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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1179–1183

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hofmann, Beate, u. Martin Büscher[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonische Unternehmen multirational führen. Grundlagen – Kontroversen – Potentiale.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2017. 356 S. = Reihe Diakoniewissenschaft/Diakoniemanagement, 10. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-8487-4405-3.

Rezensent:

Thomas Zippert

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Moos, Thorsten [Hrsg.]: Diakonische Kultur. Begriff, Forschungsperspektiven, Praxis. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2018. 297 S. m. 3 Abb. = Diakonie, 16. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-17-032519-7.
Geyer, Christian: Arbeitsbeziehungen in der Diakonie. Demokratisches Bürgerethos als christliche Orientierung einer hybriden Sozialpartnerschaft. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2017. 381 S. = Reihe Diakoniewissenschaft/Diakoniemanagement, 9. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-8487-4327-8.
Höver, Hendrik: Wirksam Entscheiden. Handbuch für Führungskräfte in der Sozialwirtschaft. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2018. 304 S. m. 52 Abb. = Diakonie, 17. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-17-032517-3.
Körtner, Ulrich H. J.: Diakonie und Öffentliche Theologie. Diakoniewissenschaftliche Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. X, 256 S. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7887-3145-8.


Drei Themen sind in dieser Sammelrezension zu besprechen: 1. Diakonische Kultur, 2. Multirationale Organisationen – beide Themen sind am bzw. im Umkreis des Institutes für Diakoniegeschichte und Diakoniemanagement in Bethel entstanden – sowie 3. Diakonie als eine Form öffentlicher Theologie; alle drei ergänzen sich in der Zusammenschau gegenseitig.
1. Der von Thorsten Moos herausgegebene Band »Diakonische Kultur. Begriff, Forschungsperspektiven, Praxis« stellt die Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojektes der Forschungsstelle der Ev. Studiengemeinschaft (FEST) von 2011–2016 vor. Dieses Forschungsprojekt nähert sich dem »Programmbegriff« »Diakonische Kultur […] für die in einer säkularen Gesellschaft nicht mehr selbstverständlichen Sinnhorizonte diakonischen Handelns« bzw. der »Präsenz des Religiösen am Ort einer ausdifferenzierten Gesellschaft und Kultur« (9) aus mehreren Perspektiven: neben der Religion aus der Perspektive der Ökonomie und Managementlehre, Psychologie, Sozialanthropologie, Politik-, Rechts-, So-zial- und Kulturwissenschaften (auch wenn Letztere nur mager vertreten sind).
Unter dem Druck von »Professionalisierung, komplexer Organisation, Verrechtlichung und Ökonomisierung« ist Diakonische Kultur zum einen »durch die Suche nach sich selbst unter schwierigen Bedingungen, mithin durch eine Art defensiver Reflexivität gekennzeichnet« (9). Zum anderen sind es aufgrund der »Unbeherrschbarkeit des Kulturbegriffs« differierende Kulturbegriffe auf der durchaus heterogenen, aber als solche sachgemäßen »Suchbewegung nach ›diakonischer‹ Kultur« (10). Es wird das »kulturhermeneutische Defizit« (18) manch aktueller Diskussion um diakonische Kultur deutlich: Sie geht weder in Unternehmenskultur auf noch ist sie rein normativ, sondern auch empirisch zu verstehen und deshalb drittens auch nicht einfach auf christliche Grundbegriffe (»Menschenbild« u. a.) zu reduzieren, da schon diese »in sich differenziert und antagonistisch strukturiert« sind.
Der Band verhandelt diakonische Kultur an drei Orten: a) am Ort des Individuums (Kapitel 4) als Frage nach der verpflichtenden Spiritualität und Loyalität (beide ebenso erlebt wie gesollt), als Bildungs-, Beratungs- und Seelsorgeaufgabe, auch durch »Personalsymbole des Diakonischen« (175; Diakoninnen/Diakone), und so-gar am Ort der Nutzerinnen und Nutzer. Deren darüber hinaus-gehende Bedeutung für die Diakonie als ihr Ziel, Existenzgrund und prägende Alltagswirklichkeit wird in diesem Band nicht ausreichend und strukturbildend gewürdigt (wie disability studies oder praktisch-theologisch übliche Subjektorientierung nahelegen würden). Danach geht es b) um den Ort der Organisation (Kapitel 3) als Unternehmens-, Sorgsamkeits-, Führungs- und Erinnerungskultur samt »Ästhetiken des Helfens« (85), Operationalisierung im Alltag (QM) und bei Fusionen. Diakonische Kultur zeigt hier einige innere Spannungen, z. B. zwischen präskriptiven und normativen Aspekten, zwischen überindividuellem Geist und individueller oder organisierter Verwirklichung, zwischen symbolischen bzw. hermeneutischen und praxeologischen Ansätzen, »material bestimmt und zugleich konstitutiv unbestimmt« (86). Schließlich wird c) die diakonische Kultur am Ort der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Kapitel 2) behandelt – im Kontext von Christentum und Wohlfahrtsstaat, unter den Bedingungen von Ökonomisierung und den rechtlichen Regelungen des Sozialstaats. Deren überblendendes Mit- und Gegeneinander legt den Blick frei für interessante »Überschussmomente« und »Zwischengrößen« diakonischer Kultur (28).
Die 19 Beiträge des Bandes können nicht je für sich dargestellt werden; sie sind ähnlich aufgebaut und gut erschlossen, weil die Einleitungen der drei Kapitel die Beiträge und deren Diskussionen in der Forschungsgruppe zusammenfassen und in einem Schlusskapitel (5) die vielfältigen Dimensionen diakonischer Kultur(en) systematisierend, abwägend und füreinander öffnend zusammengeführt und außerordentlich weiterführend ausgewertet werden.
2. Der von Beate Hofmann und Martin Büscher herausgegebene Sammelband »Diakonische Unternehmen multirational führen. Grundlagen – Kontroversen – Potentiale« gibt einen Einblick in die wissenschaftliche Arbeit des »Instituts für Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement« (IDM) in den letzten Jahren und »sammelt Früchte der Arbeit des IDM« in Beiträgen von Kollegen, Weggefährten und Mitarbeitern anlässlich der Emeritierung des Kirchen- und Diakoniehistorikers Matthias Benad.
Der für die Selbstbeschreibung diakonischer Unternehmen heute programmatisch werdende Begriff der Multirationalität bzw. des multirationalen Managements wird in seinen »Grundlagen, Kontroversen und Potentialen« entfaltet, verstanden als »›Re­flexion und Gestaltung der organisationalen Wertschöpfung und deren Weiterentwicklung‹ in systemischer Perspektive« (14) im An­schluss an das vom IDM auf die Diakonie übertragene St. Galler Ma­nagement Modell von Johannes Rüegg-Stürm und Simon Grand.
Im grundlegenden Eröffnungsaufsatz entfalten Büscher und Hofmann den schon von anderen Theologen adaptierten Begriff, der die mehrfache Einbettung diakonischer Unternehmen in Wohlfahrtsstaat, Sozialgesetzgebung, Fachlichkeiten, Sozialmarkt, aber auch in Kirche und Zivil- bzw. Bürgergesellschaft als eine Situation fasst, in der »unterschiedliche Rationalitäten aufeinander treffen« und Entscheidungsträger vor komplexe Entscheidungsaufgaben stellen (20). Multirationalität fokussiert auf »die Konsequenzen, die sich aus der pluralistischen Verfasstheit diakonischer Unternehmen für das Management dieser Unternehmen ergeben« (ebd.), wenn sich verschiedene »Handlungslogiken« mit unterschiedlichen »Sinnhorizonten« (22), Begründungen und Ansprüchen auf Gültigkeit oft unverstanden gegenüberstehen. Je nach Zugang erscheint die Organisation in anderer Gestalt – ebenso wie deren Leitung, Fachkräfte und Nutzer in unterschiedlichen Rollen. Das erfordert zumindest Grundkompetenzen bzw. Schnittstellen-Wissen in relevanten Fachlichkeiten bzw. für diesbezügliche Vermittlungs- und Verständigungsprozesse (44).
Im Anschluss werden die dazu passenden Wege hybrider Strategiebildung (Haas/Wasel), die Entscheidungsfindung (Höver) und die Netzwerkbildung (Böckel) entfaltet; mit wenig Bezug auf den Zentralbegriff die christliche bzw. theologische »Modellierung« von Führung (Krolzik) und die Faktoren und Typen der Mitarbeitendenbindung am Beispiel der Leitung von Altenheimen (Polenkse).
Im zweiten Teil wird das Konzept vor allem genutzt, um die Verortung und das Verhältnis von Kirche und Diakonie aus unterschiedlicher Perspektive und Thematik klarer zu analysieren, zu bestimmen und so besser gestaltbar zu machen. Hofmann reflektiert das spezifische Kirchesein von Diakonie (und umgekehrt!) als »Resonanzraum im Horizont des Evangeliums« (164) und schließt insofern an das Kulturthema an. Sie markiert die systematischen Leerstellen, organisationale bzw. juristische Gestaltungsaufgaben und verweist gegenüber hier und da laut werdenden Abkoppelungsbestrebungen auf die bleibende, vielfache Angewiesenheit von Diakonie auf Kirche. Bartels plädiert aus ostdeutschem säku­-larisiertem Kontext heraus gegen »deduktive und homogenisierende« Passungen beider und für ein der wachsenden religiösen In-differenz gerecht werdendes, an gesellschaftlichen Setzungen (Inklusion und universal design) wie an den Nutzern orientiertes »kirchlich-kulturchristliche[s] Netzwerk« (175.179 f.188) – im Band der einzige Beitrag, der die Führungsperspektive auch verlässt. Ob sich diakonische Einrichtungen als Gemeinde rekonstruieren und so wieder näher an verfasste Kirche rücken lassen (Rannenberg), ist insofern bedenkenswert, als dadurch die Repräsentanz von Diakonie im Rahmen der Kirche ebenso wie die pastorale und sozialräumliche Verzahnung beider deutlich verbessert werden könnte. Schildmann und Hamburger arbeiten erstmals Geschichte und Spezifika kreiskirchlich verankerter Diakonie heraus, deren kirchliche, politische, regionale und kommunale Einbindung ein Beispiel für Multirationalität ist; Hamburger tut dies aus der hochinteressanten diakoniehistorischen Perspektive Wuppertals. Krey stellt den Grenzgänger und Systemwechsler Friedrich Naumann und seine »Prognosen zur Diakonie als Modell für zivilgesellschaftliches Engagement« vor; Naumann, immerhin für zwei Jahre Oberhelfer im Rauhen Haus, »verkörpert ein multirationales Denken« (239 f.).
Das dritte Kapitel widmet sich den Potentialen bzw. der Zu­kunft diakonischer Unternehmen. Haas und Starnitzke verknüpfen internationale Modelle von Sozialraumorientierung mit Multirationalität am Beispiel eines deutschen Modellprojekts: ob der Widerspruch von Anbieter- und sozialräumlicher Vermittlerrolle in einem Unternehmen überzeugend gemanagt werden kann? Schöttler entfaltet, wie Multirationalität zum Innovationsmotor werden kann. Brink bringt mit historischer Tiefenschärfe den Begriff der »Kooperationsökonomie« ein, um die Arbeitsweise von an Sachzielen orientierten Non-Profit-Unternehmen gegenüber denen mit reiner Gewinnorientierung profilieren zu können.
Der Band zeigt, obwohl meist in Engführung auf die Führungsperspektive, die Leistungsfähigkeit des Konzepts, auch wenn die oft sehr besonderen Rationalitäten von Nutzern und Fachkräften meist noch außen vor bleiben. In zwei weiteren Arbeiten aus dem Umfeld des IDM wird hier weitergedacht:
Christian Geyers Dissertation am IDM zu »Arbeitsbeziehungen in der Diakonie« dekonstruiert diejenigen des zweiten und dritten Weges und stellt sie neu auf die Füße einer demokratischen (Wirtschafts-)Bürgerethik, wo freie Bürger und nicht abhängige Arbeitskräfte neben anderen Kapitalgebern ihr (Human-)Kapital einbringen, mitbestimmen und das Unternehmen als korporativen Bürger begründen (238 ff.258 ff.). Als »realistische Utopie« entwickelt er neue Formen, Foren und Diskurse der Mitbestimmung in demokratischen Unternehmen (145; Kapitel 4 f.). Diese multirationale Sicht von Arbeitsbeziehungen lässt sich diakonisch profilieren (293.303) und führt m. E. über das aporetische Patt von zweitem und drittem Weg weit hinaus.
An diesem Punkt denkt Hendrik Höver weiter. Er stellt praxisnah vor, wie es unter den genannten Bedingungen zu »Wirk­sam[em] Entscheiden« kommen kann. Strukturierte und selbstreflexionsfähige Entscheidungsprozesse (Kapitel 3–5) koppeln eine Vielzahl von Referenzsystemen und deren Rationalitäten und erfordern bei Widersprüchen ein multirationales Management. Deren Referenzrahmen als Verantwortung der »Führungsmannschaft« (Kapitel 6; 291) verfährt dann freilich mehr managementmäßig als auf aktuellem Stand der Ethik. Weder das Bild der »Sinnmitte« noch das des »normativen Sinnhorizont[es]« (202 ff.) noch das starre Bild der »theologischen Führungsachse« (A. Jäger) wird der organisationalen Dynamik und Pluralität aller Beteiligten gerecht, weil ja nicht nur Fachkräfte (mit Geyer) als Bürger, sondern mit ihnen auch die Nutzer als theologische Subjekte zu gelten haben. Letztere werden zwar zu »Co-Produzenten« und zum »Zentrum aller Entwicklungsanstrengungen« (1.204), aber nicht daran beteiligt. Hier hat das Konzept der Multirationalität noch »Luft nach unten«.
3. Ulrich H. J. Körtners Aufsatzsammlung »Diakonie und Öffentliche Theologie« nimmt nun wieder eine weite Perspektive ein und weist auf, dass auch »Diakoniewissenschaft, diakonische Ethik und diakonische Theologie grundsätzlich als Gestalt öffentlicher Theologie zu verstehen sind, ist doch Diakonie gleichermaßen Ort wie Akteur öffentlicher Theologie. […] Sie beteiligt sich zugleich an den öffentlichen Diskursen über Menschenwürde und Menschenbild, Gerechtigkeit und Solidarität, kurz: an der Diskussion darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen«, auch in Europa (V; Kapitel 2 f.7). Im Mittelpunkt stehen Fragen des christlichen Ethos (»Liebe als transmoralische Grundorientierung«; Kapitel 4.3) und diakonischer (Bereichs-)Ethiken, immer die Waage haltend zwischen Freiheit und Liebe, Autonomie und Angewiesenheit, Selbstsorge und Fürsorge, Gelingen und Scheitern, individuellen und sozialen Gütern, Pflichten und Tugenden (vor allem Kapitel 8). Er argumentiert im Dialog mit vielen für Diakonie (und Kirche) relevanten Fachwissenschaften in Bezug auf prekäre gesellschaftliche Problemlagen, wie den Umgang mit Inklusion, Alter und Demenz (Kapitel 5; 8; 10 f.). Auch wenn hier spezifische kulturelle und organisationale Perspektiven fehlen, hilft die Orientierung an der Perspektive der Nutzer und Fachkräfte der theologischen Grundierung und Zielorientierung von Diakoniewissenschaft und diakonischer Praxis.