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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1192–1194

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schubert, Jan

Titel/Untertitel:

Willem Adolph Visser ’t Hooft (1900–1985). Ökumene und Europa.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 263 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 243. Lw. EUR 65,00. ISBN 978-3-525-10151-3.

Rezensent:

Martin Robra

Der große Konferenzsaal im Ökumenischen Zentrum in Genf trägt seinen Namen Visser’t Hooft Hall. Geehrt wird so der langjährige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) Willem A. Visser’t Hooft. Seine 1974 in deutscher Sprache unter dem Titel »Die Welt war meine Gemeinde« veröffentlichte Autobiographie und ein zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahr 2000 vom damaligen Bibliothekar des ÖRK Ans van der Bent verfasstes Buch sind bisher die leicht zugänglichen Publikationen über sein Leben. Eine umfassende wissenschaftliche Biographie steht noch aus.
Jan Schubert trägt einen wesentlichen Schritt zu dieser Aufgabe mit seiner 2017 bei Vandenhoek & Ruprecht gedruckten Disserta-tion bei. Seine Leitfrage: »Welche Europavorstellungen hat Visser’t Hooft entwickelt und wie haben sie sich über die Zeit verändert?« (11) beantwortet Schubert vor dem Hintergrund der Biographie des Niederländers Visser’t Hooft. Ein sorgfältig recherchierter biographischer Überblick im zweiten Kapitel (21-75) ist neben einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis (231-256) und einem präzisen Überblick zum Forschungsstand (16-19) grundlegend für seine eigene Arbeit.
Folgerichtig untersucht Schubert im dritten Kapitel, wie das Thema »Europa« in der ökumenischen Bewegung auf internationaler Ebene aufgegriffen und diskutiert wurde. Im vierten Kapitel dann werden diese zwei Stränge zusammengeführt zu einer erhellenden Darstellung der Europavorstellungen Visser’t Hoofts. Jedem dieser Kapitel folgt ein kurzes Resümee mit einer abschließenden Schlussbetrachtung am Ende des Buches. Die Studie Jan Schuberts ist ein weiterer hilfreicher Beitrag in einer Reihe von Arbeiten, die die Engführungen der Säkularisierungsthese hinter sich lassen und neu das Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Religion untersuchen und dabei die ökumenische Bewegung entdecken.
Visser ’t Hooft wurde schon als Student Teil eines weiten ökumenischen Netzwerkes (21-40). Als Generalsekretär zuerst des Weltbundes des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) und später des Christlichen Studenten Weltbundes (CSW) nahm er an beiden Weltkonferenzen der Bewegung für Praktisches Christentum 1925 in Stockholm und 1937 in Oxford teil und 1937 auch an der 2. Weltkonferenz der Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung. 1938 wurde er in Utrecht vom Provisorischen Komitee des im Aufbau begriffenen Weltrates der Kirchen (PKÖRK) als Generalsekretär gewählt.
Schubert zeigt (78-82.115 ff.), wie nahe Visser ’t Hooft in seiner Einschätzung der Situation in dieser Phase dem Architekten der Oxford Konferenz von 1937, J. H. Oldham, stand. In ihrer Sicht führte die schrittweise Auflösung des Corpus Christianum und des mittelalterlichen Europas mit zunehmender Individualisierung, Ausdifferenzierung der Gesellschaft und Säkularisierung zum Verlust einer gemeinsamen Wertebasis. Diese Entwicklung ließ die Einzelnen und die Gesellschaft schutzlos den negativen Folgen eines un­gezügelten Kapitalismus und nationaler Ideologien ausgeliefert. Sie wurden anfällig für den Totalitarismus in Faschismus und Stalinismus.
Eine Erneuerung der Kirchen und ihrer Mission unter starker Beteiligung der Laien, die in den verschiedenen Sphären des Lebens aktiv sind, und die Überwindung der Spaltungen zwischen den Kirchen wurden als Voraussetzung für eine aktive gesellschaftsgestaltende Rolle der Kirchen genannt. Vor dem Hintergrund des Totalitarismus war die Option keine neue einheitliche Gesellschaft. Die Notwendigkeit demokratischer Verfahren in einer pluralistischen Gesellschaft wurde anerkannt. Gesucht wurde nach einer neuen internationalen Ordnung mit Begrenzung nationaler Souveränität und robustem internationalen Recht. Europa selbst wurde kaum zum Thema, obwohl die Problembeschreibung sich vor allem auf den europäischen Kontext bezog.
Der Zweite Weltkrieg bestärkte Visser ’t Hooft darin, dass die Kirchen sich auf ihre eigene Erneuerung und Einheit konzentrieren müssen, um in Gesellschaft und Staat glaubwürdige Zeugen Christi zu sein. Zunehmend begriff er die Krise als Chance, dass die Kirchen sich in der Konzentration auf das Evangelium von falschen Bindungen an westliche Kultur und politische Ideologien befreien und mit ihrer universalen Ausrichtung zum Aufbau einer neuen internationalen Ordnung beitragen können (147 ff.). Das galt in be­sonderem Maß für Kirchen in den im Krieg miteinander kämpfenden Nationen Europas. Gemeinsam mit Widerstandsgruppen auf dem europäischen Kontinent arbeitete Visser ’t Hooft an einer Friedensordnung für die Zeit nach dem Krieg. Ihr Ziel war ein föderativ verfasstes Europa mit supranationalen Organisationen, Rechtssetzung und Rechtsprechung, in dem auch Deutschland seinen Platz finden sollte. Er hielt dabei Kontakt nicht nur mit Dietrich Bonhoeffer, sondern vor allem auch mit Adam von Trott zu Solz. Repräsentanten der Kirchen Großbritanniens und der USA waren diesen Ideen gegenüber allerdings skeptisch eingestellt. Sie setzten sich für eine neue internationale Ordnung auf globaler Ebene ein.
Auch nach Kriegsende blieben diese Spannungen bestehen. Mit dem »Kalten Krieg« vertiefte sich der Ost-West-Konflikt in Europa. Für den 1948 gegründeten ÖRK wurde mit der De-Kolonialisierung auch die globale Perspektive immer wichtiger. Unter diesen Umständen war es schwierig, die Arbeit für die Einigung Europas im ÖRK weiterzuführen. Noch bei den Vorbereitungen zur Schaffung der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) wurde der ÖRK von vielen als pro-westlich eingeschätzt (110-112). Visser ’t Hooft setzte sich deshalb für eine vom ÖRK offiziell unabhängige Ökumenische Kommission für europäische Zusammenarbeit (ÖKEZ) ein (106 ff.), deren Sekretär aber der langjährige Leiter der Abteilung für Kirche und Gesellschaft Paul Abrecht war. Schubert ist nicht der Erste, der den US-amerikanischen Baptisten Abrecht mit einem »deutschen Pfarrer Paul Albrecht« (108) verwechselt. Qualität und Einfluss der Gruppe können daran gemessen werden, dass eine Reihe ihrer Mitglieder wichtige politische Positionen auf nationaler und europäischer Ebene innehatten (107.109). Schubert verweist hier auf die mit seiner Arbeit in vieler Hinsicht komplementäre Studie von Lucian N. Leustean, The Ecumenical Movement and the Making of the European Community, Oxford: Oxford Press 2014, folgt aber in seiner Einschätzung Martin Greschat.
Der Europadiskurs wurde nach 1959 vor allem von der KEK weitergeführt. Visser ’t Hooft blieb einer pro-westlichen Vereinnahmung der Kirchen gegenüber kritisch. Immer drängender wurde für ihn in den letzten Jahren seiner Zeit als Generalsekretär die Wirklichkeit weltweiter Ungleichheit und struktureller Ungerechtigkeit zur Anfrage an die Rolle Europas in der Welt. Diese Fragestellung hat nichts von ihrer Aktualität verloren.