Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1177–1179

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Merle, Kristin, Eisel, Bernhard, u. Birgit Weyel[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schaustellerseelsorge. Interdisziplinäre Zugänge zu Lebenswelt und Religion von Menschen ›auf der Reise‹.

Verlag:

Gera: Garamond – Der Wissenschaftsverlag (Format Verlagsgruppe) 2017. 420 S. = Interdisziplinäre Studien zur Praktischen Theologie. Kart. EUR 35,90. ISBN 978-3-946964-09-4.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

Dieser Band – Ertrag eines DFG geförderten Forschungsprojektes und einer zugehörigen Tagung in Tübingen – ermöglicht den Le­senden Ausflüge in eine Lebenswelt, die für die meisten fremd sein dürfte. Allenfalls gibt es Kindheitserinnerungen an Jahrmarkt und Kirmes, an fremde Kinder, die nur für kurze Zeit zu Besuch in der Schulklasse waren, an Schießbuden und Karussells, Bratwürstchen und Zuckerwatte. Auch in der Forschung sind die Schausteller bisher wenig im Blick. Dies gilt erst recht für den Bereich der Schaustellerseelsorge, einem von wenigen Hauptamtlichen be­spielten Gebiet der sogenannten Sonderseelsorge. Jene aber – so kann man dem Band entnehmen – sind für die religiöse Begleitung ihrer Zielgruppe von erheblicher Bedeutung.
Die ersten drei Teile des Buches widmen sich der sozialwissenschaftlichen, historischen und praktisch-theologischen Erkundung des Forschungsfeldes. Soweit das – eher spärlich – vorhandene Material dies zulässt, ergeben sich interessante Einblicke in die Sozial- und Kulturgeschichte des Schaustellergewerbes, das sich im Laufe des 19. Jh.s aus der Gruppe fahrender Handwerker, körperlich Beeinträchtigter und wirtschaftlich Notleidender heraus entwi-ckelt hat (u. a. Faber, Girtler). Nicht selten waren es Sinti oder Roma bzw. Menschen in deren sozialem Umfeld, die ihren Lebensunterhalt auf beständiger Reise von Jahrmarkt zu Jahrmarkt verdienten. Zuweilen ist dies die Geschichte bedeutsamer und einflussreicher Familien, die mit zahlreichen Fahrbetrieben großen Wohlstand erwirtschaftet haben. Oft aber sind es Kleinunternehmer, deren wirtschaftliches und soziales Wohlergehen beständig gefährdet ist. Sie entwickelten eine eigenständige Kultur, benutzen teils bis heute eine eigene Sprache.
Die mobile Lebensweise prägt die Feste und die religiöse Identität. Der Aufbruch in die Saison oder die Einweihung eines neuen Fahrgeschäftes bilden neben den vertrauten Kasualien der Lebensgeschichte spezifische Festanlässe, an die sich religiöse Übergangsrituale und Gottesdienste anschließen. Hier sind die Seelsorger und Seelsorgerinnen von den Schaustellern sehr gefragt. Religiös zu sein und den Kontakt zu den Repräsentanten der christlichen Religion zu suchen, so wird aus den Beiträgen Bernhard Eisels, Volker Drewes’, Anna Lipphardts und Peter Wendls deutlich, ist mindestens für die traditionellen Angehörigen des Schaustellergewerbes meist selbstverständlich. Das gilt jedenfalls, wenn die Seelsorgenden sich als vertrauenswürdige Personen erweisen, die sich auf die besondere Situation und Kultur ihrer Gemeinde einlassen. Die qualitativ-empirische Studie von Eisel zeigt auf, dass die physischen und ökonomischen Gefährdungen des Gewerbes das Dasein mit gesteigertem Kontingenzbewusstsein erfüllen und entsprechend auch eine spezifische religiöse Ansprechbarkeit hervorbringen. Wer viel unterwegs ist, sucht den Halt des Rituals und des Glaubens. Ebenso die Probleme einer Partnerschaft beim Leben unterwegs und die beständige Sorge um die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder und Jugendlichen stellen Anknüpfungspunkte für seelsorgerliche und diakonische Interventionen dar. Am Rand wird wiederholt angesprochen, dass sich das Gewerbe in den letzten Jahrzehnten grundlegend verwandelt. Neben die traditionell en Schaustellerfamilien treten in wachsendem Maß angestellte Arbeiter mit Migrationshintergrund, deren Leben noch deutlich härter und ungesicherter ist als das ihrer Chefs. Anscheinend ist der Kontakt zur Seelsorge zu dieser Gruppe aber schwieriger und schwächer.
Der vierte Teil des Buches reflektiert praktisch-theologisch, welche Anstöße für die klassischen Felder der Praktischen Theologie aus der Beschäftigung mit der Lebenswelt der Schausteller erwachsen können. Die Autorinnen und Autoren nehmen das Thema zum Anlass, um »grundlegende Perspektiven einer lebensweltorientierten, methodisch und religionstheoretisch reflektierten und kulturwissenschaftlich informierten Praktischen Theologie« (11) zu entwickeln. Das ist ein großer Anspruch, der in den Beiträgen nur zum Teil eingelöst wird. Eher ist es so, dass die Lebenswelt der Schausteller zum Anlass wird, den eigenen – andernorts bereits entwickelten – Ansatz noch einmal darzustellen und ihn auf das Thema des Bandes hin anzuwenden. Dass die Mobilität und Fra-gilität des Lebens der Schausteller ihre eigene Herausforderung an die »Seßhaften« darstellt, macht u. a. Ottmar Fuchs zum Thema: Sein Ausflug in die Literatur und die Kunst lässt erkennen, dass die Welt von Zirkus und Jahrmarkt ein Sehnsuchtsthema repräsentiert, das dazu angetan ist, die Grenzen des bürgerlichen Daseins zu sprengen oder mindestens durchsichtig zu machen hin auf die mögliche Freiheit eines anderen Lebens. Ebenso aber kommt die wachsende Fragilität der modernen Lebensweise überhaupt in den Blick, wenn man sich auf das Leben und die Kultur der »Fahrenden« einlässt. Dass auch die Kirche in der heutigen religionskulturellen Situa­- tion, die von Pluralität, Mobilität und Migration geprägt ist, zwangsläufig in Bewegung kommen muss, liegt auf der Hand. Aufmerksamkeit für die kleinen, spezifisch geprägten Gruppen wie die Schausteller kann den Blick für die kulturelle Diversität der Gesellschaft überhaupt schärfen. Allerdings zeigt sich ebenso, dass die Religion für die Menschen unterwegs Halt und Stabilität – etwas wie eine mobile Heimat – verspricht und insofern eher konservativ orientiert ist (Hermelink). Mobilität der Lebensweise und Ortsgebundenheit der Kirchen müssen deshalb vielleicht keinen Widerspruch darstellen (Kretzschmar).
Insgesamt bietet das Buch interessante Einblicke in eine weitgehend unbekannte Welt, die manchen Anschluss an die Frage ermöglichen, wohin Praktische Theologie und kirchliches Handeln sich in Zukunft wenden könnten.