionsprozesses unbestritten als Kriterium der apostolischen Tradition, die wiederum den Maßstab der kirchlichen Traditionen darstellt. Da die inspirierte Schrift selbst den Zusammenhang von gegebener und rezipierter Wahrheit beinhaltet und so auf die ihr angemessene Tradition hinweist, erhält der ekklesiologische Auslegungskontext konstitutive hermeneutische Funktion, während die Basiselemente verbindlichen Lehrens wiederum von der Schrift in ihrem richtigen Verhältnis determiniert werden, da die Schrift bereits die wechselseitige Inhärenz von Schrift und Tradition enthält.

Hätte B. diese hier nur kurz angedeuteten Ergebnisse wahrgenommen, wäre er imstande gewesen, seine Analyse im Kontext einer konkreteren Verhältnisbestimmung von Schrift, Tradition und Kirche zu vollziehen und einen schon fortgeschritteneren ökumenischen Erkenntnisstand darzulegen. Daran wird ersichtlich, wie wichtig es heute für die theologische Arbeit ist, die Ergebnisse des ökumenischen Diaologs präzise zu verfolgen. Doch es bleibt das unbestrittene Verdienst B.s, daß er erneut - unter ausführlicher Berücksichtigung der kirchengeschichtlichen Entwicklung - auf das dynamische Verhältnis von Schrift, Tradition und Kirche hinweist, indem er den Stellenwert dieser Verhältnisbestimmung innerhalb der katholischen Kirche dezidiert analysiert und damit die Bedeutung ihrer Beachtung für die Weiterentwicklung der katholischen Theologie transparent werden läßt. Zugleich eröffnet er einen für alle Konfessionen interessanten Einblick in die Geschichte der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils.