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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

98 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gräb, Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Urknall oder Schöpfung? Zum Dialog von Naturwissenschaft und Theologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 176 S. 8. Kart. DM 28,-. ISBN 3-579-00104-3.

Rezensent:

Hartmut Genest

Das Buch ist entstanden aus Vorträgen einer Veranstaltungsreihe in der Evangelischen Studentengemeinde Göttingen und vermittelt dem Leser einen Eindruck vom gegenwärtigen Stand des Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Obwohl es jeweils Naturwissenschaftler und Theologen sind, die in einer je eigenen Perspektive sich zum Thema äußern, entsteht für den Leser der verschiedenen Beiträge doch ein Bild, das im Folgenden an einigen exemplarischen Beiträgen und charakteristischen Zügen des Ganzen nachgezeichnet werden soll. Von den neun (bzw. zehn) Beiträgen sind allerdings nur zwei von Naturwissenschaftlern (die sich weniger theologisch äußern), während die übrigen von Theologen sind (die sich durchaus mehr zu verschiedenen naturwissenschaftlichen Themen äußern).

Die beiden Naturwissenschaftler machen Phänomene des Raumes (der Physiker Helmut Gärtner) bzw. der Zeit (der Mediziner Friedrich Cramer) zum Ausgangspunkt von Überlegungen, die an theologische Fragen grenzen: Gerade "Resultate experimenteller Physik" (65) führen auf die "die Einzelwissenschaften übersteigende Frage nach dem Grund" (73) der fernwirkungsartigen Korrelation von Teilchen in bestimmten Experimenten. Ist unsere lokale (,irdische’) Wirklichkeit in eine überlokale (,himmlische’) Wirklichkeit eingebettet?

Aber auch die Biologie und die im Bereich des Lebendigen anzutreffenden "Selbstorganisationsphänomene" (75) erfordern nicht nur neben der als reversibel aufgefassten Zeit in der klassischen Physik eine "irreversible Zeit", sondern erzwingen überhaupt eine "weichere Physik", die sich "gegenüber Religion viel freier verhalten" kann (86).

Wolfhart Pannenberg und Christian Link sind mit eigenen Entwürfen zur Schöpfungslehre aufgetreten und stellen ihre Grundgedanken vor. Dabei versucht Pannenberg, theologische "Aussagen über die Welt als Schöpfung" auf die "naturwissenschaftliche Weltbeschreibung zu beziehen" (139), also letztlich eine Art theologischer Kosmologie zu entwickeln. Raum und Zeit gründen in Gottes (!) schöpferischer Allgegenwart und Ewigkeit. Und der physikalische Begriff des Kraft-Feldes kann ein Gleichnis für Gottes unkörperliche Wirksamkeit werden. Ja, da man physikalisch "Feldgrößen ohne materielles Substrat" denken kann, liegt es "aus rein innertheologischen Gründen" nahe, die Geistnatur Gottes im Sinne eines "Kraftfeldes zu denken, ... das unbeschadet seiner Transzendenz in der Immanenz des materiellen Universums wirksam ist" (151).

Welche Komplexität das Wirken Gottes in der Welt aufweist, zeigen die Gedanken Links über die "Zeit der Schöpfung". Im Anschluss an die Lehre von den ,subjektiven’ Zeitmodi Augustins und die ,objektiven’ Modi der Zeit bei A. M. Klaus Müller entwirft Link ein verschränktes Zeiten-Gefüge, in dem sich interessante Perspektiven auf Mensch, Welt und Gott, auf Anfang, Mitte und Ende der Schöpfung ergeben und das die abstrakten Gegenüberstellungen von Natur-Wissenschaft und Schöpfung - Glaube überwinden hilft.

Kann man an den exemplarisch herangezogenen Beiträgen eine thematische Konvergenz zwischen naturwissenschaftlichem und theologischem Denken vermuten, so bleibt vieles doch vage: So ist von der "Alpha-Singularität" (dem "Urknall") zwar im Titel des Buches, kaum aber im Buch selbst explizit die Rede. Und es gibt Überlegungen von Physikern zur ,Omega-Singularität’ (den End-Punkt des Universums), die eine Art kosmologischer Theologie entwickeln (F. J. Tipler).

Fragt man, welchen Sinn das "oder" im Titel des Buches hat, so reicht seine Bedeutung vom Entweder-Oder (so Ulrich Barth in seinem Schleiermacher verpflichteten Beitrag "Abschied von der Kosmologie - Befreiung der Religion zu sich selbst" und Hans-Dieter Mutschler "Die Welterklärung der Physik und die Lebenswelt des Menschen", der sich an Kant orientiert, sowie Joachim Ringlebens sich an Karl Barth anschließender Überlegungen zur Eschatologie "Gott und das ewige Leben") bis zu einem Sowohl-als-Auch (bei Pannenberg und Link).

Vielleicht kann man das naturwissenschaftlich-theologische Problem philosophisch so einer Lösung näherbringen: Die Weltentstehung ist die äußere Erscheinung der Schöpfung - die Schöpfung ist das innere Wesen der Weltentstehung. Da Kant der von den Autoren am meisten zitierte Philosoph ist und von ihnen als Autorität für ein Trennungsmodell von Naturwissenschaft und Theologie in Anspruch genommen wird, sei am Schluss daran erinnert, dass es Äußerungen Kants gibt, die auch für ein Ergänzungsmodell sprechen: Bezeichnet er doch in seiner Dissertation von 1770 den Raum als erscheinende Allgegenwart und die Zeit als erscheinende Ewigkeit, und fügt hinzu, "dass wir alle in Gott schauen".