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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1162–1164

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schäufele, Wolf-Friedrich

Titel/Untertitel:

Christliche Mystik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 256 S. = Theologische Bibliothek, 4. Geb. EUR 25,00. ISBN 978-3-7887-3163-2.

Rezensent:

Andreas Müller

Die Bedeutung von Mystik für die christliche Theologie und Praxis hinterlässt zunehmend auch in kleineren Überblickswerken über theologische Themen ihre Spuren. Grund dafür mag die Beobachtung sein, dass Mystik gelegentlich »zum Inbegriff einer modernen, zeitgemäßen Religiosität« (12) stilisiert wird. Nach dem bahnbrechenden Bändchen in der Beck’schen Reihe zu dem Thema von Volker Leppin hat nun ein weiterer Reformationshistoriker einen Überblick über die christliche Mystik in der Reihe Theologische Bibliothek vorgelegt. Der Marburger Theologe Wolf-Friedrich Schäufele bietet damit einen sehr gut lesbaren Einblick in gut 2000 Jahre christlicher Mystik von den Anfängen des Christentums bis in die Moderne.
Der Überblick ist entsprechend der Qualifikation S.s historisch gestaltet. Gleichwohl bietet die Einleitung aber auch einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema Mystik, die in ihrer Knappheit den besonderen Reiz des Buches ausmachen.
S. bindet dabei Mystik eng an die religiöse Erfahrung (14). Er distanziert sich von der Vorstellung einer »universalen Mystik«, wie sie insbesondere von der Religionswissenschaft oft behauptet wird (16 f.) – »vor-religiöse Mystik« komme nicht vor, sie ist vielmehr eingespannt in einen »vorgängigen Deutehorizont« (17). Mystik ist ferner immer auch mit »rationalen Elementen« verbunden, keineswegs »per se irrational« (19). Besonders bemerkenswert ist der Versuch S.s, anders als der Germanist Kurt Ruh und in dessen Gefolge Volker Leppin Mystik nicht als literarische Gattung zu definieren. Er umreißt sie vielmehr – in Anlehnung an Bernard McGinn – als »eine besondere Form christlicher Religiosität«, »die auf die unmittelbare Erfahrung einer Begegnung und Vereinigung des Gläubigen mit Gott zielt« (23). Dabei geht es nicht um die Erfahrung an sich, sondern vielmehr um einen »Frömmigkeitsstil« (24). Die im vorliegenden Buch angebotene Mystik-Definition lässt sich diskutieren. Fraglich ist z. B., ob wirklich jede Form von Mystik auf »Vereinigung mit Gott« zielt – S. selbst bemerkt dies einschränkend auch (25). Dabei berücksichtigt er allerdings noch zu wenig, dass gerade moderne Ansätze in der Mystik oft gänzlich auf ein (personales) göttliches Gegenüber verzichten.
Sehr hilfreich ist die kleine Typologie der Mystik, die S. bietet (26–30). Dabei verweist er auf die traditionellen Unterscheidungen zwischen exklusiver und inklusiver Mystik, Aufstiegs- und Ab-stiegsmystik, Vernunfts- und Liebesmystik bzw. spekulativer und affektiver Mystik, Seinsmystik und Willensmystik, Gottesmystik und Christusmystik sowie Brautmystik und Passionsmystik. Letztlich kann man nach S. auch noch unterschiedliche soziale Kon-texte von Mystik wie diejenige verschiedener Orden oder auch verschiedener Sprachen, in denen mystische Zeugnisse überliefert werden (u. a. auch volkssprachliche Mystik), unterscheiden.
Grundlegend ist für S. die Beobachtung, dass Mystik »immer nur in konkreten historischen Kontexten zu haben und zu rekonstruieren ist«, was auch zu einer »historischen Behandlung« derselben führt (30). Leider ist dieser vielversprechende Ansatz nicht konsequent verfolgt worden – so werden die historischen Rahmenbedingungen und deren Einfluss auf mystische Konzepte häufig – natürlich entsprechend des geringen Umfangs des Buches – nur angedeutet. Dennoch kann die Vorgabe, sich an ausgewählten »Mystiker-Persönlichkeiten« zu orientieren, weil eine Geschichte der Mystik den »Blick auf die einzelnen Persönlichkeiten« nicht entbehren kann (30), als grundsätzlich gelungen betrachtet werden. Beachtenswert ist dabei, dass auch sonst eher am Rande be-handelten Mystikerinnen umfassend Raum gewährt wird (125–150).
Der Band basiert an vielen Stellen deutlich auf Vorarbeiten, u. a. auf dem ausführlichen, fünfbändigen Überblick über die abendländische Mystik von Bernard McGinn. Darüberhinaus wurde aber auch Sekundärliteratur zu Spezialthemen hinzugezogen und präzise und knapp zusammengefasst. Gelegentlich werden dadurch vergleichbare Themen bei Mystikern und Mystikerinnen unterschiedlicher Epochen wiederholt – eine noch stärkere Zuspitzung auf die Besonderheiten und die Neuerungen der einzelnen Gestalten hätte deren Darstellung an manchen Stellen noch prägnanter werden lassen können.
Die einzige generelle Schwäche des Überblickes liegt m. E. darin, dass die Ausblicke in die moderne Mystik nach der Frühen Neuzeit sehr knapp ausfallen. Die Zeit nach dem Pietismus umfasst gerade einmal sieben von insgesamt fast 250 Druckseiten. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass die zeitgenössische Mystik allenfalls einen Atavismus früherer Phänomene darstellt. Der ganze Bereich der Erweckungsbewegung oder der Mystik in anderen konfessionellen Ausprägungen als denen der drei großen Konfes sionen fehlt vollkommen. Nur wenige Persönlichkeiten werden be­nannt, Einflüsse der Mystik aber selbst auf evangelische Theologie prägende Gelehrte wie Friedrich Schleiermacher (11) nur ganz am Rande rezipiert. Große Persönlichkeiten in der katholischen Mys-tik wie z. B. Madeleine Delbrêl fehlen vollständig. Und auch die Ak-tualität des Palamismus im Bereich der orthodoxen Ostkirchen wird nur ganz kurz gestreift (93 f.), was aber angesichts der Fokussierung auf die lateinisch geprägte Christenheit (30) verständlich ist.
Einige Details ließen sich durchaus noch weiter diskutieren. So leuchtet mir nicht ein, dass die Mystik bis in das 12. Jh. »fast ausnahmslos als Bibelauslegung« betrieben wurde (34). Lassen sich ein Evagrios Pontikos oder ein Johannes Sinaites, lässt sich selbst ein Augustin bei der Erarbeitung mystischer Konzepte lediglich als Bibelausleger verstehen? Lässt sich wirklich im Bezug auf die Bibel der Unterschied der christlichen Mystik gegenüber den »Mystiken« der anderen Religionen festmachen?
Unpräzise ist der Vergleich der Gnostiker mit den Neuplatonikern. Letztere haben nicht formuliert, dass der »Personkern des Menschen in der materiellen Welt gefangen sei« (46) – in Enneade II 9 hat sich Plotin vielmehr explizit von solchen dualistischen Vorstellungen der Gnostiker abgesetzt.
Wenn S. zwei Grundformen des Mönchtums, die anachoretische und die koinobitische, unterscheidet (55) und dabei die Semianachorese ausblendet, übersieht er eine wesentliche Trägergruppe antiker Mystik. Gerade in den semianachoretischen Kreisen ist mystische Praxis gepflegt worden.
Das Laster der Akedie bei Evarios ist nur sehr schlecht mit »Trägheit« zu übersetzen (57). Vielmehr handelt es sich um eine Art orientierungsloses Getriebensein.
Von Johannes Klimakos ist nicht nur seine Leiter erhalten (77). Vielmehr gibt es von ihm auch einen Abtspiegel (An den Hirten) und einen Brief an Johannes von Raithu.
M. E. liegt die besondere Bedeutung der Klimax des Johannes darin, dass er sie für alle Menschen als realisierbar ansieht – daher lässt sich die Behauptung kaum halten, dass eigentlich nur Eremiten den Aufstieg vollziehen können (78). Das Besondere der Leiter liegt gerade darin, dass sie ein geistliches Konzept für alle monastischen Trägergruppen praktikabel erscheinen lässt.
Terminologisch sollte man differenzieren und im 15. Jh. nicht von »türkischer«, sondern von »osmanischer« Herrschaft in Kleinasien sprechen (88). Inwiefern S. das Neamţ-Kloster im 18. Jh. »im rumänischen Teil des Fürstentums Moldau« verortet (91), ist mir nicht ganz klar. Die Nationalstaatsgrenzen gelten erst seit dem 19. Jh.!
Unklar bleibt, wie bei Gertrud von Helfta in einer Vision das Herz Christi das Herz der Mystikerin durchbohren konnte (146).
Ob Luthers Rückgriff auf die Mystik »im Ganzen […] eine Episode« blieb (221), ließe sich noch diskutieren – S. versteht den Reformator hier jedenfalls anders als z. B. Volker Leppin in seinem Buch »Die fremde Reformation«. Ersterer geht nämlich von »grundlegenden Differenzen zwischen der reifen reformatorischen Theologie Luthers und der mystischen Theologie« aus (221). S. sieht wohl etwas zu pointiert die Differenz u. a. im »extra nos« »des heilschaffenden Gotteswortes« (222).
Der Band ist hervorragend redigiert – nur wenige Druckfehler sind zu finden. Insgesamt ist festzuhalten, dass S. einen sehr gut lesbaren Überblick über ein wichtiges Thema der Theologie verfasst hat, der in keiner theologischen Handbibliothek fehlen sollte.