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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1211–1226

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Judith Gärtner

Titel/Untertitel:

Vom Tod zum Leben

Das Danklied als Ort theologischer Reflexion1

Vom Tod zum Leben – die Erfahrung, aus größter Not gerettet zu werden, macht den Erfahrungshorizont der alttestamentlichen Danklieder aus. Die Danklieder erzählen von der Rettung des Verdurstenden, der Rettung von Krankheit oder Errettung aus der Übermacht der Feinde, so dass in ihnen Variationen des bedrohten Lebens sowie der erfahrenen Rettung beschrieben werden. Nach ihrer Rettung wenden sich die Beter an Gott und danken ihm, indem sie aufgrund dieser Erfahrung Gott loben und preisen sowie ihm mit einem Opfer, dem sogenannten Dankopfer ( הדות חבז)2, danken. Dabei umfasst die hebräische Bezeichnung »Danklieder« (tôdāh) das ganze Spektrum der Danksagung, indem sie das Gotteslob ebenso wie die folgende Ritualhandlung, z. B. das Schlachtopfer, bezeichnet. In diesem Sinn steht die tôdāh für eine umfassende Antwort der Beter, die das lobende Erzählen der Rettungstat, das Bekennen der Taten Gottes sowie ihr kultisches Handeln ausmacht.3

Zugleich ist zu beobachten, dass die alttestamentlichen Danklieder ihre Grundmelodie im Laufe ihrer Überlieferung variiert haben. Sie haben sie mit den kulturellen und historischen Transformationen in Einklang gebracht, so dass sie bis in die späte Literaturwerdung des Alten Testaments in persisch-hellenistischer Zeit überliefert worden sind. In dieser Zeit werden die Danklieder zunehmend zu literarischen Produkten, in denen die erfahrene Rettung im Kontext der eigenen Tradition zum Gegenstand theologischer Reflexion wird. Das Danklied wird auf diese Weise zu einem Ort der Theologiebildung. Wie die Danklieder ihre Grundmelodie so variieren, dass sie zu einem Ort theologischer Reflexion werden, wollen die folgenden Überlegungen aufzeigen.

I Das Danklied

Forschungsgeschichtlich geht die Klassifizierung der Danklieder auf Hermann Gunkel und Joachim Begrich zurück, die u. a. Ps 18; 30; 32; 66; 107; 116; 118 und 138 zu der Gruppe der Danklieder gezählt haben.4 Dabei ist die von Gunkel und Begrich herausgestellte Dramaturgie der Danklieder bis heute im Großen und Ganzen akzeptiert. Nach Gunkel bestehen die Danklieder aus dem Kernstück der Rettungserzählung, die mit kultischen Elementen, wie einer Dankopferhandlung oder dem Einlösen eines Gelübdes, fortgeführt werden kann.5

Die Rettungserzählung selbst besteht aus drei Teilen, deren Elemente unterschiedlich kombiniert werden können.6 Sie enthält erstens die Notschilderung, zweitens die Anrufung JHWHs (Invocatio) und drittens die Schilderung der erfahrenen Rettung. Diese drei Elemente zeigen sich z. B. deutlich in der typischen Rettungserzählung aus Seenot in Ps 107,23–32. Die Notschilderung in V. 26–27 lautet: »Die Wogen stiegen zum Himmel empor, sie stiegen hinab in die Urtiefen. V. 27 Die Seeleute drehten sich und sie wankten wie ein Betrunkener und all ihre Weisheit war dahin.« Hierauf folgt die Invocatio, allerdings in der dritten Person Plural: »Da schrien sie zu JHWH in ihrer Bedrängnis.« Daran schließt die Rettungsschilderung in V. 29–30 an: »Er machte den Sturmwind zur Stille und es schwiegen die Wogen. V. 30 Da freuten sie sich, dass sie zur Ruhe kamen und er sie in einen sicheren Hafen führte.«

Als zweiter Teil kann sich dann ein Ritualteil anschließen. Dieser kann aus einem Dankopfer (הדות חבז) bestehen. Hierbei handelt es sich um ein Schlachtopfer.7 Das geopferte Tier wird in einem anschließenden Gemeinschaftsmahl mit der Festgemeinde verspeist. Es sind aber auch andere Ritualelemente möglich, wie z. B. das Einlösen eines Gelübdes. Wenn der Beter in der Situation der Not ein Gelübde abgelegt hat, ist der Dankgottesdienst der Ort, an dem das Gelübde eingelöst wird.8 Beide Ritualelemente, Dankopfer und Gelübde, finden sich z. B. in dem Danklied Ps 66,13: »Ich komme in dein Haus mit Brandopfern. Ich will dir bezahlen meine Gelübde.«

Im Anschluss an Gunkel hat Frank Crüsemann in seinen formgeschichtlichen Studien zu Hymnus und Danklied zwei Grund-formen des Danklieds herausgestellt,9 die sich durch ihre unterschiedliche Sprechrichtung auszeichnen. Die von ihm als erste Grundform des Danklieds profilierte Anrede JHWHs in der zweiten Person Singular (»ich danke dir«, vgl. Ps 118,21) steht im Kontext der Übereignung des Opfertiers an JHWH. Die zweite Grundform in der dritten Person Singular stellt eine berichtende Erzählung der Rettungstaten JHWHs während des Opfermahls dar. Auch wenn sich die Zuordnung der beiden Redeformen zu konkreten Teile des Ritualverlaufs heute aufgrund der stärker beachteten Argumentationsstruktur der Danklieder als problematisch herausgestellt hat, so hat sich doch die Beobachtung, dass die zweifache Perspektivität der Sprechrichtung mit ihrer direkten Anrede an JHWH einerseits sowie der Rede über JHWHs Rettungstaten andererseits ein Charakteristikum der Danklieder darstellt, als weiterführend erwiesen.10

Die Rettungserzählung und der sich ggf. anschließende Ritualteil inszenieren daher ein gottesdienstliches Geschehen. Seine Funktion ist es, die göttliche Rettungstat in einer Gemeinschaft öffentlich zu bekennen. Der Beter erzählt lobpreisend von Gottes Taten und lässt die Zuhörenden an seiner Erfahrung teilhaben.

Das gottesdienstliche Geschehen zielt daher auf Partizipation. Diese ist zunächst auf den Beter selbst zu beziehen. Er hat wieder Anteil am Leben und kann wieder als Teil der Gemeinschaft agieren. Jetzt sind die in der Not erfahrenen Ausgrenzungsphänomene, wie z. B. das Jubeln der Feinde (Ps 30,2), überwunden, so dass er wieder von der Gemeinschaft anerkannt wird.

Die Partizipationserfahrung gilt aber auch der Gemeinschaft. So heißt es z. B. am Ende von Ps 22: »Dann will ich deinen Namen meinen Brüdern erzählen, inmitten der Gemeinde will ich dich preisen.« (Ps 22,23), denn im Danklied partizipiert die Gemeinschaft an der göttlichen Präsenz und damit an der gefeierten Rettungsgewissheit des Beters, die auf diese Weise auch für sie zu einer heilvollen Zukunftsperspektive wird.11

Auf dieser formgeschichtlichen Basis hat das Danklied die Psalmenforschung in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigt. Dabei standen die kulturanthropologischen Aspekte der Dankbarkeit12 ebenso im Vordergrund des Interesses wie die Beschäftigung mit den Ritualelementen oder die Rettungsschilderung selbst. Die m. E. ertragreichste Arbeit an den Dankliedern der letzten Jahre ist mit dem Tübinger Alttestamentler Bernd Janowski verbunden, da dieser die formgeschichtlichen Weichenstellungen Gunkels anthropologisch und theologiegeschichtlich weitergeführt hat. Unter Aufnahme der kulturanthropologischen Debatte um Dankbarkeit unter dem Aspekt der sogenannten »Wiedervergeltung« und dem Aspekt des »Füreinander-Handelns« hat er am Beispiel der Danklieder eine Theologie der Dankbarkeit entwickelt, in der neben der anthropologischen Dimension (Emotionen und Handlungsvollzüge) auch die theologische Voraussetzung der Dankbarkeit hervorgehoben wird. Es geht um die Unverfügbarkeit der erfahrenen Rettung, auf die der Beter mit Danklied und Dankopfer reagiert. Indem – so formuliert es Janowski – »die Toda-psalmen Gott als Retter preisen und Wege zur kultischen und sozialen Reintegration des Geretteten weisen, machen die Dankpsalmen jene unverfügbaren Voraussetzungen explizit und erinn ern damit an Bindungen, die nicht nur die soziale Praxis fun-dieren, sondern grundsätzlicher noch ein neues Verständnis des menschlichen Lebens eröffnen«13.

Somit sind m. E. zunächst zwei Aspekte des Dankliedes hervorzuheben. Erstens wird durch die formgeschichtliche Bestimmung des Danklieds deutlich, dass die gottesdienstliche Inszenierung göttlicher Rettungserfahrung darauf zielt, im Erzählen die Not und Rettung erneut zu vergegenwärtigen, so dass sie für den Beter und die Festgemeinde erlebbar wird. Zweitens wird auf der Basis der kulturanthropologischen Konzeptionen von Dankbarkeit für die alttestamentlichen Danklieder das Moment der Unverfügbarkeit als Voraussetzung der Dankbarkeit profiliert. Diese beiden Aspekte sind meiner Ansicht nach mit einer weiteren Richtung der jüngeren Psalmenforschung zu verknüpfen, die mit dem Stichwort der Psalterexegese umrissen werden kann.14 Bereits Gunkel hatte den Prozess beobachtet, dass sich die Dankpsalmen »von dem Opferdienst, in dem ihre Dichtung bisher aufgewachsen war, lossagten«, so dass »aus dem Dankopferlied das geistliche Danklied entstand«.15 Damit sind die späten Danklieder aber nicht mehr für den kultischen Gebrauch, sondern als literarische Texte für ihren Buchkontext konzipiert worden, so dass sich auch ihre Rezeptionspraxis verändert. Fritz Stolz spricht in diesem Zusammenhang von nachkultischen Psalmen, deren elementare Intentionen sich durch Vergewisserung und Unterweisung auszeichnen.16 Über Stolz hinaus ist zudem der literarische Charakter der Gebete zu betonen, aufgrund dessen die Danklieder aus dem Kommunikationszusammenhang begrenzter und vergänglicher sozialer Gruppen gelöst, über raum-zeitliche Grenzen hinaus gespeichert und schließlich wieder aufgenommen werden.17 Zugespitzt wird dieser Prozess durch ihre Kanonisierung, wodurch ihr Status als Verschriftlichung kulturell relevanter Gebete über die Zeiten hinweg in unterschiedlichen Aktualisierungen erhalten bleibt. Durch die Form der Texte als Psalmengebete wird somit zwar ihr kultischer Primärzusammenhang metaphorisch beibehalten,18 ohne dass sie aber einen real vollzogenen Tempelkult voraussetzen.19 Vielmehr wird der Tempelkult zum Basissymbol der Texte und stellt den metaphorischen Bezugsrahmen dar, in dem das Danklied inszeniert wird.20

Diese drei Aspekte – die formgeschichtliche Bestimmung der Danklieder (1), ihre kulturanthropologischen und theologiegeschichtlichen Konkretisierungen (2) sowie die Entwicklung der Danklieder zum literarischen Produkt (3) – stellen den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zu den späten Dankliedern als Ort theologischer Reflexion dar, um anhand von Ps 116 den in den Dankliedern vollzogenen Prozess als Beispiel für die Theologiebildung später Psalmen zu beschreiben.

II Ps 116 – ein Danklied par excellence?


Nach der Ansicht vieler, vor allem älterer Kommentatoren ist Ps 116 als ein typisches Danklied zu beschreiben, dessen einzelne Elemente zwar – so liest man z. B. bei Gunkel, Franz Delitzsch oder Klaus Seybold – in Unordnung geraten seien, dies aber nichts an der zu rekonstruierenden Grundstruktur eines Danklieds ändere.21 Hinterfragt worden ist die Klassifizierung von Ps 116 als typisches Danklied im Zusammenhang der kontroversen Auslegungen des Psalms durch Herrmann Spieckermann und Bernd Janowski, durch die grundlegende Fragen zum Verständnis des Psalms deutlich geworden sind.22 Während Janowski den Zusammenhang von Danklied bzw. Rettungserzählung und Dankopfer bzw. Ritualelementen profiliert und damit Ps 116 als ein typisches Danklied beschreibt,23 weist Spieckermann zu Recht darauf hin, dass in Ps 116 »kein Ritualablauf den Text gesteuert [hat], sondern ein bestimmter theologischer Aussagewillen«24. Dementsprechend fokussiert er anhand der markant positionierten Verben »lieben« (בהא) in V. 1 und »festhalten/glauben« (ןמא) in V. 10 die theologische Kontur des Psalms,25 die für das Alte Testament analogielos prononciert ins Zentrum der Gottesbeziehung gestellt wird.26

Diese beiden Positionen machen deutlich, dass ein Zugriff auf den Text von der Form des Danklieds her zu anderen Ergebnissen kommt als ein in erster Linie theologisch geleitetes Interesse an dem Psalm. Aber genau an diesem Punkt entzündet sich m. E. die Frage, wie diese Kombination in Ps 116 von Danklied und theologischer Reflexion als spezifisches Profil des Psalms erfasst werden kann, denn bereits nur der Blick auf die Formelemente und die markant positionierten Verben »lieben« (בהא) und »festhalten/ glauben« (ןמא) zeigt, dass der Psalm die Form des Danklieds und eine theologische Reflexion zu einer produktiven Symbiose verbindet, so dass über ein typisches Danklied hinausgehende Deutungshorizonte eröffnet werden. Um diese Spezifika von Ps 116 erschließen zu können, ist zunächst die Struktur von Ps 116 zu skizzieren.

III Ps 116 – Komposition und Reflexion


Vor dem Hintergrund der formgeschichtlichen Grundierung des Psalms ist von einer Zweiteilung des Psalms in ein Danklied in V. 1–11 und einen Dankopferteil in V. 13–19 auszugehen,27 wobei V. 12 eine Überleitung vom Danklied zum Dankopferteil darstellt.

Der erste Teil ist durch die beiden absolut stehenden Verben »lieben« (בהא)28 und »festhalten/glauben« (ןמא Hif.)29 strukturiert. In V. 1 und V. 10 heißt es:

1 Ich liebe (es/ihn),

denn JHWH hört

meine Stimme, mein Gnadengesuch.

2 Ja, er hat mir sein Ohr zugeneigt

und in meinen Tagen will ich rufen

10 Ich glaube,

ja,30 ich sage:

»Ich bin/war tief gebeugt.«

11 Ich sprach (spreche hiermit) in meinem Zittern:

»Alle Menschen sind Lügner.«

Auffallend ist zunächst, dass statt des zu erwartenden Objekts auf die beiden Verben »lieben« (בהא) und »festhalten/glauben« (ןמא) jeweils ein weiterführender bzw. ein begründender יכ-Satz folgt, durch den die Verben konkretisiert werden.31 In V. 1 folgt das Hö­ren JHWHs auf die Stimme des Beters und in V. 10 folgt ein Selbstzitat: »ja, ich sage: ›Ich bin tief gebeugt.‹« In diesem Sinn bilden die pointiert gesetzten Verben den Rahmenteil um die in V. 3–9 be­schriebene Rettungserzählung.

Als Abschluss der Rettungsschilderung reflektiert der Beter in V.  11 grundsätzlich die conditio humana: »Alle Menschen sind Täuschende.« Diese steht im Kontrast zu der Verlässlichkeit und Zugewandtheit JHWHs am Beginn des Psalms in V. 1–2.

Die durch diese beiden Verse gerahmte Rettungserzählung in V. 3–9 beschreibt den Weg des Beters von der Unterwelt/Scheol in V. 3 zu den Ländern der Lebenden in V. 9, wodurch eine Bewegung in der Vertikalen von unten nach oben nachgezeichnet wird.32

3 Umfangen haben mich Schlingen des Todes,

und Bedrängnisse der Unterwelt haben mich angetroffen.

Bedrängnis und Kummer treffe ich (andauernd) an.33

4 Und den Namen JHWHs rufe/rief ich (unentwegt) an:

»Ach JHWH, lass mein Leben entkommen.«

5 Gnädig ist JHWH und gerecht,

und unser Gott ist ein Erbarmer

6 ein Hüter von Einfältigen ist JHWH.

Ich war niedrig und er rettete mich.

7 Kehre zurück mein Leben zu deiner Ruhe,

denn JHWH hat an dir gehandelt.34

8 Ja, du hast herausgezogen (befreit) mein Leben vom Tod,35

mein Auge von Tränen, meinen Fuß vom Sturz.

9 Ich werde umhergehen vor JHWH,

in den Ländern der Lebenden.

Die Rettungserzählung weist drei Teile auf. Sie beginnt in V. 3–4 mit der Notschilderung, die in grundsätzlicher Weise die Todesnot des Beters benennt. Die Bedrängnisse der Unterwelt und die Schlingen des Todes haben den Beter gefangen. Unterbrochen wird die Rettungserzählung in V. 5–6a durch ein Bekenntnis zu JHWH als gnädig, gerecht und Erbarmer. Dem schließt sich in V. 6b–9 die Rettungsschilderung an: JHWH hat den Beter herausgezogen vom Tod, so dass er nun wieder in den Ländern der Lebenden wandelt. Nachdem die Todesnot überwunden ist, fragt der Beter in dem zum Dankopferteil überleitenden V. 12, wie er Gott all seine Wohltaten an ihm vergelten könne. Die Antwort wird im zweiten Teil mit den Ritualhandlungen gegeben.

13 Den Becher der Rettungstaten will ich erheben

und den Namen JHWHs will ich ausrufen.

14 Mein Gelübde will ich JHWH erfüllen

ja, gegenüber36 seinem ganzen Volk.

15 Teuer in den Augen JHWHs

ist der Tod37 seiner Frommen.

16 Ach JHWH, ja ich bin [doch] dein Knecht,

ich bin dein Knecht, das Kind deiner Magd,

du hast geöffnet meine Fesseln.

17 Dir will ich ein Toda-Opfer schlachten,

und den Namen JHWHs will ich ausrufen.

18 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen

ja, gegenüber seinem ganzen Volk,

19 in den Vorhöfen des Hauses JHWHs,

in deiner Mitte, Jerusalem.

Hallelu-JH38

Auch dieser Teil weist klare Kompositionsstrukturen auf. Auffallend ist die konzentrische Anordnung in V. 13–14 und V. 17–18.39 Sie nennen in ihrem ersten Teil jeweils eine Ritualhandlung (den Becherritus in V. 13a und das Dankopferschlachten in V. 17a). Darauf folgt die An- bzw. Ausrufung des Namen JHWHs in V. 13b und V. 17b sowie in V. 14 und V. 18 in exakt gleichem Wortlaut die Erfüllung des Gelübdes. Im Zentrum dieses Abschnittes in V. 15–16 stehen allgemeingültige Aussagen, in denen die Gott-Mensch-Beziehung thematisiert wird. Abgeschlossen wird der Teil in V. 19, in dem nun der Ort der Gottespräsenz expliziert wird. Die Ritualhandlungen finden im Tempel statt, der in der Mitte Jerusalems steht. Damit wird der Argumentationsbogen der im ersten Teil bereits angelegten Tempelmetaphorik (der Ruhe V. 7, des Wandelns vor JHWH in den Ländern der Lebenden V. 9) abgeschlossen und der Tempel als Ort intensiver Lebensqualität deutlich herausge-hoben.

Somit lassen sich gleich mehrere Besonderheiten des Psalms an der Strukturbeschreibung ablesen: Neben den ohne Objekt verwendeten Verben in V. 1 und V. 10 fallen sofort die Verse auf, in denen grundsätzliche Aussagen über die Wirkweise Gottes (V. 5–6a), die conditio humana (V. 11) sowie über die Gott-Mensch-Beziehung (V. 15–16) getroffen werden. Dabei ist wiederum auffallend, dass diese Verse mit den typischen Elementen des Danklieds, wie der Rettungsschilderung in V. 3–4.6b–9 und den Ritualhandlungen in V. 13–14.17–18, kompositorisch verzahnt sind. Am deutlichsten wird dies anhand der konzentrischen Struktur der Ritualelemente, die die Aussage über die Gott-Mensch-Relation rahmen. Durch diese Verzahnungen entstehen Deutungsoptionen, die so ineinander gespiegelt werden, dass sie das spezifische Reflexionspotential des Psalms freisetzen. Sie eröffnen neue Deutungshorizonte im Hinblick auf das Danklied selbst als Produkt später Psalmenliteratur, im Hinblick auf die Anthropologie und Theologie später Psalmen, aber auch im Hinblick auf die Komposition und Redaktion des Psalters.

IV Das Danklied in Ps 116 als Ort theologischer Reflexion


In den Blick genommen werden daher im Folgenden die drei grundsätzlichen Aussagen über Gott in V. 5–6a, die conditio humana in V. 11 und die Gott-Mensch-Relation in V. 15–16. Dabei handelt es sich jeweils um Aussagen von ganz unterschiedlicher Art. Findet sich in V. 5–6a ein Bekenntnis zur Wirkweise JHWHs, lässt sich die Aussage in V. 11 eher als eine Erkenntnis der conditio humana beschreiben. Die V. 15–16 sind wieder anders gestaltet. In V. 15 wird zunächst die Grenze der Gott-Mensch-Relation beschrieben, auf die eine Bitte folgt, diese Grenze zu achten und gerade nicht zu überschreiten. Gemeinsam ist diesen Versen aber wiederum ihre Verzahnung mit den Elementen des Dankliedes, durch die ihr Reflexionspotential freigesetzt wird.

1. Das Bekenntnis zu JHWH als gnädigem Gott


Auffällig ist zuallererst seine Platzierung. Denn das Bekenntnis in V. 5–6a ist zwischen Not- und Rettungsschilderung eingefügt, so dass der narrative Zusammenhang unterbrochen wird. Allein schon aufgrund dieser Platzierung kommt dem Bekenntnis die entscheidende theologische Begründungsstruktur für die erfahrene Rettung zu.

Zugleich nimmt der Beter mit dem Bekenntnis zu JHWH als gütigem und gerechtem Gott eine der zentralen Bekenntnisformeln im Alten Testament auf, mit der die Göttlichkeit JHWHs charakterisiert wird. Er rekurriert auf die sogenannte Gnadenformel aus Ex 34,6–7, »JHWH, JHWH, gnädig und barmherzig ist Gott, lang zum Zorn und reich an Güte und Treue«, die im Alten Testament eine reichhaltige Rezeptionsgeschichte entfaltet hat.40 Entscheidend für das Verständnis der Formel ist hier aber die eigenständige Formulierung des Psalmisten, die sich von der älteren vorgegebenen Formulierung aus Ex 34,6–7 unterscheidet, so dass die Transformation der Formel in Ps 116 als eine freie Variation und Interpretation zu beschreiben ist. Dabei unterscheidet sich die Interpretation der Gnadenformel in Ps 116 von der in Ex 34,6–7 durch drei Aspekte: a) In die Reihung zur Beschreibung des Wesens Gottes wird das Adjektiv gerecht ( קידצ) aufgenommen.41 JHWH ist in Ps 116,5 gnädig und gerecht und nicht wie in Ex 34,6 gnädig und barmherzig und lang zum Zorn. b) Das Adjektiv barmherzig (םוחר Ex 34,6) wird durch das Partizip erbarmend (םחרמ) ersetzt. c) Das langsame Zornigwerden aus Ex 34,6 wird nicht rezipiert.42

Die augenfälligste Differenz zwischen der Gnadenformel in Ps 116 und Ex 34,6–7 liegt zunächst im Verzicht auf den Aspekt des göttlichen Zorns,43 der für den narrativen Kontext von Ex 32–34 konstitutiv ist, denn JHWHs Reaktion auf das gusseiserne Kalb als fundamentale Abkehr Israels von seinem Gott in Ex 32–34 zeichnet sich gerade dadurch aus, dass in der Formel die göttliche Güte und der göttliche Zorn derart ins rechte Verhältnis gesetzt werden, dass Güte und Zorn keine gleich wichtigen Kräfte in JHWH selbst sind.44 Stattdessen wird in der Gnadenformel in verdichteter Weise festgehalten, dass die Güte und Barmherzigkeit JHWHs grundsätzlich sein Handeln bestimmten, ohne aber gänzlich von der Schuld Israels abzusehen. Letztere wird bis in die dritte und vierte Generation geprüft, während die göttliche Güte und Barmherzigkeit tausend Generationen gilt (Ex 34,7). Daher zielt die Gnadenformel in Ex 34,6–7 gerade darauf, die spannungsreichen und ambivalenten Erfahrungen von göttlicher Güte und Treue einerseits sowie die unheilvollen Erfahrungen des göttlichen Zorns und das Bewusstsein der Schuldverstrickungen Israels andererseits so zu verdichten, dass die Vorrangigkeit der Barmherzigkeit JHWHs vor seinem Zorn sein Handeln bestimmt. Dagegen ist in Ps 116 dieser Bedeutungshorizont nicht von Interesse. Daher wird also nur die eine Seite der Gnadenformel rezipiert, und zwar diejenige, die Gott als gnädig und barmherzig darstellt.

In diesem Zusammenhang ist auch die der ursprünglichen Formel zugefügte Charakterisierung des gerechten Handelns JHWHs zu nennen. Sie impliziert, dass JHWH wieder ins Recht setzt, wie es auch in Ps 11,7 formuliert wird: »Denn JHWH ist gerecht, er liebt gerechte Taten.«45 Damit wird die im Psalter verbreitete Vorstellung, dass JHWH wieder ins Recht setzt, in Ps 116 zu einer seiner grundlegenden Eigenschaften. Diese königsideologische Vorstellung impliziert, dass JHWH selbst seine Gerechtigkeit durchsetzen kann und sie verbürgt. Indem also in Ps 116,5 die Gnadenformel um das Attribut »gerecht« ergänzt wird, wird JHWH als oberster Richter herausgestellt, der selbst gerecht ist und ins Recht setzt.46

Über die Fokussierung der Gnadenformel auf das erbarmende und gerechte Handeln hinaus ist zudem die Pluralbildung in V. 5 bedeutsam: »Unser Gott ist ein Erbarmer.« Mit dieser Formulierung in der ersten Person Plural wird die bisher strikt durchgehaltene individuelle Perspektive des Psalms geöffnet. Der Beter identifiziert sich als Teil des Gottesvolkes, dem die Gnadenformel vom Sinai her gilt. Mit der Aufnahme der Gnadenformel stellt er sich in die Geschichte seines Volkes. Dabei ruft er einen Punkt in der Ge­schichte Israels in Erinnerung, an dem die Existenz des Gottesvolks aufgrund eigenen Verschuldens auf dem Spiel stand, denn am Si-nai ist Israel allein aufgrund des gnädigen und erbarmenden Handelns JHWHs eine Zukunft als Gottesvolk ermöglicht worden. Diese Erfahrung ist es, die der Beter auch für sich in Anspruch nehmen kann, weil sich JHWH als ein gnädiger und gütiger Gott er­wiesen hat. Der Beter ruft hier also eine Kollektiverfahrung von Todes-nähe auf, die JHWH aufgrund seiner Barmherzigkeit zum Guten gewendet hat. Auf diese Weise wird die Erfahrung der Barmherzigkeit JHWHs am Sinai zu einer Blaupause für die individuelle Rettungserfahrung des Beters, indem das Ich des Beters mit dem Wir des Gottesvolks verschränkt wird.

Somit gibt diese geschichtstheologische Verortung der im bis-herigen Psalm allgemein menschlichen Erfahrungsdimension eine spezifische Note, indem die am Sinai grundgelegte personale Bezie-hung zwischen Gott und Volk zur tragenden Gottesbeziehung des einzelnen Beters wird. Indem die Gnadenformel zwischen Notschilderung und Rettungserzählung platziert wird, wird deutlich unterstrichen, dass die um die Gerechtigkeit JHWHs ergänzte Gnadenformel die theologische Begründung des Danks in Ps 116 darstellt.

Die Rezeption der Sinaiperikope entfaltet über den Einzelpsalm 116 hinaus eine Bedeutungsdimension, die von Ps 116 her der ge­samten Psalmengruppe Ps 113–118, dem sog. ägyptischen Hallel, eine zweite geschichtstheologische Fundierung einschreibt.47 Durch diese wird die die Psalmengruppe insgesamt prägende Rettungs-erfahrung am Schilfmeer aus Ex 15 ergänzt, wie sie vor allem im zweiten Danklied Ps 118 sowie in der Psalmengruppe 113–115 durch die Mittelstellung des Exoduspsalms 114 rezipiert wird.48 Damit wird der Rettung am Schilfmeer aus Ex 15 mit Ps 116 ein zweites Gründungsereignis zur Seite gestellt. Erst die Rezeption der Gnadenformel enthält nämlich die Reflexion, dass JHWHs Handeln stets von seiner Güte bestimmt und auf diese Weise für Israel als Gottesvolk stets verlässlich ist. Auf diese Weise wird die rettende Macht des Königsgottes am Schilfmeer durch die Qualität seines Handelns als gnädiger und gütiger Gott qualifiziert.

2. Die Erkenntnis der conditio humana


Dieser theologischen Reflexion folgt nun eine Erkenntnis der conditio humana, die kontrastreicher kaum ausfallen könnte. Das in der Vergangenheit erlebte Gebeugtsein, die damals erlebte Bedrohung des Lebens, die Todesschlingen haben den Beter zu einer Erkenntnis der conditio humana geführt, die ihn nahezu erschüttert. Alle Menschen sind trügerisch, unzuverlässig, lügnerisch (בזכ). Mit Martin Klopfenstein ist als Grundaussage des Verbs zunächst einmal »lügen=trügen, täuschen, Erwartungen nicht erfüllen« zu verstehen.49 Die spezifische Bedeutung für Ps 116 ist aber im Kontext des Psalms zu erheben. Denn die Aussage, dass alle Menschen lügen und unzuverlässig sind, steht im scharfen Kontrast zum Handeln Gottes, der sich als verlässlicher Retter aus Todesnot erwiesen hat. In diesem Kontext zielt die Aussage über die Menschen also nicht auf eine einzelne Tat. Sie charakterisiert stattdessen prinzipiell das Verhalten des Menschen an sich.50 Auch Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger betonen, dass mit dieser Aussage keine moralische Qualität menschlicher Existenz gemeint sei. Vielmehr wird in Ps 116 nüchtern konstatiert, dass Lügen, Trügen, Täuschen zum Wesen des Menschen gehören. Der Mensch ist eben nicht wie Gott; er ist unzuverlässig und hilft nicht.51

Mit dieser Erkenntnis ist aber ein Aspekt menschlicher Existenz expliziert, der bereits in der Narration der Not in V. 3–4b zum Ausdruck kam. Wenn alle Menschen unzuverlässig sind, dann bedeutet dies, dass es sich hierbei nicht um eine einmalige Bedrohung handelt, sondern um eine ständige Bedrohung des Lebens. Daher ist der Tempusgebrauch der Rettungsschilderung hier aufschlussreich. Während die Bedrohung durch Tod und Unterwelt in der Vergangenheit in V. 3a als bereits erfahrene Not geschildert wird, ist V. 3b durch die Präformativkonjugation iterativ zu verstehen. Damit wird die permanente Bedrohung des Lebens durch den Tod zum Ausdruck gebracht. Entsprechend reduziert sich die Anrufung JHWHs in V. 4 auch nicht auf die Vergangenheit, sondern be­zieht die stetigen Todesbedrohungen des Lebens in der Gegenwart mit ein. Vorausgesetzt ist hier das von Christoph Barth profilierte Todesverständnis der Individualpsalmen,52 nach dem der Tod mitten im Leben präsent ist. Demnach ist der Raum des Todes, d. h. der Scheol (V. 3), nicht auf einen zugewiesenen Raum für die Toten beschränkt, sondern als dynamische Größe zu verstehen, die die Grenze der Lebenswelt ständig übertreten kann. Das hat zur Konsequenz, dass sich das Verständnis von Totsein nicht in physischem Sterben und biologischem Tod erschöpft.53 Gleichzeitig aber differenzieren die Psalmen zwischen dem vom Tod bedrohten Beter und dem physisch dauerhaft Toten, so dass nach Barth der Bedrängte die Wirklichkeit des Todes nicht im vollen Ausmaß erfährt. Er erfährt sie in Form leiblicher und seelischer Zerstörung, gemeinschaftlicher Isolation und wehrlosem Ausgeliefertsein etc.54 Insofern ist die »Lage des Bedrängten […] mit derjenigen des Toten vergleichbar; sie ist ihr aber nicht gleich«55.

In diesem Sinn kommt der negativen Erkenntnis der conditio humana als Abschluss des ersten Teils ein Achtergewicht zu. Sie bleibt als Lebenserfahrung ein ständiger Begleiter des Beters. Gleichzeitig entfaltet sie nur im Zusammenhang mit dem Be­kenntnis zur Güte Gottes und der gemachten Rettungserfahrung ihren vollen Bedeutungsumfang.

3. Die Gott-Mensch-Relation auf der Grenze


Auf die Reflexion der Wirkweisen Gottes und der conditio humana folgt die Reflexion über die Gott-Mensch-Relation in V. 15–16, die in den Ritualteil eingewoben ist. Bereits ihre Positionierung ist aussagekräftig, denn geht es in den Ritualhandlungen gerade um kultisch erfahrbare Gottesnähe, d. h. um das Erleben einer heilvollen Gott-Mensch-Beziehung, wird diese nun im Zentrum der Komposition in ihren Ambivalenzen und Grenzen reflexiv ausgelotet.

Als den Text rahmende Ritualelemente werden das Erheben des Bechers der Rettungstaten (תועשׁי־סוכ) in V. 13 sowie das Schlachten des Toda-Opfers (הדות חבז) in V. 17 genannt. Insbesondere über das Becherritual ist in jüngster Zeit viel diskutiert worden.56 Zieht man die von Dominik Bonatz untersuchten, im nordsyrisch-süd-anatolischen Raum gefundenen eisenzeitlichen Grabdenkmäler, die eine sitzende Figur mit einer emporgehobenen Schale zeigen,57 als religionsgeschichtlichen Hintergrund heran, so wird das Trinken des Verstorbenen zu einer der wenigen, essentiell notwendigen Handlungen, die dessen Fortexistenz garantieren.58 Wenn man dieses ikonographische Setting auf Ps 116,13 überträgt, bedeutet dies, dass durch das Erheben des Bechers und das Trinken aus dem Becher die Fortexistenz des Geretteten bezeugt wird.59 Dabei handelt es sich im Unterschied zu den Grabdenkmälern nicht um den Verstorbenen im Jenseits, sondern um den aus den Fängen des To­des Geretteten, der jetzt wieder unter den Lebenden und so (auch) in der Nähe JHWHs wandelt. Das Erheben des Bechers und Trinken aus dem Becher dient somit als Zeichen der Errettung vom Tod.60

Auch die symbolische Qualität des Toda-Opfers greift die Le­bensmetaphorik auf. Im Fokus steht hier die Mahlfeier der Ge­meinschaft, in der die Rettung des Einzelnen für die Gemeinschaft zu einer zukunftsweisenden Perspektive wird.

Im Rahmen dieser kultisch inszenierten Lebensfülle wird die Grenze der Gott-Mensch-Beziehung eingespeist. So wird in V. 15 aus heutiger Sicht nahezu abstoßend formuliert: »Teuer ist in den Augen JHWHs der Tod seiner Frommen.« Wie ist diese Aussage zu verstehen? Meint sie, dass der Tod der Frommen für JHWH teuer bzw. kostbar ist im Sinne eines Märtyrertodes? Oder andersherum: Ist das Leben der Nicht-Frommen wertlos? Betrachtet man zu­nächst die Semantik von teuer (רקי), dann entfaltet sie ein Be­deutungsspektrum von »kostbar, teuer, wertvoll« bzw. »teuer, kostbar, wertvoll sein«, mit dem merkantile Qualitätsmarkierungen von hoher Qualität und geringer Quantität verbunden sind, um die Kostbarkeit einer Sache oder Person zu umschreiben.61 Vor diesem Hintergrund würde der Tod der Frommen bzw. des Beters Gott deswegen so teuer zu stehen kommen, weil die Toten aufgrund des Abbruchs jeder personaler Beziehungen JHWH nicht mehr preisen und seine Taten nicht mehr bezeugen können. Damit verlöre Gott einen »treuen Zeugen seiner Macht«.62 Es geht in dieser Aussage also um eine Grenzaussage der Gott-Mensch-Beziehung, mit der nicht die Kostbarkeit des Todes, sondern die Kostbarkeit des Lebens des Beters intendiert ist.63 Zugleich bedarf diese Aussage weiterer Explikationen, wie sie dann im nächsten Vers vorgenommen werden. Mit einem Appell richtet sich der Beter an JHWH und setzt die Beziehung Gott-Mensch als Herr-Knecht-Relation ins rechte Verhältnis.64 Als treuer Knecht fordert der Beter die Fürsorgepflicht seines Herrn ein und bekennt sich zugleich zu seinem Herrn. Diese göttliche Fürsorgepflicht ist in Ps 116 aber schon mit der Gnadenformel in V. 5–6 in grundsätzlicher Weise entfaltet worden.65 Sie stellt, wie oben gezeigt, die Begründungsstruktur für das rettende Handeln JHWHs dar. Auf der Basis der Gnadenformel kann der Beter begründet darauf hoffen, dass JHWH seiner Fürsorgepflicht nachkommt und sich ihm immer wieder zuwendet.

Vor diesem Hintergrund sind der Becher der Rettungstaten sowie das Schlachten des Toda-Opfers aber nicht nur eine Kontrastfolie für die formulierte Grenzaussage der Gott-Mensch-Relation. Sie bieten dem Beter vielmehr die Gewissheit, dass es sich bei seiner Argumentation um wirkliche Grenzaussagen handelt, die von einer anderen, nämlich lebensgesättigten Erfahrungswirklichkeit her gewonnen werden.

V Fazit


Es dürfte also deutlich geworden sein, dass es sich in Ps 116 um einen Reflexionstext handelt, in dem in verdichteter Sprache Grundfragen über Gott und Mensch mit den Elementen eines Dankliedes verzahnt werden. Darin vollzieht sich Theologiebildung und es eröffnen sich neue Deutungshorizonte. Dies ge­schieht:

– indem erstens das Bekenntnis zu JHWH als gnädigem Gott die theologische Begründungsstruktur sowie die geschichtstheologische Fundierung für die erfahrene und erzählte Rettung des Beters darstellt;

– indem zweitens aufgrund der Erkenntnis der conditio humana in V. 11 die ständige Bedrohung des Lebens profiliert und in die Erfahrung von Not und Rettung eingebettet wird;

– indem drittens die Grenzaussage dazu dient, die Gott-Mensch-Relation auszuloten. Im Feiern der Erfahrung, dass sich JHWH als Herr seinem Knecht gegenüber verantwortlich gezeigt hat und dieser seinen Gott als Retter bezeugt, kann die Grenze der Gottesbeziehung formuliert werden. Deswegen ist das Leben des Frommen für Gott wertvoll und sein Tod teuer.

Somit entfalten diese unterschiedlichen Prozesse von Theologiebildung das Deutungsspektrum des Psalms und machen das Danklied in Ps 116 auf diese Weise zu einem Ort theologischer Reflexion.

Abstract


To be rescued from a situation of greatest distress constitutes the experience behind the Old Testament songs of thanksgiving. In the course of their transmission, the songs of thanksgiving have undergone transformation processes, through which they become literary products in the Persian-Hellenistic period. These late songs of thanksgiving are now characterized by the fact that they theologically reflect on these experiences of salvation in the context of their own tradition. Ps 116, a psalm often described as a song of thanksgiving par excellence, can serve as an example of a reflective text that interweaves anthropological and theological questions with the form-historical elements of a song of thanksgiving. In this way, the late songs of thanksgiving are an example of the formation of theology in the Psalter.

Fussnoten:

1) Der folgende Beitrag stellt eine leicht überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung dar, die ich im Sommersemester 2016 an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock gehalten habe.
2) Zu den in jüngster Zeit intensiv diskutierten Opfertermini im Alten Tes-tament vgl. Willi-Plein, I., Ein Blick auf die neuere Forschung zu Opfer und Kult im Alten Testament, VF 56 (2011), 16–33; vgl. weiter die grundsätzlichen kulturanthropologischen Überlegungen zum Opfer von Eberhart, Chr., Opfer und Kult in kulturanthropologischer Perspektive, VF 56 (2011), 6–16, sowie die Diskussion um das Verständnis des Opfers als Gabe, ders., Das Opfer als Gabe, Geben und Nehmen, JBTH 27, Neukirchen-Vluyn 2012, 93–120.
3) Zur formgeschichtlichen Bestimmung der Danklieder vgl. hierzu Gunkel, H./Begrich, J., Einleitung in die Psalmen. Die Gattung der religiösen Lyrik Israels, Göttingen 21966, 172–292, sowie Hartenstein, F./Janowski, B., Art. Psalmen/Psalter, RGG4 VI, 2003, 1761–1777. Zur Antwortstruktur des Beters vgl. Rad, G. v., Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 61969, 366–382, sowie Janowski, B., Dankbarkeit. Ein anthropologischer Grundbegriff im Spiegel der Toda-Psalmen, in: Ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 267–312.
4) Vgl. Gunkel, Einleitung, 265–292.
5) Vgl. Gunkel, Einleitung, 265–273.
6) Vgl. hierzu die Ausführungen bei Gunkel, Einleitung, 269.
7) Zum Schlachtopfer vgl. Willi-Plein, Blick, 16–33.
8) Vgl. schon Gunkel, Einleitung, 270.
9) Crüsemann, F., Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel, WMANT 32, Neukirchen-Vluyn 1969, 210–284.
10) Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. Tita, H., Gelübde als Bekenntnis. Eine Studie zu den Gelübden im Alten Testament, OBO 181, Freiburg u. a. 2001, 109–118.
11) Diesen Zusammenhang stellt auch Gunkel, Einleitung, 275, heraus, der zudem betont, dass die Festgemeinde, in ähnlichen Nöten wie der Beter, aus dem, was sie jetzt hören und sehen, aufs Neue Vertrauen und Freude schöpfen könnte.
12) Zur kulturanthropologischen Diskussion in der alttestamentlichen Wissenschaft vgl. den Überblicksartikel von Grund, A., Kulturanthropologie und Altes Testament, ThLZ 141 (2016), 873–886, besonders 877–879, in dem sie die Bedeutung dieser wissenschaftlichen Betrachtung unter anderem am Beispiel der Gabe und des Opfers exemplifiziert.
13) Janowski, Dankbarkeit, 273 f.
14) Zu verweisen ist hier auf den von Zenger, E., Psalmenexegese und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: Ders. (Hrsg.), The Composition of the Book of Psalms, BEThL CCXXXVIII, Leuven 2010, 17–65, präsentierten Überblick über die Kompositions- und Redaktionsstrukturen im Psalter.
15) Gunkel, Einleitung, 278.
16) Vgl. hierzu auch Stolz, F., Psalmen im nachkultischen Raum, ThSt 129, Zürich 1983, 27–29. Stolz beschreibt diesen Prozess als Übergang von einer Kultgewissheit zur Glaubensgewissheit, wodurch Vergewisserung und Unterweisung zu den zwei grundlegenden Vorgängen in den nachkultischen Psalmen werden.
17) In diesem Zusammenhang ist auf die Funktion kultureller Gedächtnisse zu verweisen, wie sie z. B. bei Erll, A., Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: Nünning A./Nünning V. (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2003, 156–185, besonders 177, beschrieben ist. Assmann, A., »Was sind kulturelle Texte?«, in: Poltermann, A. (Hrsg.), Literaturkanon – Medien-ereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995, 232–243, besonders 241–243, spricht in diesem Zu­sammenhang von einem kulturellen Text, den sie von literarischen Texten abhebt. Unter kulturellen Texten versteht sie Texte mit einem Anspruch auf eine verbindliche, unhintergehbare und zeitliche Wahrheit. Adressaten kultureller Texte sind Repräsentanten eines Kollektivs, die durch die Rezeption des Textes ihre Zugehörigkeit zur Traditionsgemeinschaft bestätigen. Demgegenüber handelt es sich bei literarischen Texten um Texte, die an das autonome Subjekt gerichtet sind und keinerlei Anspruch an einen überzeitlichen Wahrheitsanspruch haben.
18) Zur Debatte um die Metaphorisierung des Psalters vgl. den Überblick über die Forschungslage von Hartenstein, F., »Spiritualisierung« oder »Metaphorisierung«? Zur Erforschung der Transformation von Kultbegriffen in den Psalmen, VF 56 (2011), 52–58.
19) Vgl. hierzu ausführlich Gärtner, J., Die Geschichtspsalmen. Eine Studie zu den Psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 als hermeneutische Schlüsseltexte im Psalter (FAT 84), Tübingen 2012, 29–33.
20) Vgl. hierzu auch Janowski, B., Ein Tempel aus Worten. Zur theologischen Architektur des Psalters, in: E. Zenger (Hrsg.), The Composition of the Book of Psalms, BEThL 238 (2010), 279-306, der in diesem Zusammenhang vom Psalter als Tempel aus Worten spricht.
21) Vgl. Gunkel, H., Die Psalmen. Übersetzt und erklärt von Hermann Gunkel, Göttingen 61986, 500; Delitzsch, F., Commentar über das Buch Jesaja, BC III/I, Leipzig 41889, 698. Auch Seybold, K., Die Psalmen, HAT 1.15, Tübingen 1996, 454, geht von einem »verwitterten Zustand« des Psalms aus, der durch Umstrukturierungen und Übermalungen der Grundstruktur geprägt sei.
22) Vgl. Spieckermann, H., Lieben und Glauben. Psalm 116 als Schlüssel zur Theologie des Gebets, in: Ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, FAT 91, Tübingen 2014, 286–300, sowie Janowski, Dankbarkeit, 274–287, sowie ders., Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 298–305.
23) Vgl. Janowski, Dankbarkeit, 279–287, dessen Exegese die Raum- und Zeitkonzeption des Psalms profiliert. Insbesondere die von Janowski profilierten differenzierten Zeitebenen der Rettungserzählung, die die vergangene Not als Vergangenheit 2, die in der Vergangenheit erfahrene Rettung als Vergangenheit 1 sowie die Auswirkungen dieser Rettungserfahrung für die Gegenwart und Zukunft des Beters aufzeigen, stellen das Reflexionspotential des Danklieds heraus.
24) Spieckermann, Lieben, 294.
25) In der Textüberlieferung der LXX hat diese markante Positionierung vermutlich zu der Zweiteilung des Psalms in Ps 114 LXX und Ps 115 LXX geführt. Vgl. hierzu weiter die Ausführungen bei Tita, Gelübde, 118–120. Nach Prinsloo, Psalm 116, 72, Anm. 7. Sie vermutet, dass diese Zweiteilung von Ps 116 mit der Entsprechung von Ps 116,8 f. mit dem Schluss von Ps 56,13 f. zu tun haben könnte. Ähnlich argumentieren auch Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, HThK AT, Freiburg u. a. 2008, 301. Zu der von Spieckermann vorgeschlagenen Gliederungsoption vgl. weiter Ehlers, Becheranteil, 51.
26) Spieckermann, Lieben, 299.
27) Zu weiteren Strukturanalysen vgl. Auffret, P., Essai sur la structure littéraire du Psaume 116, BN 23 (1984), 32–47; Prinsloo, S. P., Ps 116. Disconnected Text or Symmetrical Whole?, Bib. 74 (1993), 71–82; Barré, M., Psalm 116. Its Structure and its Enigmas, JBL 109 (1990), und Erbele-Küster, D., Atempause. Eine kleine Poetik des Gottesnamens ausgehend von Ps 116, in: Müllner, I., u. a. (Hrsg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an E. Zenger, HBS, Freiburg i. Br. 2012, 211–226.
28) Diese Verwendung des Liebesbegriffs ist im Psalter singulär. In den anderen Belegen von בהא im Psalter findet sich ein Objekt. Dies variiert allerdings. Ist der Beter Subjekt des Liebens, kann sich das Objekt auf die Weisungen etc. JHWHs (vgl. Ps. 119,47–48.97.113.119.127.132.140.159.163.165.167), seinen Namen (Ps 5,12; 69,37), seinen Wohnort (Ps 26,8) oder auf JHWH selbst (vgl. Ps 31,24; 97,10; 145,20) beziehen. Ebenso kann aber auch Unrecht, Fluch, das Böse (Ps 52,5.6; 109,17) oder Recht (Ps 99,4) das Objekt des Liebens sein. Zum Liebesbegriff vgl. weiter Jenni, E., Art. בהא/’hb / lieben, THAT I, Gütersloh 62004, 60–73.
29) Vgl. zum Bedeutungsspektrum von ןמא Booij, T., Psalm 116,10–11. The Account on an inner Crisis, Bib. 76 (1995), 388–395, besonders 391. Vgl. weiter Jepsen, A., Art. ןמא, ThWAT I, Stuttgart u. a. 1973, 313–348, besonders 327–330, der die Sonderstellung des Verbs in Ps 116,10 hervorhebt.
30) Zur Mehrdeutigkeit des »יכ« vgl. Barré, Psalm 116, 61–78.
31) Zum Verständnis des objektlosen »ich liebe« (יתבהא) sind mit Spieckermann, Lieben, 289, Anm. 9, weder Emendationen noch Textumstellung notwendig, da sich das Objekt aus dem Kontext erschließt. Vgl. auch Janowski, Dankbarkeit, 100, sowie Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 293.
32) Vgl. hierzu auch die von Janowski, Dankbarkeit, 281–284, herausgestellte Raumkonzeption des Psalms, durch die der Beter von der Scheol (V. 3) über die Länder der Lebenden (V. 9) bis zu den Vorhöfen des Tempels den Weg vom Unheil zum Heil zurückgeht.
33) Die PK-Formen von V. 3b.4a beschreiben mit Janowski, Dankbarkeit, 277, einen zurückblickenden Kontext und sind dementsprechend als »präteritale Imperative« zu verstehen. Ähnlich versteht auch Tita, Gelübde, 113, den Teilvers. Anders Spieckermann, Lieben, 287, der den Teilvers als Nachtrag profiliert, durch den die vorangehenden Metaphern mit einer Deutung versehen werden.
34) Die Personalsuffixe der zweiten Person Singular in V. 7 wie auch in V. 19 weisen Aramäismen auf. Vgl. hierzu GK28 § 91 l.
35) Der Wechsel der Sprechrichtung von der zweiten Person Singular in V. 7 zur dritten Person Singular in V. 8 hat Parallelen in anderen Dankliedern Ps 118,13 und Ps 138,8 und ist mit Mark, M., Meine Stärke und mein Schutz ist der Herr. Poetologisch-theologische Studie zu Psalm 118, FzB 92, Würzburg 1999, 120 f., als Teil der Danklieder zu beschreiben.
36) Zur ungewöhnlichen Form »vor, in Gegenwart von« (אנ־הדגנ), die nur in Ps 116,14.18 belegt ist, vgl. Spieckermann, Lieben, 288, Anm. 6. Nach Spieckermann bekräftige die LXX mit dem gut bekannten »ἐναντίον« (LXX Ps 115,6.9), dass mit der ausgefallenen hebräischen Form keine besondere Bedeutung verbunden sei.
37) Die Form »התומה«, mit Janowski, Dankbarkeit, ist als Nebenform von »תומ« (Tod) zu verstehen.
38) Zur psalterkompositorischen Bedeutung der den Psalm abschließenden Halleluja-Formel vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 64–67.
39) Zur konzentrischen Struktur des Ritualteils vgl. Tita, Gelübde, 109–118, und weiter Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 297 f.
40) Der Bedeutung der Gnadenformel für die alttestamentliche Literatur ist in jüngster Zeit viel Aufmerksamkeit gewidmet worden, vgl. z. B. Spieckermann, H., »Barmherzig und gnädig ist der Herr …«, ZAW 102 (1990), 1–18; Franz, M., Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Ex 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt, BWANT 160, Stuttgart 2003; Scoralick, R., Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Ex 34,6 f. und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch, HBS 33, Freiburg u. a. 2002, sowie Jeremias, J., Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 289–295.
41) Das Adjektiv »gerecht« (קידצ) als Element der Gnadenformel findet sich nur noch in Ps 112,4. Allerdings bezieht sich die Reihung der Adjektive in Ps 112,4 auf den gerechten Menschen und nicht auf Gott. Zur Diskussion des mehrdeutigen V. 4 vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 233. Zum Vergleich der beiden Stellen Ps 112,4 und Ps 116,5 vgl. Spieckermann, Lieben, 290 f., Anm. 12.
42) Franz, Gott, 252 f., verweist auf die losen Bezüge zu Ex 32–34 über das Anrufen des Namens sowie über die Wurzel חונ Hif. (Ruhe finden). Beides überzeugt nicht, wie Franz auch selbst konstatiert. Stattdessen betont er m. E. zu Recht, dass Ps 116 ein Beispiel für die eigenständige Interpretation der Gnadenformel darstelle.
43) Vgl. hierzu auch die Modifikation der Gnadenformel in Ps 103,8 f., in der ebenfalls nur die Güte/Barmherzigkeit JHWHs, nicht aber das langsame Zornigwerden rezipiert wird. Vgl. zu weiteren Bezügen von Ps 103 zu Ex 32–34 Franz, Gott, 231–233. Spieckermann, Lieben, 292 f., geht aufgrund der Wurzel למג in Ps 116,7 und der Gnadenformel in Ps 116,5 davon aus, dass dem Verfasser von Ps 116 Ps 103 vorgelegen habe. Durch die Eindeutigkeit der Wirkweisen Gottes verliert die Wurzel »antun/vergelten« (למג) ihre Zweideutigkeit. Das Vergelten ist auf die Rettung des Beters bezogen. Die mit der Wurzel ebenfalls verbundenen Bedeutungsnuancen, wie »nicht mehr antun/vergelten«, werden durch den Kontext nicht evoziert. Spieckermann sieht daher in Ps 116 eine Strukturanalogie zu Ps 103,1–5. Alle Taten, die der Beter nach Ps 103,2 nicht vergessen soll, werden in Ps 103,3–5 in ihrer menschenfreundlichen Zielsetzung von Versöhnung und Rettung etc. konkretisiert. M. E. ist die Schlussfolgerung, dass aufgrund der Wurzel »antun/vergelten« ( למג) sowie der Rezeption der Gnadenformel eine Verbindung von Ps 103 und Ps 116 vorliegen soll, äußerst gewagt, da die jeweiligen Variationen der Formel recht unterschiedlich ausfallen und sich ganze Argumentation und Semantik von Ps 103 (Heilung, Vergebung von Schuld [V. 3–5], Vergänglichkeit des Menschen [V. 15–18] und Königtum [V. 19–22]) von Ps 116 stark unterscheidet. Daher müsste eine intertextuelle Verbindung zwischen Ps 103 und Ps 116 psalterkompositorisch breiter begründet werden.
44) Vgl. hierzu weiter Jeremias, J., Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, BThSt 31, Neukirchen-Vluyn 21997, 87 f.94–96, sowie ders., Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung, BThS 104, Neukirchen-Vluyn 2009, 131–134.
45) Vgl. weiter Ps 9; 40,10 f.; 92,16.
46) Vgl. hierzu Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 297.
47) Die Komposition und Redaktion der Psalmengruppe 113–118 kann im Rahmen dieses Artikels nicht entfaltet werden. Verwiesen werden soll daher ausschließlich auf die durch Ps 116 gewonnene zweite geschichtstheologische Fundierung durch die Gnadenformel in Ps 116,5. Zur Komposition und Redaktion der Ps 113–118 vgl. Ballhorn, E., Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90–150) (BBB 138), Bonn 2004, 166–211; Hayes, E., The Unity of the Egyptian Hallel. Psalms 113–18, BBE 9 (1999), 145–156, sowie Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 245–247.
48) Zur Rezeption der Exoduserfahrung aus Ex 15 in Ps 113–118 vgl. Gärtner, J., Rettung erinnern – Zur theologiegeschichtlichen und psalterkompositorischen Bedeutung von Geschichte in den späten Psalmen, in Meyer-Blanck, M. (Hrsg.), Geschichte und Gott, XV. Europäischer Kongress der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vom 14.–18.09.2014 in Berlin, VWGTh 44, Leipzig 2016, 322–338.
49) Vgl. Klopfenstein, M. A., Die Lüge nach dem Alten Testament. Ihr Begriff, ihre Bedeutung und ihre Beurteilung, Zürich/Frankfurt a. M. 1964, 200.231.
50) Klopfenstein, Art. בזכ/lügen, THAT I, Gütersloh 62004, 817–823, besonders 819 f., sowie ders., Lüge, 200, betont im Hinblick auf Ps 116,11 vor allem die Intention einer Kontrastaussage zum Handeln Gottes. Während Gott hält, was er zusagt, und sich somit als fester Halt erweist, gilt dies für die Menschen gerade nicht. Sie sind alle Versager im Hinblick auf die letzten Dinge. Daher ist »בזכ« auch vom Wesen Gottes absolut ausgeschlossen. Demgegenüber zeichnet sich Gottes Verhalten durch Retten aus. »בזכ« bedeutet dementsprechend »nicht helfen«.
51) Vgl. Hossfeld/Zenger, Psalmen 101–150, 298, sowie Hossfeld/Zenger, Psalmen 51–100, 185 f., die vor allem durch den Vergleich mit dem Wahrspruch in Ps 62,10 herausstellen, dass das trügerische Handeln des Menschen nicht eine ethisch-moralische Aussage, sondern eine anthropologische darstellt. Dies wird allerdings in Ps 62,10 durch die Verwendung des Substantivs (בזכ) Trug oder Nichtigkeit sowie die Aussage des zweiten Kolons »Windhauch sind die Adamskinder« deutlicher als durch die Verwendung des Partizips in Ps 116,10.
52) Vgl. Barth, C., Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des Alten Testaments, mit zwei Anhängen, einer Bibliographie und Registern neu herausgegeben von B. Janowski, Zürich 21987.
53) Vgl. hierzu weiter Liess, K., Der Weg des Lebens, Psalm 16 und das Lebens- und Todesverständnis der Individualpsalmen, FAT II. 5, Tübingen 2004, 324.
54) Vgl. Barth, Errettung, 113–115.
55) Barth, Errettung, 114.
56) Vgl. zum Bechermotiv Seidl, T., »Der Becher in der Hand des Herrn«. Studien zu den prophetischen »Taumelbecher«-Texten, ATS 70, St. Ottilien 2001; Fuchs, G., Das Symbol des Bechers in Ugarit und Israel. Vom »Becher der Fülle« zum »Zornesbecher«, in Graupner, A. (Hrsg.), Verbindungslinien, FS W. H. Schmidt, Neukirchen-Vluyn 2000, 65–84, sowie Ehlers, K., »JHWH ist mein Becheranteil«. Zum Bechermotiv in den Psalmen 16, 32 und 116, in: Michel, A./Stipp, H.-J. (Hrsg.), Gott, Mensch und Sprache, FS für W. Groß, St. Ottilien 2001, 45–63.
57) Vgl. Bonatz, D., Das syro-hethitische Grabdenkmal. Untersuchungen zur Entstehung einer neuen Bildgattung in der Eisenzeit im nordsyrischen Raum, Mainz 2000.
58) So Bonatz, Grabdenkmal, 91. Auch Janowski, Dankbarkeit, 280 f., spricht sich für diesen religionsgeschichtlichen Hintergrund aus. Demgegenüber zieht Ehlers, Becheranteil, 53, eine Kalksteinstele des Jeḥaumilk aus Byblos (KAI 10, 5./4. Jh. v. Chr.) heran. Über der Steleninschrift befindet sich eine Abbildung des stehenden Königs Jeḥaumilk, wie er einer thronenden Göttin, der »Herrin von Byblos«, einen Becher reicht. Vgl. die Abbildung bei Keel, O., Die Welt der alt­orientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich u. a. 31980, 304, Tafel XXVI. Die 16-zeilige Inschrift darunter präzisiert, dass es sich bei dem Vorgang um Dank für die erhörte Rettung handelt. »Und ich betete zu meiner Gebieterin ›Herrin von Byblos‹, da erhörte sie meinen Ruf …« (KAI 10, Text und Übersetzung nach Donner, H./Rölling, W., Kanaanäische und aramäische Inschriften, Bd. 1: Text, Bd. 2: Kommentar, Wiesbaden 1964/66). Ähnlich ist die Situation des Danks nach erlebter Rettung, die der Gerettete mit einem Becher ausdrückt. Gegen eine Übertragbarkeit der Votivstele auf die Situation in Ps 116 spricht, dass es sich nach Hartenstein, F., Das Angesicht JHWHs. Studien zum höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, FAT 55, Tübingen 2008, 105, bei der phönizischen Stele eher um eine Audienzszene oder Adorationsszene handelt. Der König kommt nicht mit leeren Händen, sondern mit einer Gabe, so dass der Becher die dienstbare Rolle des Königs gegenüber der Gottheit betont. Andererseits stehen wie in Ps 116 Erhörung und Becher in einem Zusammenhang. Daher bleibt die religionsgeschichtliche Ableitung unsicher.
59) Vgl. hierzu weiter Janowski, Dankbarkeit, 281, der in diesem Zusammenhang von der »symbolischen Qualität des ›Bechers der Heils-/Rettungstaten‹« spricht, da er als »ein elementares Zeichen für die Errettung vom Tod und die heilvolle Fortexistenz des Geretteten verstanden werden kann«.
60) So Janowski, Dankbarkeit, 281. Die von Spieckermann, Lieben 1995, 272, Anm. 20, angeführte Parallele in Ps 23,5 hebt vor allem den reichlich gefüllten Becher hervor und beschreibt die umfassende Fürsorge JHWHs, während der Becher in Ps 116 die Rettungstat JHWHs betont. Dennoch können beide Aspekte in einem Zusammenhang stehen, da sich die umfassende Fürsorge JHWHs auf die Rettung vor den Feinden bezieht.
61) Vgl. hierzu Wagner, S., Art. רקי, ThWAT III, Stuttgart u. a. 1982, 855–865. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von kostbar = selten können auch Abstrakta wie Herrlichkeit und Pracht, aber auch Besitz immaterieller Größen, wie Weisheit, mit der Wurzel רקי umschrieben werden.
62) Janowski, B., Die Kostbarkeit des Lebens. Zur Theologie und Semantik eines Psalmenmotivs, in: Ders., Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 249–265, besonders 257. Nach Janowski ist der Vers als ein argumentum ad deum zu verstehen, d. h. als ein »Appell an JHWH, es nicht auf den Tod des Beters ankommen zu lassen, da Gott sonst einen treuen Zeugen seiner Macht verlieren würde«.
63) v. Rad, Theologie des Alten Testaments, 381, spricht in diesem Zusammenhang von einer »unverschämten Grenzaussage«.
64) Zum Verständnis von Sklaverei im antiken Israel vgl. Kreuzer/Schottroff, Art. Sklaverei, 524–530. Vgl. zum Begriff דבע Ringgren, H., Art. דבע, ThWAT V, Stuttgart u. a. 1986, 982–997.999–1003. Indem sich der Beter als Knecht JHWHs bezeichnet, spezifiziert er den Knechtsstatus mit dem Status, Sohn der Magd zu sein. Als Sohn der Magd aber ist er kein auf dem Sklavenmarkt erworbener Sklave, sondern ein im Haus des Herrn geborener Sklave und ist Teil dessen Haushaltes.
65) Zum Zusammenhang der Kostbarkeitsaussage in Ps 116,15 mit der Herr-Knecht-Relation einerseits und der Gnadenformel andererseits vgl. weiter Janowski, Kostbarkeit, 254–257.