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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1185–1187

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Plüss, David, Kusmierz, Katrin, Zeindler, Matthias, u. Ralph Kunz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung und Perspektiven.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. 551 S. = Praktische Theologie im reformierten Kontext, 15. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-290-17853-6.

Rezensent:

Jochen Arnold

Vier renommierte Theologen aus der Schweiz beschreiben in einem bisher wohl einmaligen Versuch den Gottesdienst der reformierten Kirche. Ein 31-köpfiges Autorenteam hat mit insgesamt 35 Beiträgen mitgewirkt, wobei eine tour d’horizon durch Geschichte und Gestalt, Theologie und Praxis des reformierten Gottesdienstes im deutschsprachigen Raum unternommen wird. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt, wie breit das Ganze angelegt ist. Zum einen werden regionale Besonderheiten (Deutschschweiz, Westschweiz, Deutschland ohne Österreich) bedacht, zum anderen theologische Grundfragen wie Ekklesiologie, Allgemeines Priestertum und Amt sowie Ökumene nicht ausgeklammert. Verschiedene Autoren nehmen die zentralen Formen Predigtgottesdienst, Abendmahlsgottesdienst, Taufgottesdienst, Gebetsgottesdienst und Kasualien in den Blick. Auch das Kirchenjahr ist kein Stiefkind mehr. Unter den Überschriften Ästhetik und Performanz werden Sprache, Symbol, Musik, Bild, Raum und Körperlichkeit bedacht, während das Kapitel Funktionen und Dimensionen kirchliche Querschnittsthemen der Ethik, Bildung, Diakonie, des Gemeindeaufbaus und der Mission in den Blick nimmt. Gegen Ende kommen auch alternative Gottesdienste und »charismatisch inspirierte Gottesdienste« zur Diskussion. Segnen und Salben werden eigens gewürdigt, ebenso wie die »Andacht des Gebets und die Anmutung der Predigt« ( Ralph Kunz).
Programmatisch für die aktuelle Diskussion sind sicher die abschließenden »Brennpunkte der Praxis« mit den Themen Gender, Partizipation, Gastfreundschaft und Milieuorientierung. Immer wieder ist ein großer theologischer Tiefgang zu beobachten, was an zahlreichen Reflexionen belegt werden könnte: Im Blick auf die konfessionell und liturgisch strittigen Themen zeichnet sich m. E. ein gewisser Konsens mit lutherischer Gottesdienstlehre ab:
Für Matthias Zeindler sind Predigt und Sakramente miteinander und nebeneinander Konstitutionsmerkmale von Gottesdienst und Kirche, die Sakramente also der Predigt nicht nachgeordnet (127.181 mit Hinweis auf CA VII und Karl Barth). Auf diese »Zuwendung Gottes« (127) antwortet die Gemeinde mit Gebeten und Liedern in Bitte, Klage, Lob und Dank (vgl. ähnlich Luthers Torgauer Formel WA 49, 588).
Im Blick auf die lutherisch-reformierte Kontroverse, ob man um den Segen Gottes nur bitten oder Segen auch austeilen kann, antwortet David Plüss: (159) »Biblisch-theologisch betrachtet ist es denn auch nicht die Pfarrerin, die segnet, sondern Gott; er segnet, wenn die Pfarrerin den Segen spricht. […] Dieser kräftige, ermächtigende Abschiedsgruss wird der Gemeinde vorenthalten, wenn der Segen [nur] erbeten wird.« An anderer Stelle heißt es dazu: »Segnende vermitteln, worüber sie nicht verfügen – sie vermitteln als Menschen, was nur Gott schenken kann […]« (499).
Ralph Kunz arbeitet in seinem Beitrag zum Abendmahlsgottesdienst besonders die biblischen Bezüge der Mahlfeier heraus und betont das Ineinander des Materiell-Sinnlichen mit dem Geistigen. Schön ist auch der Promissio-Charakter getroffen: »Im Gesprochenen wird das Versprochene konkret und in den Gesten kommt das Versprochene in den Rhythmus und Ablauf der Feier« (228). Die Interpretation des Abendmahlsformulars bei Zwingli (»Action und Bruch«) wird durch Bilder von Froschauer illustriert. Sie zielen auf das Prophetisch-Gemeinschaftliche der Mahlfeier. Pointe bei Zwingli ist u. a. die Verknüpfung der Feier mit dem Ich-bin-Wort Jesu aus der johanneischen Brotrede. Unter Aufnahme der Kritik Grethleins an der geschichtlichen Entwicklung des Abendmahls kommt Kunz, dem besonders die Freude und Eucharistia bei der Mahlfeier wichtig sind, zu einer selbstkritischen Zeitansage: »Wenn die Reformierten es nur wagen würden, mehr zu feiern und das zu tun, was die Intention der Gottesdienstreform vor 500 Jahren war: gemeinsam zu beten!« (241)
Ein deutlicher theologischer Akzent liegt in mehreren Beiträgen auf dem Begriff des Inklusiven, allerdings nicht (nur) um einer politischen Korrektheit willen: »Wo Christus Menschen von ihren destruktiven Grenzen befreit, dort begründet er seine Gemeinde als inklusive Gemeinschaft« (Zeindler, 127). Hilfreich und humorvoll ist der Beitrag von C. Walti zur Empirie, der ein eigenes Kapitel bekommt. Darin findet man folgenden grundsätzlichen Hinweis: »Empirische Daten […] rechtfertigen oder definieren aus sich heraus gar nichts […] Liturgisches Handeln darf sich von der Wirklichkeit nicht die Möglichkeiten des eigenen Handelns vorgeben lassen.« (111)
David Plüss setzt sich mit einem Verdikt F. Steffenskys auseinander. Reformierte Gottesdienste seien die »klerikalsten, die er kenne«. Plüss konzediert angesichts von unerfreulichen One-Man-Shows oder Schulstunden (154), dass dies nicht von der Hand zu weisen sei. Er empfiehlt dagegen einen bewussteren Umgang mit liturgischen Formeln sowie einen echten Mentalitätswechsel. Er fordert die Entwicklung einer pastoralen Haltung, welche in der Predigt von einer mündigen Gemeinde ausgeht und in der Mahlfeier dezidiert auf Gemeinschaft der Glaubenden setzt (156 f.). Besonders kritisch sieht er eine problematische Überbetonung »pastoraler Authentizität« als Leitlinie liturgischen Handelns.
Das Thema Musik wird, wie zu erwarten, von Andreas Marti behandelt. Eine (trinitarische) Theologie der Musik lehnt er ab und betont stattdessen die »Symbolfähigkeit der Musik jenseits der Sprache« (362). Typisch reformiert ist für ihn folgendes Verständnis: Musik verweist auf Transzendenz, sie repräsentiert sie nicht (362 f.). Und: »Wenn lutherische Theologie das Paradox des ›finitum non capax infiniti‹ formuliert – das Endliche kann das Unendliche fassen –, gilt in reformierter Christologie das ›finitum non capax infiniti‹« (363). Am Ende seiner Ausführungen wehrt er sich gegen den unkritischen (anbiedernden) Einsatz von Popularmusik und legt eine Kriteriologie gottesdienstlichen Singens vor, die auch für den deutschen Kontext interessant sein könnte.
Zur Pluralität dieser besonderen Veröffentlichung gehört es u. a. auch, dass die Autoren sich in einem eigenen Beitrag für den Dialog mit der charismatischen Bewegung und den Pfingstkirchen (weltweit ca. ein Viertel aller Christen mit 523 Millionen Anhängern) öffnen (460 ff.).
Besonders gelungen scheint uns die Reflexion zum Umgang mit alternativen Gottesdiensten. L. Zogg Hohn geht davon aus, dass sich mit einer »Diversifizierung der Gottesdienstformate« andere und insgesamt auch mehr Menschen erreichen lassen (450). Besonders wertvoll scheint der damit verbundene Perspektivwechsel zu den Menschen. So wird es einfacher, »eine gemeinsame, von allen geteilte Sprache und Kultur zu finden« (451). Sie unterscheidet in einem empirisch unterlegten Exkurs zwischen niederschwelligen (z. B. offene Kirchen), mittelschwelligen (Kasualien und Zielgrup pengottesdienste) und hochschwelligen Angeboten (klassische Gottesdienste). Daraus folgt ein Plädoyer für mittelschwellige Formen bzw. für die konzeptionelle Ausdifferenzierung eines Gottesdienst-Programms.
Was fehlt? Das Kompetenzzentrum in Bern hat sich u. a. auch mit dem Thema Qualität im Gottesdienst auseinandergesetzt. Ein solches Kapitel fehlt. Außerdem mag man die sehr deutschschweizerische Perspektive des ganzen Unternehmens bemängeln. Internationale Stimmen, etwa aus dem Reformierten Weltbund, kommen nicht vor.
Dennoch: Entstanden ist ein Handbuch protestantischer Liturgik mit theologischem Anspruch und hoher Relevanz für die Praxis, das sich nicht scheut, auch normative Aussagen zu machen. Dass diese nicht immer von der historischen Darstellung und der praktisch-theologischen Beschreibung abgegrenzt sind, muss kein Mangel sein.