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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1153–1154

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kny, Christian

Titel/Untertitel:

Kreative, asymptotische Assimilation. Menschliche Erkenntnis bei Nicolaus Cusanus.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2018. X, 430 S. = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, 84. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-402-10299-2.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

In seiner Würzburger Dissertation sagt Christian Kny zu Beginn, menschliches Erkennen »sei kein Vorgang, der nach mehr oder weniger Arbeit zu einem Ergebnis führt, das, einmal erzielt, als überzeitlich gültiges in die Ewigkeit fortgetragen werden könnte«. Dabei ist er sich mit Nikolaus von Kues (= NvK) einig, »der Menschen wesentlich als erkennende Wesen versteht«. Er beschreibt dieses Erkennen »als einen (asymptotischen) Prozess kreativer Assimilation an Gegebenes« (IX.1 f.). »Asymptotisch« sei »ein von mir gewählter Begriff zur Beschreibung dieser Tätigkeit« (Anm. 2). Dem Rezensenten scheint er nicht glücklich gewählt zu sein.
K. arbeitet von NvK’s Schrift Idiota de mente die darin sichtbar werdende Erkenntnisauffassung heraus. Sie ist ihm Maßstab für seine Untersuchung. NvK wolle Erkenntnisgegenstände vollständig – und d. h. deren Ursprung erfassen (11–13). Er gebrauche dafür zwei Verben, concipere stehe für die Bewegung des Geistes, etwas zu erfassen, intelligere für »das am Ziel angekommene Bestreben« (21). Dies sei die Tätigkeit der mens, die als »erste(s) Bild der göttlichen Einfaltung« begriffen und später als »zweiter Gott« bezeichnet wird. Die mens humana ist Abbild der mens divina. So ist Erkenntnis »ein Prozess produktiver Assimilation, mittels dessen die mens humana ihre Erkenntnisgegenstände zu erfassen sucht« (35 f.40). Dabei wird »Selbsterkenntnis ein wichtiger Bestandteil menschlicher Erkenntnistätigkeit« (52). Hier hätte K. darauf hinweisen müssen, dass für NvK Selbsterkenntnis nur durch Gotteserkenntnis möglich ist, ist doch die mens divina Urheberin der mens humana. Sie schafft Raum für Kreativität und verähnlicht sich ihren Erkenntnisgegenständen (69.96).
Von De mente aus untersucht K. weitere cusanische Schriften: De docta ignorantia, De coniecturis, De beryllo und das Compendium. In ihnen widme NvK sich ausführlich epistemologischen Fragen, doch ließen die »relevanten Passagen bisweilen Fragen offen«. Für NvK geschehe alles Forschen durch Annähern an den Erkenntnisgegenstand, auch da, wo dieser unaussagbar sei (incomprehensibiliter inquirire) (110.119).
K. erkennt hier Erkenntnisstufungen, die De mente nahestehen. Eine vollständige Erkenntnis der res divinae sei aber nicht möglich. Er wirft NvK vor, dass er vieles nur angedeutet und nicht systematisch durchgearbeitet habe (133 f.). In De coniecturis taucht der Viva-imago-Gedanke auf, um die Kreativität des menschlichen Geistes zu beschreiben. Damit rücke die Subjektseite der Erkenntnis mehr in den Vordergrund. So werde eine gewisse Erkenntniszuversicht möglich (134.143–171). NvK wolle mit Sprechmodi sich Seinsbereichen anpassen, »die als nicht rational aufgefasst werden« (158). Aber das Verhältnis von mens humana und mens divina sei immer noch sehr kurz gefasst, in De beryllo setzt NvK verstärkt auf die Kreativität menschlichen Erkennens, aber K. stellt »Verwischungen zwischen Ratio und Intellekt« in dieser Schrift fest, doch bleibe »das cusanische Grundmotiv menschlicher Erkenntnis als kreative, asymptotische Assimilation« stabil. »Einerseits wird der menschliche Intellekt als Schöpfer der artifiziellen Formen pointiert dem göttlichen Intellekt als Schöpfer der natürlichen Formen parallelisiert. […] Andererseits wird der Intellekt bisweilen an die imaginatio und damit die Sinnlichkeit gebunden« (207.287).
Im Compendium setze sich NvK vor allem mit »sinnlich-rationalen Erkenntnisvorgängen auseinander«, alle Zeichen seien sinnenfällig und vermitteln »zwischen zwei singulären Instanzen, Er­kenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt« (212.217 f.). Hier arbeite NvK »mit dem Motiv eines sich offenbarenden absoluten Intellekts« (238).
In einem weiteren Kapitel untersucht K. nun »Kontinuität, Entwicklung, Umbruch? Die systematische Gestalt der cusanischen Erkenntniskonzeption« und geht dabei auf die Untersuchungen von K. Flasch und H. Schwaetzer ein. Ihnen sei es nicht gelungen, ein zufriedenstellendes Gesamtporträt zu zeichnen. Zu bedenken sei Sengers Hinweis auf die »Laudabilien« (251.257).
Im letzten Kapitel bietet K. eine »Kritische Würdigung der cusanischen Erkenntniskonzeption«. Er sieht zwei intellekttheore-tische Traditionslinien, eine aristotelisch und eine augustinisch geprägte. Aristotelisch sei es, dass »der Intellekt tendenziell als Vermögen innerhalb eines seelischen Fakultätenkomplexes aufgefasst« werde, augustinisch, dass er substantiell-aktiv verstanden werde, autark gegenüber sinnlichen Gehalten. »Die deutliche Ab­grenzung des menschlichen Intellekts von Rationalität und Sinnlichkeit […] kollidiert mit Passagen, in denen vorher gezogenen Grenzen vor allem zwischen Rationalität und Intellektualität zu verschwimmen scheinen.« (270.274) K. vergleicht die cusanische Konzeption mit anderen, vor allem mit denen von Thomas von Aquin und Dietrich von Freiberg. Thomas gliedere den Erkenntnisprozess in einen sinnlichen und in einen intellektuellen, Dietrich dagegen reduziert die Bedeutung sinnlichen Erfassens. Er versteht den intellectus agens als produktives Moment, »indem er ihn als Prinzip und Ursache seiner Erkenntnisinhalte bezeichnet«. NvK stehe da zwischen beiden. Während Thomas den ganzen Erkenntnisprozess daraufhin auslegt, Gegenstände ihrem Wesen nach zu erfassen, sei dies bei NvK nicht möglich. Für Dietrich müssen die Erkenntnisgegenstände kategorial durchsichtig sein (295–299.311).
Dass NvK nicht die Terminologie von intellectus agens und intellectus possibilis kenne, wie K. behauptet, ist falsch. In De venatione sapientiae, cap. XXVI, n. 79, 14 (h XII, 76) und in De theologicis complementis n. 11, 67 (hX/2a, 59) gebraucht er sie. Darauf ist Re­zensent eingegangen (K.-H. Kandler: Die intellektuale Anschauung bei Dietrich von Freiberg und Nikolaus von Kues, KuD, 43. Jg., 1997, 2–19), den Artikel zieht K. nicht heran. Dort stellt der Rezensent fest, dass sich beide einig zu sein scheinen: »Der menschliche Intellekt ist hingeordnet auf Gott, um sich zuletzt mit ihm zu vereinen.« Dann kommt K. auf den cusanischen Wahrheitsbegriff zu sprechen (Das »intellektuell Erfasste ist das Wahrste«, 332) und auf das Thema »Epistemischer Misserfolg in der cusanischen Erkennt niskonzeption«. Er bescheinigt NvK einen »immer wieder mehr oder weniger stark durchscheinende[n] Erkenntnisoptimismus« (364). Zuletzt vergleicht K. das Dargestellte hinsichtlich des Weltbezugs mit Anschauungen von John McDowell (»Mind and World«): »Während Cusanus sich auf der Suche nach Sicherheit von der Sinnlichkeit entfernt, […] sucht McDowell […] Sicherheit gerade in sinnlichem Zugang zur Welt«. Nach NvK schaffe sich der Mensch »in Form von Erkenntnisumgebungen Gegenstandszugänge selbst […], ohne dadurch die Welthaftung zu verlieren« (392.368).
K. will offensichtlich NvK besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Er wirft ihm häufig Inkonsequenz im Denken oder »mangelnde Detailschärfe« vor. Das wirkt mit der Zeit überheblich. Beurteilt er nicht NvK von einer vorgefassten Meinung aus? Das Buch ist mühsam zu lesen, eine gespreizte Sprache fällt auf mit vielen eigenwilligen Formulierungen, die man freilich bei altsprachlichen Kenntnissen meist irgendwie verstehen kann. Kommt emulieren (156) von aemulari?
Ob die Untersuchung sich im wissenschaftlichen Disput behaupten kann, wird sich zeigen.