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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1191–1192

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Münch, Christian

Titel/Untertitel:

In Christo närrisches Russland. Zur Deutung und Bedeutung des jurodstvo im kulturellen und sozialen Kontext des Zarenreichs.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 569 S. m. 8 Abb. = Forschungen zur Kirchen - und Dogmengeschichte, 109. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-3-525-56427-1.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Das jurodstvo – Narrentum in Christo – war bereits in altrussischer Zeit fester Bestandteil des russischen Geisteslebens. Es überdauerte die Brüche der petrinischen Zeit, zog Angehörige verschiedenster Gesellschaftsschichten in seinen Bann und wird nicht nur von Theologen, sondern ebenso von Historikern, Literaturwissenschaftlern und Anthropologen erforscht. Im deutschen Sprachraum gab es bislang keine ansprechende, wissenschaftlichen Maßstäben genügende Monographie. Nun legt Christian Münch seine von der Theologischen Fakultät der Universität Bern 2010 als Dissertations- und Habilitationsschrift anerkannte Studie zum Gottesnarrentum in Russland in ansprechender Form vor.
Die kirchen- und kulturgeschichtliche Studie gliedert sich nach der Einleitung in die Teile I: Byzantinisches Erbe und altrussische Tradition und Teil II: Neuzeit (postpetrinisches Russland bis 1917). Zusammenfassung und Ausblick beschließen das Werk. Ein um­fangreicher Anhang enthält u. a. ein Verzeichnis kanonisierter Jurodivye nach dem orthodoxen Kirchenkalender 2008, ein Verzeichnis der Jurodivye aus den Lebensbeschreibungen russischer Asketen des 18. und 19. Jh.s, Quellenbeispiele zum publizistischen Diskurs über das jurodstvo 186o–1905, ein reichhaltiges Literaturverzeichnis sowie Bibelstellen-, Personen- und Stichwortregister.
Wie sich aus Inhaltsbeschreibung und Umfang ahnen lässt, legt M. ein enzyklopädisches, durch slavistische und theologische Studien bestimmtes Werk zum Thema vor. Argumente und Urteile werden stets umsichtig und vorsichtig interpretiert und abgewogen. Nach einem Gang durch die Hagiographie byzantinischer Provenienz und deren altrussischer Rezeption bis hin zum Raskol (Schisma) und den petrinischen Reformen geht M. im zweiten, der Neuzeit gewidmeten Teil auf die partielle Rehabilitierung des jurodstvo, seine Idealisierung, Symbolisierung und Kritik im Spiegel der russischen Literatur des 19. und frühen 20. Jh.s näher ein. Ausläufer lassen sich bis in die Religionsphilosophie des 20. und 21. Jh.s, etwa in der Kontroverse zwischen Slavophilen und Westlern und in die Publizistik (Erbauungsliteratur, Historiographie, Belletristik und theologische Literatur) verfolgen und nachzeichnen, was M. mit gänzlich neuem Weit- und Tiefenblick unternimmt. So zeigt sich M. als kundiger Slavist, das jurodstvo rehabilitierend, stets konsequent quellengebunden arbeitend, was sich auch in reichhaltigen Quellenbeigaben widerspiegelt.
Erstaunlich ist die Klassifizierung Dmitrij Mereˇzkovskijs als »orthodoxen Theologen« (439 ff.), die allerdings in der Zusammenfassung relativiert und in »religiös-philosophischer Autor« (455) korrigiert wird.
Aus theologischer Sicht scheint vor allem der kenotische Ansatz Ioann Kovalevskijs im Anschluss an Johannes Chrysostomos wegweisend, den Michail Tareev, Ethiker der Moskauer Geistlichen Akademie, als jurodstvo aller Christen bezeichnet, die Demut ge­genüber allen Mitmenschen als nötige Voraussetzung für sittliches Handeln und geistliche Freiheit. Diese Interpretation weiter entwickelnd wird Sergej Bulgakov im Abendlosen Licht (Svet ne­vecˇernij) das jurodstvo als äußerste Form der Selbstentsagung und Ideal eines jeden Christen bestimmen, das sich frei von festgelegten Formen in unterschiedlichster Weise realisiert. »Die Askese des jurodstvo – eine Verschmähung der eigenen psychologischen Persönlichkeit […], eine Art ›Tod bei lebendigem Leibe‹ – ist eine Endstufe auf dem Weg der Selbstentsagung. Bleibt man ihm völlig fern und ist im Herzen kein Jurodivyj, so kann keine christliche Beziehung zu sich und der Welt hergestellt werden, und im Grunde lassen sich anhand des Grades des jurodstvo […] die Erfolge auf dem christlichen Weg bestimmen.« (Svet nevecˇernij. Sozercanija i umozrenija. Moskva 1994, 300) So verwundert es wenig, dass der Jurodivyj in der Literatur des 19. Jh.s zum Bestandteil nationaler Kollektivsymbolik wurde, zum Volksheiligen, der in radikaler Freiheit des Geistes lebt und unabhängig von der sichtbaren Kirche, von nahezu allen Fremdbestimmungen und allen Diesseitsbindungen agiert.
Resümierend sei festgehalten: Das Werk ist für Kundige und Interessierte gewinnbringend und mit Genuss zu lesen, wozu nicht zuletzt die Anhänge, Register und Verzeichnisse beitragen. Es hat das Potential, zum Referenzwerk zum Gottesnarrentum in deutscher Sprache zu werden. Offen bleibt indes die Frage nach dem nachrevolutionären jurodstvo des 20. und 21. Jh.s, zu dem eine weitere Studie aus der Feder des überaus kundigen Autors wünschenswert wäre. Der erhofften und gewünschten Verbreitung wenig förderlich ist allein der beeindruckende Preis des Werkes. Möge er ihr nicht im Wege stehen.