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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1145–1148

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gilliam III, Paul R.

Titel/Untertitel:

Ignatius of Antioch and the Arian Controversy.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XII, 258 S. = Vigiliae Christianae. Supplements, 140. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-90-04-34287-3.

Rezensent:

Markus Vinzent

Der Band stellt die für den Druck leicht revidierte Fassung einer Promotionsarbeit zum Ph. D. an der Universität Edinburgh dar, die unter Supervision von Sara Parvis und Paul Parvis angefertigt und von Larry Hurtado und Lewis Ayres examiniert wurde. Sie ist meines Erachtens ein Meilenstein in der Ignatiusforschung, und zwar gleich aus mehreren Gründen, zum Teil aufgrund einiger Forschungsziele, die der Vf. selbst explizit verfolgt hatte, aber auch zum Teil für Ergebnisse, die eher beiläufig erbracht werden und in der Tragweite für die weitere Forschung nicht voll herausgestellt sind. Gemessen an der herausragenden Bedeutung all dieser Beobachtungen sind die inhaltlichen Anfragen und wenigen formellen Beanstandungen, die ich als kritischer Leser habe, vergleichsweise gering.
Ich möchte mit den wichtigsten Ergebnissen beginnen, bevor ich die vom Vf. selbst benannten Erkenntnisse und meine kritischen Bemerkungen folgen lasse.
Nachdem seit Theodor Zahn, Joseph Barber Lightfoot und der Ausgabe der Ignatiana durch Franz Xaver Funk die Frage beigelegt war, welche der bis dahin drei Rezensionen der Ignatiusbriefe die verlässlichere war, und man sich in der Forschung seit dem Ende des 19. Jh.s übereinstimmend (abgesehen von wenigen Ausnahmen) auf die sogenannte »Mittlere Rezension« festgelegt hatte, wurde zwar gerade in den vergangenen Jahrzehnten die Diskus-sion virulent, ob diese Rezension auf einen historischen Ignatius zurückgeht oder ob die sieben Briefe dieser Ausgabe nicht von einem Fälscher um die Mitte des 2. Jh.s oder einige Jahre später verfasst worden sei, doch hat die Forschung die beiden anderen Rezensionen, die sogenannte kürzere von drei zum Teil kürzeren Briefen (IgnPol, IgnEph, IgnRom) und die sogenannte lange von dreizehn Briefen, weithin vernachlässigt. Mit dieser Vernachlässigung ging einher, dass man sich nicht nur auf die mittlere Rezension konzentrierte, sondern auch die textliche Gestalt der mittleren Rezension nicht mehr grundsätzlich hinterfragte. Im Wesentlichen folgte man bei Neuausgaben, Übersetzungen und Kommentaren der Textgestalt, wie sie Lightfoot und Funk erstellt hatten, auch wenn neuere Herausgeber und Forscher an vielen Stellen von den ge­nannten älteren Ausgaben und untereinander in der Texterstellung abwichen. Was beide miteinander zusammenhängende Komplexe betrifft, also einerseits die zentrale Sonderstellung der mittleren Rezension und andererseits die Textgestalt dieser Rezension, belegt die vorliegende Studie, dass die Forschung dringend eines Neuansatzes bedarf. Dieser begründet sich dadurch, dass die vermeintlich weithin gesicherte Textgestalt der mittleren Rezension bereits an vielen der vom Vf. untersuchten theologischen Stellen zur Gottesrede des Ignatius nachweislich eine tiefgehende dogmatische Revision von pronizänischer Seite in der Zeit nach Nizäa erfahren hatte und die mittlere Rezension nicht ohne die auf sie theologisch reagierende lange Rezension, die von dem gegensätzlichen Ansatz einer nichtnizänischen Korrektur geprägt ist, zu lesen und zu verstehen ist.
Beide Rezensionen lassen sich folglich für die Texterstellung der Ignatiana auch der mittleren Rezension nicht voneinander trennen (so schon die Meinung von Lightfoot) und neuere Ansätze, die ausschließlich auf die mittlere Rezension ausgerichtet sind, sind vor allem deshalb höchst problematisch, weil auch die längere Rezension nicht nur nichtnizänische Elemente an den theologisch bedeutsamen Stellen beinhaltet, sondern trotz ihrer nachnizänischen Entstehung zum Teil an etlichen Stellen öfters durchaus auch pränizänisch gefärbt ist. Wenn aber dem so ist – und der Argumentation des Vf.s ist an den meisten Stellen zuzustimmen –, dann ergibt sich daraus die über die vorliegende Arbeit hinausgehende kritische Frage, ob nicht auch an anderen, nicht unmittelbar die Gottesrede betreffenden Stellen, in die mittlere Rezension für die Zeit bis um die Mitte des 4. Jh.s Änderungen und Adaptationen von Schreibern und Redaktoren vorgenommen wurden, die gegebenenfalls durch einen Vergleich mit der offensichtlich auf andere Handschriftentraditionen zurückzuführende lange Rezension zu entdecken wären.
Überhaupt führt ein Vergleich der Überlieferung von IgnRom, der gesondert von den anderen sechs Briefen der mittleren Rezension tradiert wurde, zu der über die vorliegende Studie hinausgehenden Frage, ob man nicht grundsätzlich von der Vorstellung von ausschließlich drei Rezensionen Abstand nehmen sollte. Denn wenn die längere Rezension an verschiedenen Stellen Zeugin eines älteren Bestandes sein sollte, der in der mittleren Rezension nicht mehr erhalten ist, dann hätten wir ja bereits drei Rezensionen. Wenn diese ältere, neu zu erschließende Rezension nicht identisch mit der »kürzeren Rezension« wäre, dann kämen wir bereits auf vier Rezensionen. Und wenn man dann noch erkennt, dass Metaphras-tes (und zum Teil unabhängig die arabischen Zeugen) uns eine Textgestalt der längeren Rezension gibt, die weder mit der »kürzeren«, noch mit der neu zu erschließenden, noch mit den mittleren und längeren Rezensionen immer übereinstimmt, dann erkennen w ir, dass die Rede von drei Rezensionen eine grobe Verfälschung der sehr viel komplexeren Überlieferungsgeschichte der Ignatianen darstellt. Dies bedeutet nun nicht, dass wir schlicht auf die grobflächige Dreiteilung verzichten müssen, doch diese bezieht sich vornehmlich auf die Anzahl der Ignatiusbriefe, die tradiert werden (kürzere Rezension = drei Briefe, mittlere = sieben Briefe, längere = 13 Briefe), während die Textgestalt der einzelnen Rezensionen – nach der vorliegenden Studie zumindest die der mittleren und der längeren Rezensionen –, mit Blick auf die frühest er­schließbare Form der Ignatiana neu studiert werden müssten. Dies bedeutet aber in letzter Konsequenz, dass der Forschung das dringende Desiderat einer neuen kritischen Ausgabe der Ignatiana aufgegeben ist.
Ich komme zu den Ergebnissen, die der Vf. selbst formuliert hatte. Sie kontrastieren dedizidiert mit dem älteren Ergebnis von James D. Smith III (»The Ignatian Long Recension and Christian Communities in Fourth Century Syrian Antioch«, Diss. 1986), für den Ignatius ein Unbekannter war, der erst mit der Auffindung seiner Reliquien und dem Einsetzen seiner Kultverehrung nach den Jahren 364–373 wiederentdeckt und mit der längeren Rezension seiner Briefe dem Neoarianismus dienlich gemacht wurde. Demgegenüber zeigt der Vf., dass Ignatius in der Kirchengeschichte des 4. Jh.s, wie bereits durch die vielfache Benutzung der Ignatiana des Eusebius von Cäsarea belegt, schon längst eine bekannte Referenzfigur war und die Ignatiana gerade im arianischen Streit zu einer Berufungsinstanz avancierten, um die sich Pronizäner (mittlere Rezension) und Antinizäner (längere Rezension) stritten und die sie je für sich i n je eigener Gestalt zu reklamieren versuchten. Außer Eusebius spricht für diese These auch die Benutzung der Ignatianen durch Kyrill von Jerusalem (wenn zugegebenermaßen auch nicht gesichert), Athanasius von Alexandrien und Johannes Chrysostomus. Untermauert wird diese Sicht auch durch die frühere Datierung der längeren Rezension, die der Vf. aufgrund ihrer Nähe zur und Benutzung der Ekthesis Makrostichos vom Jahr 344 in die Jahre zwischen 344 und 350 datiert, spätestens aber vor 364 ansetzt (226–227).
Wenn hier einige kritische Überlegungen folgen, sollen diese nicht die herausragende Bedeutung dieser Studie schmälern, sondern stattdessen einige Anregungen aufgreifen und weiterführen.
Zur Dekonstruktion der bisher festen Vorstellung einer mittleren und einer längeren Rezension wäre es wichtig, dass auch die der kürzeren Rezension mit ins Auge gefasst wird und in Konsequenz die Frage zu stellen wäre, welches Verhältnis die längere Rezension auch zur kürzeren hat. Hieraus ergäbe sich eventuell, dass wir zwar von drei sich unterscheidenden Drei-, Sieben- und Dreizehnbriefsammlungen sprechen können, doch der Textbestand aller dieser Sammlungen nicht sofort als deren ursprüngliche angenommen werden kann, sondern in der Überlieferung all dieser Sammlungen mit jeweils dogmatischen und kontextrelevanten Änderungen (zuzüglich Abschreibfehlern) zu rechnen ist. Wenn es also darum geht, einen älteren Textbestand der drei Sammlungen und eventuell einer ihnen allen zugrunde liegenden älteren Textform zu erschließen, müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass diese in jeder der vorhandenen Sammlungen vorliegen kann. Da uns die Sammlungen jedoch in verschiedenen Sprachformen gegeben sind, ist der Rückschluss darauf, wann welche Änderung anzusetzen ist, außerordentlich schwierig und komplex. Nichtsdestotrotz hat der Vf. in einer Vielzahl von Fällen die Verortung von spezifischen Änderungen der Gottesrede für die Zeit des arianischen Streites plausibel machen können, allerdings scheint mir bei der gegebenen Komplexität und Dekonstruktion von zwei oder vielmehr drei Textrezensionen es nicht sogleich ausgemacht, dass die längere Rezension als Änderung der mittleren Rezension angesehen werden kann. Es scheint mir vielmehr die Möglichkeit gegeben, dass die Sammlung der längeren Rezension unter Kenntnisnahme der mittleren Sammlung auch die Basis einer älteren, vornizänischen Sammlung von sieben Briefen (und wohl auch die der drei Briefe) durchscheinen lässt.
Wenn der Vf. davon ausgeht, dass die Redaktoren und pseudonymen Verfasser der Briefe der längeren Rezension in ihrer nicht-nizänischen Theologie sich bewusst vornizänischen theologischen Positionen des 2. und 3. Jh.s anschließen wollen, in welchem die Gleichheit von Vater und Sohn mit der Subordination des Sohnes unter den Vater zusammengedacht wurde (Justin, Tertullian, Origenes, für Irenäus würde ich das zum Teil bezweifeln), so müsste man zumindest auch den nizänisch orientierten Redaktoren der mittleren Redaktion das gleiche Ansinnen zugestehen. Dies gilt nicht nur, weil der Monarchianismus eine der Hauptströmungen im 1. Jh. des Christentums zu sein scheint, sondern auch weil ge-rade im Streit um Markell von Ankyra und Asterius von Kappa-dokien/Eusebius von Cäsarea deutlich wird, dass sich beide Seiten ausdrücklich auf die Tradition des Origenes berufen und in diesem Zusammenhang das Konzept von »Kirchenvätern« entsteht. Überhaupt scheint mir die Bezeichnung »nizänisch« bzw. »nicht-« oder »antinizänisch« unglücklich, weil in den Dekaden nach Nizäa nicht das im Jahr 325 verfasste Symbol die Scheiderolle gespielt hatte, Nizäa sogar weithin unbekannt war, und vielleicht allenfalls die dort formulierten Anathematismen bzw. die Verurteilungen der Synode von Bedeutung waren. In dieser Hinsicht hätte die vorliegende Studie an Tiefe und Schärfe gewonnen, wenn der Vf. weitere einschlägige, vor allem deutschsprachige Literatur zur Kenntnis hätte nehmen können (Winrich Löhr, Hanns Christof Brennecke, Reinhard M. Hübner, Jörg Ulrich).