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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1183–1185

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Peng-Keller, Simon [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bilder als Vertrauensbrücken. Die Symbolsprache Sterbender verstehen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. VIII, 153 S. m. 1 Abb. = Studies in Spiritual Care, 2. Geb. EUR 69,95. ISBN 978-3-11-052520-5.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Wenn Menschen sich der Grenze des Todes nähern oder durch eine demenzielle Erkrankung die übliche Ausdrucksfähigkeit allmählich verlieren, entwickeln sie Kommunikationsformen, die nicht selbstverständlich in die Muster der Alltagssprache hineinpassen. Sie benutzen sprachliche und bildnerisch gestaltete Symbole, sie kommunizieren über Gesten und andere motorische oder lautliche Artikulationsformen. Zunehmend verdichten sich am Rande des Lebens existenziell bewegende Themen und Wünsche in symbolischer Kommunikation. Diese Signale, die sich nicht ohne Weiteres erschließen, werden von Angehörigen und professionell um die Sterbenden Bemühten nicht selten als sinnlose Verwirrung missverstanden und bleiben entsprechend unbeantwortet. Das aber bedeutet Einsamkeit und verwehrte Anerkennung für die Menschen, die in ihrer letzten Lebenszeit über symbolische Ausdrucksformen wesentliche Aspekte und Verarbeitungsprozesse ihrer Situation mitteilen und darin zuweilen am Ende des Lebens auf eindrückliche Weise noch einmal schöpferisch werden.
Im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten interdisziplinären Forschungsprojektes »Hermeneutik des Vertrauens am Lebensende« hat der katholische Theologe Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich, eine interdisziplinäre Aufsatzsammlung herausgegeben, deren Ziel es ist, für den Sinn der symbolischen Kommunikation am Lebensende zu sensibilisieren und eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit dieser Kommunikation zu geben, die sich einem eindeutigen Verstehen nicht selten verweigert. Am Ende des Buches benutzt Peng-Keller selbst ein Bild, um eine wesentliche Intention des Buches zu profilieren. Es gehe darum, den Geschichten am Ende des Lebens »das Vorschussvertrauen zu geben, dass sie ›atmen können‹« (140). So schreibt er in Aufnahme einer Metapher von Arthur W. Frank. Die Geschichten und Symbole »atmen«, indem sie Raum und Zeit bekommen, um sich zu entfalten und um gehört werden. Sie finden die notwendige Beachtung, indem sie ausdrücklich wertgeschätzt werden, obwohl ein unmittelbares Verstehen ihres Sinns nicht immer auf der Hand liegt, sich manchmal sogar als unmöglich erweist. Eine scheinbar »realistische« Reaktion oder ein Ignorieren entzieht der symbolischen Kommunikation hingegen das Leben, würgt sie buchstäblich ab.
So geht es in dem Band also zunächst einmal um eine Schärfung des Wahrnehmens und den Versuch zu verstehen, eine Hermeneutik zu entwickeln für das, was Sterbende sagen wollen. Das wird in allen Beiträgen deutlich, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und praktischen Perspektiven auf die Phänomene schauen.
Der Klinikseelsorger (Erhard Weiher) geht von einem anthropologischen Konzept aus, das mit der Seele als existenzieller Mitte rechnet. Aus dieser Mitte – das, was dem Menschen jeweils »heilig« ist – kommen die existenziellen Anliegen und Wünsche, die Selbst- und Sinndeutungen der Patienten, die mit Respekt und Aufmerksamkeit weniger gedeutet als begleitet werden wollen. Zunächst alltäglich erscheinende Worte und Vollzüge gewinnen in diesem Zusammenhang eine weiter- und tiefergehende Bedeutung. Ganz persönliche Symbolisierungen können sich mit überindividuellen Ausdrucksgestalten verbinden, wie sie die Religionen bereithalten.
Die Seelsorge in diesem Sinn ist aber nicht nur auf theologisch gebildete und kirchlich beauftragte Seelsorgende beschränkt. Esther Matolycz zeigt dies in ihrem Beitrag aus der Perspektive der Pflege. Auch den Pflegenden begegnen ja die spezifischen Ausdrucksweisen der Sterbenden. Nicht zuletzt die körperlichen Be­rührungen und Vollzüge, die den täglichen Umgang mit den Kranken bestimmen, können symbolisch aufgeladen sein – kann doch jede Berührung Anlass für intensive Interaktionsprozesse geben.
Wie wichtig symbolische Kommunikation im Austausch mit demenziell Erkrankten ist, arbeitet der Beitrag von Franziska Pilgram-Frühauf heraus. Besonders beeindruckt hier die Auseinandersetzung mit dem Fallbeispiel des Pfarrers und Psychotherapeuten Eduard Schäubli, der den Zerfall des Sprachvermögens im Prozess seiner fortschreitenden Erkrankung bis an den Rand des endgültigen Sprachverlustes in ebenso poetischen wie aussagekräftigen Texten ausgedrückt hat. In sprechenden Symbolen konzentrieren sie die Erfahrung und das Erleiden dieses wachsenden Verlustes.
Überhaupt sind die Fallbeispiele und ihre einfühlsamen wie auch vorsichtigen, respektvollen Deutungen eine besondere Stärke dieses Buches. Durch sie lernt man viel darüber, wie Sterbende kommunizieren, bekommt man ein Gespür dafür, in welche Richtung Wahrnehmung und Hermeneutik zu sensibilisieren sind, damit ein Dialog entstehen kann. Dies gilt auch für die Bilder sterbender Kinder, die der Kinderarzt Dietrich Niethammer und die Kunsttherapeutin Kathrin Hillermann präsentieren und erläutern. Die intensive und ehrliche Auseinandersetzung der kranken Kinder mit ihrem Schicksal wird plastisch vor Augen gestellt bis dahin, dass einzelne Bilder oder Äußerungen offenkundig etwas wie ein prophetisches Wissen um den Zeitpunkt des Todes zeigen.
Der Beitrag des Psychoanalytikers Joachim Küchenhoff kreist um die Frage, was angesichts des Sterbens hilft, Ängste und unerledigte Aufgaben des Lebens so zu »bewältigen«, dass sie erträglich werden und schließlich ein Loslassen des Lebens möglich wird. Die Grenze zwischen »normal« und »verrückt« kann dabei durchlässig werden. Das zeigt der ausführliche Blick auf das Sterbetagebuch des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, der nach der Diagnose seines tödlichen Hirntumors in einen geradezu manischen Schaffensdrang stürzt und die wesentlichen Werke seiner Karriere schafft.
Eberhard Hauschildt arbeitet in fünf Thesen die Spezifik einer seelsorglichen Perspektive auf die Kommunikation am Lebensende als eines weisheitlichen Kommunizierens nicht über, sondern in Religion heraus.
Gerahmt sind die Aufsätze von zwei Beiträgen des Herausgebers. Zum Einstieg entfaltet Simon Peng-Keller – vor allem im Anschluss an Paul Ricœurs Begriff der »lebendigen Metapher« – sein grundlegendes Verständnis der Symbolsprache Sterbender. Er versteht sie als kreativen Prozess, in dem wesentliche Themen des Lebensendes auf höchst individuelle Weise artikuliert und bearbeitet werden. Zum Beschluss des Buches berichtet er von einer empirischen Studie unter klinischen Seelsorgenden, die über einen Fragebogen auf ihre Erfahrungen mit symbolischen Äußerungen Sterbender Auskunft gegeben haben. An den zahlreichen Vignetten, die den Antworten auf diesen Fragebögen entnommen wurden, wird deutlich, wie stark die Dimension symbolischer Kommunikation die Seelsorge am Lebensende bestimmt und wie wichtig es für ein Einverständnis mit dem Sterben sein kann, dass auch die Äußerungen und Signale beachtet und validiert werden, deren Sinn sich letztlich nicht erschließt.
Das Buch ist eindrucksvoll und ausgesprochen lesenswert. Gelungen sind hier theoretische und praktische Perspektiven miteinander verschränkt. Einzig ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren und ihres jeweiligen Hintergrundes fehlt. Insgesamt aber gilt: Wer beruflich oder privat mit Sterbenden zu tun hat, wird von dieser Lektüre profitieren.