Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1168–1169

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Becker, Patrick

Titel/Untertitel:

Jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit. Zu einem christlichen Wahrheitsverständnis in der (post-)modernen Gesellschaft.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2017. 384 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-37659-7.

Rezensent:

Lukas Ohly

In der katholischen Theologie ist eine Entwicklung im Gang, sich für die Pluralität religiöser Auffassungen zu öffnen und dabei insbesondere Anleihen im Pragmatismus zu nehmen. Die Arbeit Patrick Beckers, die 2016 an der Universität Salzburg als Habilitationsschrift angenommen worden ist, nimmt daran unter einer wahrheitstheoretischen Fragestellung teil. B.s Ausgangsthese lautet, dass die hart geführten Auseinandersetzungen um konkrete kirchliche Handlungen innerhalb christlicher Konfessionen »nicht zu erklären« (11) wären, wenn dabei keine tiefliegenden gegensätzlichen Wahrheitsverständnisse kollidieren würden: »Es geht um die Frage, ob man an die eine Wahrheit glaubt […] oder ob man von einer Pluralität von Wahrheiten ausgeht.« (11) Diese Frage beruhe letztlich auf verschiedenen Weltbildern (272), die wiederum nicht rational erschlossen, sondern nur persönlich entschieden wer-den könnten (48). Logische Zirkelschlüsse (118.333) belegten, dass der Gegensatz zwischen »absolutistischer« und »relativistischer« Wahrheitsauffassung (47) nicht rational vermittelt werden könne und es somit »keinen Mittelweg gibt« (272). Zugleich seien Personen aber in der Lage, beide Auffassungen zu integrieren: »Den Relativisten oder Absolutisten gibt es schlichtweg nicht«, denn »der Mensch kann widersprüchliche Erfahrungen, widersprüchliche Überzeugungen und widersprüchliche Handlungen durchaus in bestimmtem Umfang integrieren« (327). Dass dahinter keine exis-tenzielle Täuschung, sondern umgekehrt eine wahrheitstheore-tische Pointe liegt, scheint B. letztendlich klären zu wollen, wie ich hier zeigen möchte.
Selbst will er sich nicht eindeutig positionieren. Vielmehr nimmt er eine »Meta-Metaebene« und »Beobachterperspektive« ein (14), um Verständnis für beide Wahrheitsauffassungen zu entwi-ckeln (49). Diese Metaebene zeigt sich in einer durchgehend historischen Aufarbeitung der beiden Wahrheitsauffassungen in der europäischen Geistesgeschichte, wobei B. zwischen der Scholastik und dem 19. Jh., offenbar aus arbeitsökonomischen Gründen (62), eine Lücke lässt. Insgesamt liegt die Meta-Metaebene nicht in einer Theorie über Wahrheitstheorien, sondern im historisch-hermeneutischen Erschließungsprozess sowohl absolutistischer als auch relativistischer Auffassungen.
Dabei hebt B. in seinem zweiten Kapitel bei Platons absolutistischer Position an (72 ff.), der er den skeptischen Sextus Empiricus gegenüberstellt (81 ff.). In einem dritten Kapitel entwickelt er die absolutistische Perspektive katholischer Lehre, ausgehend von Augustin (110 ff.) über Thomas (127 ff.) bis zu Papst Pius IX. (138 ff.). Nachdem B. die Kriterien des Fundamentalismus rekonstruiert (151 ff., insbesondere 169), weist er nach, dass der absolutistischen Auffassung der Kurie des 19. Jh.s kein Fundamentalismus entspricht (170 ff.). Im vierten Kapitel zeichnet B. Entwicklungslinien relativistischer Positionen nach, beginnend mit Nietzsche über Wittgenstein und Lyotard zum amerikanischen Pragmatismus (Peirce, James). Dabei erhält auch der Begriff der Postmoderne eine historisch entfaltete Bestimmung (231 ff.).
Die Originalität der Arbeit besteht weder in der Auswahl der behandelten Autoren noch in ihrer Darstellung als vielmehr darin, dass er sie auf den Wahrheitsbegriff fokussiert. Es ist ein geschickter Schachzug, dass die Leser die Autoren wiedererkennen und zugleich ihre Grundlegungen als wahrheitstheoretische Zuspitzungen nachvollziehen können. Überhaupt zeigt sich B. als geschickter Pädagoge, der mit seinen häufig narrativen oder biographischen Veranschaulichungen (z. B. 36 ff.63 ff.178 ff.198 ff.) die L ust an der spröden »Metaebene« von Wahrheitskonzepten (14) wecken kann, die sich zugleich durchhält. Mit diesen narrativen Zugängen scheint auch eine konzeptionelle Idee verbunden zu sein, da immerhin für die relativistische Auffassung »Wahrheit und ihre Inszenierung« (43) in Verbindung stehen können (vgl. 86).
Ich bekam allerdings den Eindruck, dass B. in seiner angeblichen Beobachterperspektive nicht verbleibt, sondern mit der relativistischen Perspektive sympathisiert (insbesondere in pragma-tistischer Spielart, 223.318). Zwar verbleibt auch das fünfte Kapitel, das die Heuristik relativistisch/absolutistisch auf gegenwärtige innerkatholische Debatten anwendet, weitgehend im Referatstil, was sich erst ab S. 310 auflockert. Dennoch schimmert dabei ein Punktvorteil relativistischer Positionen durch, der sich spätestens in Kapitel 3 anbahnt. Zumal wenn die Gegenüberstellung relativis-tisch/absolutistisch nur eine heuristische Vergröberung meint (266), sind schon Forderungen nach »Selbstrelativierung« (50.335) eine Abweichung von der absolutistischen Auffassung. Wenn kein W ahrheitsverständnis »als das objektiv bessere verkauft werden kann«, so zeigt bereits B.s Methode der »Beobachtungsform […] einen genuin relativierenden Zug« (333). Dialektisch gibt er damit der relativistischen Wahrheitsauffassung den Vorzug. B. kaschiert entweder dieses Ergebnis oder traut ihm nicht, so dass dieser Vorzug weitgehend nur in Andeutungen verbleibt: An manchen Stellen besitzt nur die absolutistische Auffassung eine kritische Rückseite (282.333), während Charakterisierungen des Relativismus (»atmet […] eine Offenheit«, 329) eine Wertschätzung B.s verraten, der seinen Beobachterposten verlässt. Zwar »besteht die nötige Selbstrelativierung relativistischer Ansätze darin, einen eigenen letzten Wahrheitsanspruch zuzugestehen« (304), wie B. mehrfach belegen kann (z. B. 253.285). Aber darin besteht gerade keine Abweichung vom Relativismus, sondern dessen performative Durchsetzung.
Mir scheint die Gegenüberstellung der beiden Wahrheitsauffassungen nicht immer klar zu sein. B. ordnet die absolutistische tendenziell einer ontologischen und die relativistische einer erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise zu (53.68.71 ff.83.85.132.190). Ist das so, so widersprechen sich beide Auffassungen nicht, sondern beziehen sich auf unterschiedliche Probleme. Wahrheits- und Erkenntnistheorie können ihre Ergebnisse unabhängig voneinander erzielen. Dass die absolutistische Wahrheitsauffassung in der Geistesgeschichte »ontologische« Überzeichnungen findet (75.80. 114.117), spricht nicht gegen eine sinnkritische Beschreibung eines absolutistischen Wahrheitsverständnisses (Tarskis Wahrheitsdefinition wird an keiner Stelle erwähnt). Mit ihr könnte der Konflikt entschärft werden, indem die Positionen unterschiedlichen Be­griffsebenen zugeordnet werden.
Die Folgen des Ergebnisses dieses Buches wären für die evangelisch-katholische Ökumene ein Meilenstein. Wenn das katholische Lehramt Wahrheitsansprüche »in vorläufiger Form zu sagen« wagt (329), weil Gottes »Unerreichbarkeit innerhalb der Welt« eine »postmodern-relativistische Philosophie im christlichen Denken« (310) erfordert, kann sich die Eindeutigkeit Gottes (309) nicht in einer Eindeutigkeit der Kirche niederschlagen (317.318). B. versucht die Institution Kirche relativistisch mit Geschichtlichkeit und Notwendigkeit von Tradition zu begründen (321). Dass dies keine Marginalisierung des Lehramtes bedeutet (321), leuchtet dann aber nicht ein, weil die Kirche nicht mehr als exklusive Heilsanstalt verstanden werden kann.