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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1239–1242

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Krobath, Thomas, Lehner-Hartmann, Andrea, u. Regina Polak [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anerkennung in religiösen Bildungsprozessen. Interdisziplinäre Perspektiven.

Verlag:

Göttingen: Vienna University Press bei V & R Unipress 2013. 350 S. = Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft, 8. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-8471-0202-1.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Die vorliegende »Diskursschrift« setzt sich aus Anlass der Emeritierung des Ordinarius der Religionspädagogik, Martin Jäggle, mit dessen Anregungen zu einer »Kultur der Anerkennung« (9) auseinander. 26 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Griechenland, Norwegen, Österreich und Tschechien treten in eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Gedanken des Geehrten (folgende drei Schriften waren vorgegeben: 1. Martin Jäggle, Wie nimmt Schule kulturelle und religiöse Differenz wahr?, in: Porzelt, Burkhard/Güth, Ralph [Hrsg.]: Empirische Religionspädagogik. Grundlagen – Zugänge – Aktuelle Projekte, Münster 2000, 119–138. 2. Martin Jäggle, Religiöse Pluralität als Herausforderung für Schulentwicklung [2009], in: Jäggle, Martin/Krobath, Thomas/Schelander, Robert [Hrsg.]: lebens. werte.schule. Religiöse Dimensionen in Schulkultur und Schulentwicklung, Wien 2009, 265–280. 3. Martin Jäggle/Thomas Krobath: Bildung, Gerechtigkeit und Würde: Kultur der Anerkennung, in: Amt und Gemeinde, H. 1/2010, 51–63) ein. Die Herausgeber haben die Beiträge aus den unterschiedlichen Disziplinen nicht nach den in ihnen enthaltenen Begriffen – »Pluralität, Differenz, Fremdheit, Identität, Gerechtigkeit, interreligiöses Lernen, religionssensible Bildung, Kommunikation und Dialog« (10) –, sondern nach vier anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten gruppiert, um das wissenschaftliche Werk Jäggles akademisch zu würdigen. Ein Publikationsverzeichnis der Schriften Jäggles (345–347) sowie ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (349–350) schließen sich an.
Im ersten Block »Pluralitätsfähige Anerkennung in multireligiösen und interreligiösen Kontexten« (15–90) setzt sich Stefan Altmeyer mit der Frage nach interreligiösem Lernen als zentralem Schlüsselbegriff auseinander (15–24). Während die klassisch religions-theolo-gischen Modelle (Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus) entweder die Wahrheitsfrage sistieren oder die Andersheit Andersgläubiger allenfalls wahrnehmen, bemühe sich die komparative Theo­logie um »eine neue dialogische Haltung des Theologisierens« (18). Sie gehe vom Primat der wertschätzenden Anerkennung aus, suche dem Anderen nicht mit einem abgeschlossenen theologischen System, sondern in theologischer Offenheit zu begegnen und the-matisiere religionsdidaktische Defizite: Schülerinnen und Schüler werden nicht in die Rolle von »Repräsentanten« (23) ihrer Religion gedrängt, sondern ringen um ein Verständnis jenseits von Kategorien wie eigener oder fremder Religion. Johann Reikerstorfer macht darauf aufmerksam, dass der weltanschaulich neutrale Rechtsstaat seinen Bürgern Lernprozesse im Umgang mit Verschiedenheit und Minderheiten zuzumuten habe. Am Umgang mit passivem »Leidensgedächtnis« und aktiver »Leidenserinnerung« (30) entscheide sich, ob eine Verdrängung des Anderen oder eine Zuwendung zu ihm stattfinden könne. Hans Gerald Hödl thematisiert aus religionswissenschaftlicher Perspektive methodische Fragen im Umgang mit Pluralität, während Walter Homolka den Umgang mit Differenz u. a. als »Koexistenz unterschiedlicher Lesarten« (51) problematisiert und darauf aufmerksam macht, dass das jüdische Gebetbuch als »Tradi-tionsspeicher und Katechismus« (52) auch in einer Welt, die sich dem »Pluralismus als Lebenshaltung« (51) öffne, Bedeutung behalte. Ednan Aslan weist darauf hin, dass »eine eindeutige, bis in die Gegenwart gültige Einstellung des Islam gegenüber den anderen Religionen« (53) nirgends festgeschrieben sei. Muslimische Religionspädagogik (in Europa) vertrete daher ein Theologieverständnis, dem­-zufolge das muslimische Leben »vor dem Hintergrund sich verändernder, gesellschaftlicher Verhältnisse zu reflektieren« (59) sei. Muslima und Muslime werden von der Theologie, die sie zu schützen sucht, mit Fragen konfrontiert, die sie »aus ihrer eigenen Geschichte« (63) nicht kennen, auf die sie aber eine Antwort finden müssen. Vasiliki Mitropoulou befasst sich mit Prinzipien einer »intercultural education«, die besonders im Umgang mit Migranten bedeutsam wird. Um deren Verhalten, eine (unbewusste) Anpassung an die dominante Kultur, zu ändern, schlägt er einen offenen, interreligiösen Projektunterricht vor, in dem sich Schülerinnen und Schüler je nach Neigung mit Gegenständen aus ihrem religiösen Umfeld befassen. Silvia Habringer-Hagleitner thematisiert die Frage der Bildungsgerechtigkeit in elementarpädagogischen Einrichtungen. Dabei greift sie auf Annedore Prengels Konzept einer Pädagogik der Vielfalt zu­rück. Ein Kennenlernen verschiedener Kulturen und Religionen er­mögliche, ein Bewusstsein für das Eigene zu entwickeln.
Im zweiten Abschnitt »Aspekte identitätsbezogener Anerkennung« (93–126) thematisiert Ludmilla Muchová Identität und Kultur gegenseitiger Anerkennung. Dabei unterscheidet sie zwischen einem starken Konzept von Identität und »schwachen Identitätskonzeptionen« (98), die auf Aushandlungsprozessen beruhen. Die Übertragung der (westlichen) Vorstellung einer »Kultur der gegenseitigen Anerkennung« (101) auf eine Kultur der »östlichen Welt« (101) erweise sich als schwierig. Helga Kohler-Spiegel setzt sich mit Beziehungserfahrungen auseinander, die sie im Spiegel von Mary Ainsworth’ Verständnis von Bindung als menschliches Grundbedürfnis interpretiert: »Der Gott der Bibel verspricht den Menschen kein einfaches und unkompliziertes Leben, aber ein begleitetes Leben, ein Leben mit etwas weniger Angst« (110). Helene Miklas und Heribert Bartels thematisieren in einem Zwiegespräch den Umgang mit Erinnerung, generationsspezifische Schlüsselerfahrungen sowie die Notwendigkeit, die eigene Perspektive von außen zu betrachten. Eine »Didaktik der Erinnerung« (123) zwinge »ein christliches Erinnern zur Offenheit, zu einem kontinuierlichen Perspektivenwechsel« (122) auf das Fremde hin bzw. vom Fremden her. Erinnern könne höchst schmerzhaft sein.
Im dritten Block »Religionssensible Lernprozesse im Kontext Schule« (129–230) stellt Robert Jackson wichtige Initiativen internationaler Einrichtungen vor, die sich der (öffentlichen) Achtung der Menschenrechte bei Förderung des sozialen Zusammenhalts widmen. Konkret geht es um die Entwicklung von Toleranz sowie den Respekt der Religions- und Glaubensfreiheit. Die Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), aber auch verschiedene Organisationen der Europäischen Union sowie des Europarats, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und das Wergeland Center in Oslo befassen sich mit der Bedeutung von Religionsunterricht in den Gesellschaften der einzelnen Mitgliedsstaaten. Das erkennbare Interesse internationaler und europäischer Institutionen an der Auseinandersetzung mit Religion und Weltanschauung in der öffentlichen Schule gründe sich auf eine Bestandsaufnahme der Situation des Faches Religion (»learning about, from and in religion«, 142), aber auch auf Habermas’ Annahme, dass »Verständnis durch Kommunikation oder Dialog« (144) erfolge. Bert Roebben führt in das Konzept der spiritual learning community (SLC) ein, das seine Grundlagen sowohl bei Buber (»Vergegenwärtigung der Wurzelgemeinschaft«, 150) als auch bei Dewey (»funktionierende […] Einheit des Idealen und des Wirklichen«, 150) findet. Eine Bildung, die die Interaktion zwischen universaler Verantwortung und persönlicher Einzigartigkeit kultiviere, setze auf die Praxis der Unterscheidung, eine ge­meinsame Gesprächsbasis sowie die Spiritualität. Der Habitus der Gastfreundschaft (»de-centration«, 154) tritt im interreligiösen Dialog als interspiritueller Fokus auf: Demut und Gastfreundschaft ermöglichen die Anwendung der SLC. Andrea Lehner-Hartmann befasst sich mit Lernen an Differenz und dem Umgang mit Widerständigem. Sie schlägt eine Perspektive der heilsamen Müdigkeit vor, plädiert für eine »Pädagogik des Sehens« (173), hält aber auch Prozesse des Verlernens und Umlernens für notwendig. Matthias Scharer weist darauf hin, dass wirkliche lebendige Kommunikation im Unterschied zu toter Kommunikation als reiner Informationsvermittlung stattfinde, ohne kriteriologisch eingeholt zu sein. Kommunikation eröffne sich aber mit Paul Ricœur durch Gottes Verlässlichkeit, die an die Stelle von Gewissheit trete. Als zentrale Sprechakte der menschlichen Kommunikation sieht er »Versprechen und Verzeihen« (183) an. Robert Schelander befasst sich mit religiöser Pluralität als gesellschaftlicher Bildungsaufgabe und wichtiger Sinnressource. Führe eine Diskriminierungsangst einerseits zum Verschweigen von Differenz, so verzichtete man wegen potentieller Bedrohung des Schulfriedens auf das Ansprechen konkreter religiöser Integration. Da Schulen offensichtlich Differenzen verdrängen, müssen sie sich zu der Tatsache verhalten, dass dies Verhalten zur Verweigerung von Anerkennung führe (193). Im Endeffekt ergibt sich eine »doppelte Zielrichtung« (195): Einerseits sind Lehrkräfte für Vielfalt, andererseits Schülerinnen und Schüler für religiöse Belange zu sensibilisieren. Monika Prettenthaler und Wolfgang Weirer stellen einen Leitfaden für die Vorbereitung auf die mündliche Reifeprüfung in Österreich vor. Er gilt für alle Religionsunterrichtsformen, stelle aber keine Grundlage für konfessionsübergreifenden Religionsunterricht dar, sondern einen Rahmen, der von den einzelnen Konfessionen zu füllen ist. Wolfgang Schönig macht auf Desiderate im schulpädagogischen Bereich aufmerksam. Insofern Jürgen Baumert und Helmut Fend über formale Darstellungen – wie etwa die »Beseelung der Schule« oder »pädagogische […] Spiritualität« (211) – nicht hinauskämen, könnte dies anzeigen, dass das Religionsthema lediglich wegen multiethnischer Themenstellungen Beachtung fände. Gleichwohl sei aber Bildung nicht ohne Religion zu gewinnen (Scheilke), auch entschleunige Religion die Schule durch Zeiten des Nachdenkens, Innehaltens und Unterbrechens (Jäggle). Edda Strutzenberger-Reiter befasst sich mit Religion und Schulentwicklung. Dabei zeigen ihre Interviews von acht Religionslehrkräften, dass einige der bislang fraglos gesetzten Annahmen neu zu gewichten sind (224 f.226). Religion spiele als Fach, nicht aber als Faktor der Schulwirklichkeit eine Rolle. Diese Einschätzung könnte in der Logik der Institution Schule und ihrer Fachkultur liegen.
Der vierte Abschnitt »Grundlegende Anfragen und Impulse zu Anerkennung« (233–344) befasst sich mit grundlegenden Anfragen und Impulsen. Ines M. Breitbauer thematisiert Differenz und Macht und rückt die Schülerinnen und Schüler in den Fokus. Eine »Pädagogik der Empathie« (236) spielt ebenso eine Rolle wie die Anerkennungsgerechtigkeit (Stojanow, aber auch Honneth). Eine um den Faktor der »Kultur der Organisation« (240) erhöhte theoretische Ansprechbarkeit sei künftig nur durch empirische (Wirksamkeits-)Studien einzuholen. Christa Schnabel thematisiert das Problem der wechselseitigen Anerkennung unter Leis-tungsaspekten. Wer nichts fordere, bekomme auch keine Leistungen. »Autorität, Leistung und Gerechtigkeit« (254) erweisen sich als Grundpfeiler einer Kultur der Anerkennung in der Schule. Raoul Kneucker setzt sich mit Geschichte des staatlichen Umgangs mit Gleichheit und Intoleranz auseinander. Dabei sucht er Carl Schmitt zu widerlegen, der behauptet hatte, dass Gleichheit weder ein juristisches, politisches oder ökonomisches Kriterium sei, noch sich eine »Staatsform« (266) aus ihr begründen lasse. Das Unmenschliche des Dritten Reiches und seiner Vernichtungsideologie sei gewesen, dass Menschen nicht als Rechtspersonen galten, sondern man in ihnen »Ungeziefer sah, und nicht das Menschenantlitz sehen konnte.« (273) Norbert Mette setzt sich mit gesellschaftlichen Imperativen der Nutzenmaximierung und Leistungssteigerung auseinander. Dabei zeichnet er John Hulls Auseinandersetzung mit kapitalistischer Gesellschaft nach. Heranwachsende werden zwar der gesellschaftlichen Geldkultur ausgeliefert, sie hinterfragen diese u. a. durch ihr Gerechtigskeitsempfinden. Die Kirche »habe nicht das Geld der Welt zu verwalten, sondern den Armen die Frohe Botschaft zu verkünden.« (285) Spirituelle Erziehung inspiriere zum Dasein für Andere (286). Thomas Krobath thematisiert Anerkennung als Anfrage an die Leistungsgesellschaft bzw. Anfrage der Gesellschaft an das Konzept der Anerkennung. Lehrpersonen sollten nicht über den Wert der Schülerinnen und Schüler entscheiden, sondern helfen, deren Potentiale zu entfalten. Diese Position gründe in den protestantischen Rechtfertigungsdiskursen der frühen 1990er Jahre. Während die »Verschiebung von der Input- zur Outputorientierung« (299) eine rein ökonomische Dimension der Leistungsorientierung darstelle, müsse es künftig darum gehen, die sich aus den neueren rechtfertigungstheologischen Diskursen (u. a. Körtner) ergebende Frage nach Gnade oder Leistung durch den Ricœurschen Ansatz im Gabe-Charakter aufzufangen. Eine Theologie der Gerechtmachung (Härle) sei ins Zentrum zu stellen. Regina Polak sieht schließlich Pluralität nicht als ein Problem, sondern als Kontext für Jäggles Arbeiten an. Er habe keine beliebige Vielfalt, sondern eine werthaltige Pluralität ins Zentrum seines Ansatzes gestellt. Zwischen Selbstbehauptung und Streben nach Anerkennung durch etwas außerhalb seines Selbst Liegenden sei zu vermitteln. Grundlage einer biblischen Anthropologie sei die Vorgabe von Lebensrelationen. Vor diesem Hintergrund deuten sich Konsequenzen für die Kirche gewissermaßen von selber an: Die »Organisations-, Religions- und Menschenblindheit« (342) der Schule wohne potentiell auch der Kirche inne.
Die Autorinnen und Autoren zeigen unterschiedliche Verschränkungen auf, die zwischen Martin Jäggle und ihrem eigenen Ansatz bestehen. Dabei knüpfen insbesondere kontextuelle und transnationale Perspektiven an Jäggles Eintreten für eine an der Wertschätzung des Anderen orientierte Zielperspektive an, wenn gelegentlich auch deren Grenzen benannt werden (u. a. Muchová). Für die Stellung der Religion in der Gesellschaft sowie die Bedeutung der religiösen Individualität kristallisieren sich hingegen unterschiedliche Strukturen heraus: Handelt es sich bei dem Konzept um eine sich aus der vorfindlichen Pluralität ergebende Notwendigkeit oder geht es um die Auseinandersetzung mit Grenzen, die die Kultur der An- erkennung fixieren und deren Weiterentwicklung erforderlich machen? Schließlich münden die Überlegungen zu einer Kultur der Anerkennung in subtile schul- und gesellschaftsbezogene Analysen, Aspekte persönlicher Leiderfahrungen sowie in theologische Denkmuster ein, die gerade insofern sie die Anerkennung in eine Beziehung zu philosophischer Machtreflexion, aber auch zu (protestan-tischen) Rechtfertigungsdiskursen setzen, die von Jäggle geforderte Kultur der Anerkennung auf ihre Weise realisieren. Zwar gehen die einzelnen Beiträger und Beiträgerinnen in unterschiedlicher Weise mit den Vorgaben der Herausgeber um. Durch diese Vorgehensweise sind aber interessante Perspektiven auf die Wirkweisen einer »Kultur der Anerkennung« eröffnet.