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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1144–1145

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gemeinhardt, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was ist Kirche in der Spätantike?Publikation der Tagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft in Duderstadt und Göttingen (02.–05.01.2015).

Verlag:

Leuven: Edition Peeters 2017. X, 234 S. = Patristic Studies, 14. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-90-429-3401-6.

Rezensent:

Anna Luise Klafs

Spätestens seit den Umwälzungen der Reformationszeit hat sich die Vorstellung einer homogenen, weltumspannenden Kirche zugunsten einer pluralen Kirchenlandschaft aufgelöst. Dass diese Pluralität der Kirchen und Theologien jedoch kein neues Phänomen darstellt, sondern bereits seit Beginn des Christentums exis-tiert, bildet einen Leitgedanken dieses Tagungsbandes. Peter Ge­meinhardt, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, ist Herausgeber einer Zusammenschau von zwölf Beiträgen, die sich auf der Tagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft mit der Frage beschäftigt haben, wie sich kirchliche Pluralität in den ersten Jahrhunderten nach Christus zeigte.
Den Rahmen des informativen und aufschlussreichen Bandes bilden drei Beiträge, die eine Brücke zwischen Spätantike und heutiger Zeit schlagen: Peter Gemeinhardt eröffnet den Band, indem er ein aktuelles kirchentheoretisches Modell auf die Zeit der Spätantike verlängert. Es handelt sich um ein Modell des praktischen Theologen Jan Hermelink, der »Kirche« vierfach versteht: als Or-ganisation, Institution, Interaktion und Inszenierung. Diese vier Dimensionen des Kirchenbegriffes überträgt Gemeinhardt auf spätantike Verhältnisse und verhilft so zur Einsicht, dass »Kirche« weder damals noch heute eindimensional und ausschließlich als Institution, sondern immer auch als »höchst differenziertes Ge­flecht von Lebens- und Glaubensformen, die jeweils Kirche ge­nannt werden können« (8 f.), betrachtet werden darf. Auch im zweiten Beitrag wird der Blick auf spätantike Verhältnisse mit Hilfe eines neueren Konzepts geschärft: Der Althistoriker Stefan Rebenich nutzt ein Konzept des Soziologen Georg Simmel als Schablone, um miteinander konkurrierende Kirchen als Wettbewerbspartner, nicht als Gegner, zu begreifen. Anders als oft in der Forschung dargestellt, sei die Heterogenität des antiken Christentums keineswegs zersetzend, sondern im Gegenteil produktiv gewesen – zu­mindest solange nicht durch »weltliche Machtmittel, vor allem kaiserliche Politisierung« (55) eingegriffen wurde. Auch Rebenich plädiert also in seinem Beitrag für ein offenes interdisziplinäres Gespräch, das den Blick auf die Spätantike schärft. Den Schluss bildet Bischof Martin Hein, der die heutige plurale Kirchenlandschaft sowohl historisch als auch theologisch auf die Situation früher christlicher Kirchen zurückbezieht: So habe zu Beginn des Chris-tentums eine »durchaus analoge Situation von Synkretismus, Plu ralismus, instabilen Machtverhältnissen und polyethnischen Bevölkerungen« (221) zu heute existiert, so dass die Beschäftigung mit der Spätantike auch Antworten auf heutige Fragen und Herausforderungen bieten könne. Dabei sei das schier unüberschaubare Nebeneinander spätantiker Kirchen und Theologien ein positives Vorbild für eine genuin evangelische Theologie, die sich gerade durch Pluralität und nicht Konformität auszeichnet.
Den Korpus des Tagungsbandes bilden Fachbeiträge, die aus verschiedenen Perspektiven das Bild eines heterogenen spätantiken Christentums bestätigen. So stellt z. B. der Theologe und Pfarrer Liuwe H. Westra in seinem Artikel »Katholizität in der Spätantike« gegensätzliche Konzeptionen des Begriffs »Katholizität« vor, die von zwei Kaisern des 4. Jh.s geprägt wurden: Während Konstantin der Große den Begriff »katholisch« ekklesiologisch auflädt, d. h. nur auf die Kirche bezieht, verwendet ihn Kaiser Julian als »rein theologischen Begriff« (96), der viele Religionen und Kulte umfassen kann, solange sich diese am Staatskult beteiligen. Katholisch ist also in konstantinischer Zeit, wer Teil der entstehenden Reichskirche ist, in julianischer Zeit, wer an (irgendeinen) Gott glaubt und dabei den Staatskult praktiziert. So gegensätzlich beide Konzepte sein mögen – gemeinsam ist ihnen, dass sie »sich beide auf dem Boden des religiösen Prinzips do ut des« (98) bewegen, dass also in beiden Fällen Kirche und Staat einander fördern und stützen.
Auch die Göttinger Theologin Carmen Cvetkovi bewegt sich in ihrem Beitrag »Greek thought in Latin language« im 4. Jh. und führt anhand des früh in Vergessenheit geratenen Niceta von Re­mesiana aus dem lateinischen Westen eine bereits damals bestehende Verbindung zwischen Ost und West exemplarisch vor. So bezieht sich Niceta nach Analysen von Cvetkovi in dem von ihm verwendeten Begriff »katholisch« auf einen Autor aus dem Ostteil des Römischen Reiches, Kyrill von Jerusalem, und entwickelt dessen Begrifflichkeit und Theologie in eigener Art weiter. Rund ein Jahrhundert später setzt der Beitrag des Patristikers Thomas Graumann ein, der sich mit der sukzessiven Bürokratisierung der spätantiken Kirche beschäftigt und dabei »Notwendigkeit und Problematik kirchlichen Verwaltungshandelns« (119) anhand der Konzilsakten Chalkedons vorführt. Der durch eine voranschreitende Institutionalisierung der Kirche und der Professionalisierung des Klerus notwendig gewordene Ausbau des Verwaltungsapparates führte laut Graumann zu einem Bedeutungsgewinn der finanziellen Aspekte im kirchlichen Alltag einerseits und wertete anderseits die Dokumente, Konvolute und Akten selbst auf. Die aus einem wachsenden Kirchenapparat resultierenden Probleme sind auch Thema des Artikels der Kirchenhistorikerin Katharina Greschat, die sich der Kirchenkritik gallischer Asketen aus dem 5. Jh. widmet. Die von ihr dargestellten Mönche Galliens übten auf je unterschiedliche Weise harsche Kritik am inneren Zerfall und der moralischen Zerrüttung der Großkirche und klagten den Verfall urchristlicher Ideale vor dem Hintergrund einer wachsenden Kircheninstitution an. Auch Christoph Birkner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Göttingen, legt den Fokus auf das spätantike Mönchtum und analysiert die Heiligenviten von Kyrill von Skythopolis aus dem 6. Jh. vor der Frage, wie Kyrill in seinem Werk »Kirche« versteht und wie das Wechselspiel zwischen Kirche und Kellion bei ihm dargestellt wird. Die beiden folgenden Artikel von Nicholas Marinidis und Ovidiou Ioan weiten den Blick auf das 7. Jh. aus und reflektieren die Frage nach »Kirche« aus der Sicht griechischsprachiger Mönche.
Der Rahmenartikel von Bischof Martin Hein schließt den sehr gelungenen, facettenreichen und daher die Pluralität der spätantiken Kirchen und Theologien gut widerspiegelnden Band »Was ist Kirche in der Spätantike?« ab.