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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1158–1160

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bienert, Maren

Titel/Untertitel:

Protestantische Selbstverortung. Die Rezensionen Ernst Troeltschs.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. X, 206 S. = Troeltsch-Studien. Neue Folge, 5. Geb. EUR 74,95. ISBN 978-3-11-036213-8.

Rezensent:

Christian Polke

Das wissenschaftliche Œuvre großer Gelehrter, durchaus nicht nur in männlicher Gestalt, kann sich sehr unterschiedlich zur Darstellung bringen. Auf der einen Seite stehen da Denker, deren intellektueller Werdegang wie deren Vermächtnis sich vornehmlich in sogenannten »großen Büchern« niederschlägt. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die das Genre der geistreichen wie tief-sinnigen Essays bis zur Formvollendung gebracht haben. Und schließlich fallen einem Namen ein, deren Werdegang und – vielleicht mehr noch – deren eigene Position untrennbar mit der Bereitschaft verbunden sind, sich in fast grenzenloser Manier mit der intellektuellen Lage, den Debatten ihrer Zeit, wie sie vor Disziplingrenzen nicht haltmachen, auseinanderzusetzen. Keine Frage, Ernst Troeltsch gehört aufs Mindeste auch zu dieser dritten Gattung der Spezies »Wissenschaftler und Intellektuelle«. Über 1300 Buchbesprechungen verdanken wir ihm, verstreut über alle Jahrzehnte seines wissenschaftlichen Wirkens hinweg, von den späten 1880er Jahren an. Sogar sein Opus magnum, »Der Historismus und s eine Probleme«, wurde von mancher Seite als eine megaloma-nische Großrezension in systematischer Absicht verstanden. So wenig zutreffend dies auch sein mag, überraschend ist allemal, dass seine »Rezensionen als eigenständige akademische Textgattung […] weitgehend unbeachtet und unerforscht« (2) sind, wie Maren Bienert, die heute in Hildesheim Systematische Theologie lehrt, gleich zu Beginn ihrer Arbeit über die Rezensionen Ernst Troeltschs treffend be­merkt. Das ist in diesem Fall umso bedauerlicher, weil damit ein spezifischer Zugang zur Theorie- wie Werkentwicklung dieses Denkers (und nicht nur dieses!) bislang unterbelichtet blieb. Dabei ist die Quellenlage dank der stetig anwachsenden, vorzüglichen Kritischen Gesamtausgabe einigermaßen klar greifbar. Umso er­freulicher ist es daher, dass B. in ihrer Göt tinger Dissertation diesem Desiderat an theoriegeschichtlicher Forschung erste Abhilfe zu schaffen vermag.
Die in vier Teile gegliederte Arbeit verfolgt das ebenso klare wie methodisch sinnvolle Ziel bzw. »Interesse einer theologisch-profiltheoretischen Rekonstruktion Ernst Troeltschs im Medium seiner Rezensionen« (11). Dabei gelingt B. das Kunststück, die systematische Ausrichtung ihrer Untersuchung nie aus dem Auge zu verlieren. Troeltschnah beleuchtet sie dessen Kommentierungen von »Kant-Figurationen«, wie man sie einschlägigen Kant-Interpretationen der damaligen Zeit entnehmen kann (vgl. 13–41), die Auseinandersetzungen um den Stellenwert von Metaphysik (vgl. 43–91) sowie die Debatten um die Bedeutung des Protestantismus (vgl. 92–155) und um den Status von Geistes- und Kulturwissenschaften (vgl. 155–183).
Stets steht B. wie dem Autor selbst ein genuin religionstheoretisches Interesse vor Augen. Darüber lassen sich dann auch die Konturen eines theologischen Profils des Denkers Troeltschs erheben und beschreiben, wie sie in seiner offensiven Anteilnahme an zeitgenössischen Diskursen zum Ausdruck kommt. Kein Abschnitt seiner Werkentwicklung bleibt dabei ausgespart. Zugleich vermag es die geschickte Auswahl der Rezensionen und die thematische Fokussierung, den inneren systematischen Zusammenhang der behandelten Theorieaspekte zu erhellen. Kant als der »Philosoph des Protestantismus« (J. Kaftan) dient dabei nicht nur als »anregender Fundus ungelöster Probleme« (36). Mit und an ihm gelingt es Troeltsch auch, unter nach-kritizistischen Verhältnissen den Problemen von Relativem und Absolutem, von Religion und Geschichte, sowie dem Geltungsanspruch von Wissenschaft unter historis-tischen Bedingungen nachzugehen. Besonders deutlich kommt dies in der Arbeit von B. bei der Interpretation von Rezensionen heraus, in denen Troeltsch mal mehr beiläufig, mal mehr programmatisch, seine hochumstrittene Theoriefigur des »religiösen Apriori« zu umschreiben versucht. Am konkreten Beispiel ihrer Besprechung der Troeltsch’schen Besprechung des Buches des späteren Tübinger Ordinarius Traugott Konstantin Oesterreich über »Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem« aus dem Jahre 1915 legt sie knapp wie präzise dar, worum es Troeltsch mit seinem »religiösen Apriori« – durchaus im Gefolge seiner Kant-Lektüren – ging: Ihm kommt »keine apologetische, sondern eine religionsintere Funktion zu[]« (91), die verhindern soll, dass Religion in Metaphysik aufgeht, und umgekehrt an der Notwendigkeit reflexiver religiöser »Symbolismen« festhält. Troeltsch ringt zeit seines Lebens – und dies nicht nur beiläufig – um eine präzise Analyse und kritische Rekonstruktion des Realitätscharakters von Religion. Damit zusammen hängt eine weitere werkgeschichtliche Kontinuität, die sich wie ein roter Faden durch die Rekonstruktionen des opulenten Rezensenten Troeltsch zieht: seine Abwehr gegen jede Einholung der Realität durch ein rationales System, sei dieses eher metaphysisch oder wissenschaftlich gestimmt, und damit auch die Betonung des Kontingenzcharakters alles Wirklichen, zu dem das irreduzibel Neue, Schöpferische und Individuelle wesentlich gehört. Nur wer dies in Rechnung stellt, kommt letztlich jener »Vernünftigkeitsgewissheit« (170) auf die Spur, deretwegen Troeltsch abseits naiver Anthropomorphismen und Supranaturalismen einem theistisch getönten Personalismus den Vorzug gibt, und zwar mit guten Gründen!
»Protestantische Selbstverortung«, so hat B. ihre Arbeit genannt. Damit trifft sie den Nerv dessen, worum es dem Theologen und Philosophen Troeltsch in seinem Wirken ging. Eine solche Selbstverortung kann es nie abseits der Diskussionen geben, innerhalb derer sich allein eine solche, nein: jede Positionsbestimmung bilden kann. Selbstverortung dient der Selbstklärung, in Zustimmung und Kritik. Das gilt auch für Rezensionen wie die vorliegende. Die Arbeit ist vorbildlich in mehrfacher Hinsicht: Sie ist nüchtern, präzise und fokussiert in der Interpretation des Textbestandes; zumal die meisten von Troeltsch besprochenen Bücher heute selbst den Experten auf dem Gebiet der Theologiegeschichte des angehenden 20. Jh.s kaum mehr bekannt sein dürften. Sie ist darüber hinaus stilistisch gut geschrieben, und das, obwohl sie vielfach Zitate des Referenzautors aufweist und diese in den eigenen Text einarbeitet. Sie gibt zudem klar zu erkennen, wo sie Grenzen bzw. Gefahren einer (Über-)Interpretation mit Blick auf das Genre Rezensionen sieht: etwa, wenn an zwei Stellen (vgl. 141, Anm. 594; 173, Anm. 753) einerseits zu Recht die Nähen und Sympathien von Troeltsch zum Pragmatismus, insbesondere zu William James, betont werden, andererseits aber doch darauf verwiesen wird, dass die hierfür einschlägigen Besprechungen als Quellen nicht in analoger Weise zur Profilanalyse von Troeltsch herhalten können; was bekanntlich nicht in gleichem Maße für andere Texte aus seiner Feder (zu James) gilt. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass man sich von dem nur wenige Seiten umfassenden Schluss der Arbeit (vgl. 185–189) mehr erwartet hätte. Zumal das systematische Profil von B.s Arbeit ja deutlich zutage tritt. Warum sie hier nicht den Basso continuo des von ihr herausgearbeiteten Profils des Theologen und Protestantismustheoretikers Troeltsch offensiver für die Gegenwart fruchtbar zu machen versucht hat, bleibt das Geheimnis B.s. Die Überschrift (»Religion als das bestimmt Unbestimmte und das unbestimmt Bestimmte«) lässt allenfalls vage Vermutungen zu. Lediglich in zwei Fußnoten dieses Abschnitts (vgl. 186 f., Anm. 5 und 6) wird eine mögliche Themenzuspitzung angedeutet: die Versuchsanordnung einer personalistischen Metaphysik, die »von einer Präsenz des Absoluten, das auf Vernünftiges hinwirkt, so zu handeln bestrebt« ist, »dass die Unhintergehbarkeit des je Individuellen und Konkreten dabei konstitutiv ist« (186) und bleibt.
Es bleibt zu hoffen, dass dieses konstruktive Weiterdenken von Themen, wie sie im Werk von Troeltsch formuliert sind, durch B. an anderer Stelle seine Fortsetzung findet. Schließlich hat sie eindrücklich gezeigt, auf welch hohem Niveau sie dazu in der Lage ist.