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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1137–1140

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Die ersten 100 Jahre des Christentums. 30–130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion. 2., durchges. Aufl.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 589 S. m. 12 Abb. = UTB M 4411. Kart. EUR 30,99. ISBN 978-3-8252-4411-8.

Rezensent:

Dieter Sänger

Mit seiner Gesamtdarstellung hat Udo Schnelle es sich zur Aufgabe gemacht, »Theologen/Theologinnen und interessierte Laien« gleichermaßen »in die komplexe Geschichte des frühen Christentums ein[zu]führen« (Vorwort).
Vorgeschaltet sind zwei Kapitel, in denen S. zunächst auf die hermeneutischen und methodischen Implikationen historischer Geschichtsschreibung eingeht (17–24), anschließend erläutert, wa­rum er die Bezeichnung »frühes Christentum« dem Begriff »Urchristentum« vorzieht, und dann den chronologischen Rahmen absteckt (25–28). Terminus a quo sind die Erscheinungen des Auferstandenen (30 n. Chr.). Jesus von Nazareth gehört nicht zur »Ursprungsgeschichte« (17), weil »[d]ie neue Bewegung der Chris­tusgläubigen« dort beginnt, wo sein »irdische[s] Leben … endete« (26). Terminus ad quem ist die Zeit um 130 n. Chr., in der sich auf mehreren Ebenen deutliche Verschiebungen abzeichnen. Im letzten Kapitel fasst S. die wesentlichen Gründe für den Erfolg des frühen Christentums noch einmal zusammen (560–562).
Das den Darstellungsteil eröffnende 3. Kapitel »Voraussetzung und Kontexte« (29–94) zeigt, wie intensiv das frühe Christentum in die Geschichte des Judentums und der griechisch-römischen Welt eingebunden war.
Nach einem Überblick über die verschiedenen Facetten der griechisch-römischen Kultur, ihre religiöse Pluralität und die bedeutendsten philosophischen Strömungen (34–59) skizziert S. die für das Christentum relevanten Entwicklungsschübe im seit der makkabäischen Erhebung zunehmend fragmentierten Judentum (59–79). Der Kampf radikaler jüdischer Gruppen gegen die römische Fremdherrschaft verschärfte die Krisensituation. Wie der Täufer muss auch der als politisch gefährlicher Messiasprätendent ge­kreuzigte Jesus von Nazareth in diesem Kontext verstanden werden (67). Ein Abschnitt orientiert über das politische Ordnungsgefüge, die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Imperium Romanum des 1./2. Jh.s n. Chr. (80–91). Fazit: Von Beginn an waren die frühen Gemeinden »durch die konkrete Umwelt in die politischen und kulturell-religiösen Debatten der Zeit verwickelt«, so dass »die Geschichte des frühen Christentums immer auch eine religiös-politische Dimension« (92) besitzt.
Während das 4. Kapitel (95–108) die katalytische Funktion der Osterereignisse für »einen kreativen Deutungsprozess« (100) herausstreicht, in dem zentrale Inhalte jüdischer Theologie und griechisch-hellenistische Anschauungen christologisch transformiert und in einen neuen Sinnhorizont gestellt werden, ist das 5. Kapitel der Jerusalemer Gemeinde gewidmet (109–153).
S. unterscheidet mehrere Phasen. Gehörten ihr anfangs orts-ansässige Christusgläubige und Sympathisanten an, stießen bald Teile des Zwölferkreises (inklusive Petrus), vorösterliche Anhänger Jesu und Mitglieder seiner Familie aus Galiläa hinzu. Die griechisch- und aramäischsprachigen Judenchristen (»Hellenisten«/ »Hebräer«) versammelten sich in eigenen »Hauskirchen« (112). His-torischer Kern des Pfingstgeschehens sind »neuartige und intensive Geisterfahrungen in Jerusalem« (113). Allmählich bildeten sich festere Strukturen heraus. Einzelne Personen (vor allem: Petrus, der Herrenbruder Jakobus) und Gruppen (Apostel, die ›Zwölf‹) treten in den Vordergrund. Das lukanische Bild praktizierter Gütergemeinschaft idealisiert Einzelfälle. Die aus den Konflikten mit dem religiösen Establishment, insbesondere den Sadduzäern resultierenden Verfolgungen unter Beteiligung des pharisäischen Eiferers Paulus (Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f.) beschränkten sich auf die kult- und gesetzeskritischen Hellenisten. Gal 1,22 entnimmt S., dass Jerusalem als Ort der paulinischen Verfolgertätigkeit ausscheide (130). Doch ist hier an die Zeit zwischen Berufung und Apostelkonvent gedacht. Mit Taufe und Abendmahl griff die Gemeinde jeweils einen Impuls Jesu auf. Nach ihrer Vertreibung wirkten die Hellenisten in der Diaspora (Apg 11,19 f.) und bahnten den Weg für eine die Grenzen Palästinas überschreitende Mission (147).
Im 6. Kapitel »Frühe Gemeinden und frühe Mission außerhalb Jerusalems« (154–222) konzentriert sich S. seinem Programm entsprechend (22) nicht allein auf die Protagonisten, Trägerkreise, Landschaften, Orte, Zielgruppen und Konfliktfelder der frühchristlichen Mission innerhalb wie außerhalb des syro-palästinischen Raums, sondern bezieht auch die weichenstellenden theologischen Grundentscheide der antiochenischen Gemeinde (universale Perspektive, Beschneidungsverzicht) und den beginnenden Verschriftungsprozess (u. a. synoptische Tradition, Logienquelle), der das neue Denken der Christen widerspiegelt (207), mit ein. Um 50 n. Chr. verkörpern drei verschiedene Richtungen die Pluralität des Anfangs: die Jerusalemer Gemeinde, die galiläische Jesus-Bewegung, Antiochia und Paulus (216–219).
Aufgrund ihrer Bedeutung werden Apostelkonvent und antiochenischer Zwischenfall separat behandelt (223–235). Das nächste Kapitel »Die eigenständige paulinische Mission« (236–303) knüpft zeitlich wie sachlich daran an. Zu Recht betont S. den großen Anteil der zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Erfolg des von Paulus initiierten missionarischen Unternehmens. Ob die vorausgesetzte theologische Bildung der aus ihrem engeren Kreis stammenden Co-Autoren der Briefe für die Existenz einer Paulusschule zu Lebzeiten des Apostels spricht (250–253), ist strittig.
Unter der Rubrik »Strukturen« beleuchtet S. die Innenverhältnisse der überwiegend städtisch geprägten (Haus-)Gemeinden. Sie kennzeichnet eine »gelebte Glaubensrealität«, die ethnisch, sozial oder geschöpflich definierte Identitätszuschreibungen vergleichgültigt und damit basale »Wertvorstellungen der Antike hinter sich ließ« (269). Mit guten Gründen geht er davon aus, dass die soziale Schichtung der Gemeinden ein Abbild ihrer Umgebungsgesellschaft war. Nur eine Minderheit gehörte zur lokalen Elite, die Zahl der Wohlhabenderen war ebenfalls begrenzt (vgl. 1Kor 1,26). Handwerker wie etwa Paulus und Gewerbetreibende rechnet er zur »Mittelschicht« (263). S. teilt die verbreitete Auffassung, der paulinischen Mission sei eine judenchristliche Gegenbewegung nachgefolgt, unterstützt von maßgeblichen Kräften der sich weiterhin als Teil des Judentums verstehenden Jerusalemer Gemeinde. Gerade der am paulinischen Beschneidungsverzicht sich entzündende galatische Konflikt, in dem der Apostel sein »ganze[s] bisherige[s] … Missionswerk infrage« gestellt sah (285), dokumentiert den Entfremdungsprozess zwischen ihm und Jerusalem. Die Ablehnung der Kollekte »führ[e] vor Augen«, dass am Ende der frühchristlichen Epoche »nicht die Einheit stand, sondern die bleibende Entzweiung« (291). Freilich ist ungewiss, was genau mit der Kollekte geschah. Stärker noch als sie dürfte die diagnostizierte »Systemqualität« (297) der paulinischen Theologie den Bruch befördert haben. Erst sie ermöglichte es, dass sich das werdende Christentum als eine eigenständige Bewegung formierte.
Im 9. Kapitel »Die Krise des frühen Christentums um das Jahr 70« (304–319) charakterisiert S. den Tod der »Anfangsapostel«, erste Verfolgungen, Untergang des Tempels und der Jerusalemer Ge­meinde als ein Krisenphänomen innerhalb der frühchristlichen Theologiegeschichte, die nun einsetzende Evangelienschreibung und Pseudepigraphie als eine Form »innovative[r] Krisenbewäl-tigung« (314). Vom Tod der Gründergestalten lässt sich aber nicht per se auf die Situation des Christentums schließen, und die Jeru salemer Ereignisse betrafen in erster Linie die palästinischen Juden(christen). Zudem erscheint es schwierig, mit den Evangelien und Deuteropaulinen eine Art von Krisenmanagement zu verbinden.
Am Beispiel der Evangelien, die zu »Grundbüchern einer neuen Religiosität« (321) avancierten, des Paulusbilds in der Apg und den Past (2Tim 4,17) illustriert S., in welch hohem Maße die wachsende Literaturproduktion geschichtswirksam und identitätsbildend war (320–393). Wie 1/2 Joh exemplarisch zeigen, sah sich das johanneische Christentum, die vierte große Strömung, mit einer doketischen Christologie konfrontiert. Das JohEv vereinigt »zwei Hauptlinien frühchristlicher Theologiebildung« (365) – die kerygmatisch ausgerichtete Jesus-Christus-Geschichte des Paulus und die narrativ entfaltete des Markus. Auch nach 70 hat das Judenchristentum mit dem MtEv, Jak, der Apk und Did »eine gewichtige Stimme im expandierenden Christentum« (373).
Schwerpunkt des 11. Kapitels sind die inneren »Gefährdungen« (394–431) des frühen Christentums: Ausbleiben der Parusie, soziale Spannungen in den Gemeinden, Kontroversen über das Verhältnis zum Judentum, konfligierende Deutungen des Christusgeschehens. S. zufolge liegt den Auseinandersetzungen ein »Wahrheitsbewusstsein« zugrunde, das sich gegen »Verfälschungen« (419) zur Wehr setzt. Kaum zufällig hätten alle kanonischen Schriften in irgendeiner Weise etwas mit Paulus zu tun. Offenbar konnte niemand an seinen Vorgaben vorbeigehen. In diesem Sinn übte das paulinische Wahrheitsbewusstsein »von Anfang an einen großen Einfluss aus«, und der Apostel »begründete faktisch jene Form des Christentums […], die sich dann später als […] ›richtig‹ und ›wahr‹ verstand« (421). Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass die paulinische Theologie schon im frühesten Stadium ihrer Rezep-tion gegenläufig interpretiert wurde. Offenbar waren die Bewer tungsmaßstäbe dessen, was anfänglich als normativ galt, vielschichtiger und weniger eindeutig, als S. meint.
Entgegen Relativierungsversuchen hält er daran fest, dass Christen allein aufgrund ihres Namens (nomen ipsum) verfolgt wurden und als potenziell bestrafungswürdig galten (432–456). Durch ihre Distanz zum römischen (Kaiser-)Kult zogen sie den Verdacht »mangelnder Ehrfurcht und damit auch politischer Illoya-lität« (454) auf sich.
Um die Jahrhundertwende hat sich das frühe Christentum als eigenständige Bewegung etabliert (457–532). Indizien sind eine neue Sprache, der Entwurf einer stimmigen religiösen Welt, die Einführung normativer Schriften sowie die kategoriale Bedeutung diakonischen Handelns. Aufgrund seiner Entwicklung vor allem in den bildungsaffinen Städten, denkerischen Kreativität und Teil-habe an religiös-philosophischen Diskursen stellt es auch ein »Bildungsphänomen« (491) dar. Zu den um 50 n. Chr. existierenden großen Strömungen kommen gegen Ende des 1. Jh.s mit Petrus und Johannes als Traditionsträger zwei weitere hinzu. Sie alle sind vielfältig untereinander vernetzt (496–526). Hinsichtlich der Ausbreitung des Christentums geht S. von einem kontinuierlichen, regional sogar sprunghaften Wachstum aus. Die Zahl der Christen um 130 n. Chr. schätzt er auf ca. 50000 (532).
Den Übergang zur Alten Kirche (533–559) sieht S. wesentlich durch drei Faktoren bestimmt: 1. Die erwartete Parusie wird nun in die Zukunft verlagert. Daraus erwächst 2. die Notwendigkeit, zwischenzeitlich lebensfähige Strukturen (Ämter, Lehre) auf parochialer und überparochialer Ebene zu schaffen. Im 1Clem (ca. 96 n. Chr.) und in den Ignatianen (vor 117 n. Chr.) melden sich zwei Amtsträger zu Wort, die selbstbewusst genug sind, anderen Gemeinden Weisungen zu erteilen und sie zu belehren (532–540). Als weiteres Merkmal gilt das Erstarken der gnostischen Bewegung. Ältester literarischer Beleg sei 1Tim 6,20, wo von »der fälschlich so genannten Gnosis« die Rede ist (546). Fraglich ist jedoch, ob die im 1Tim bekämpften Gegner schon als Gnostiker im Sinne der späteren Häresiologen zu identifizieren sind.
Insgesamt hat S. ein beeindruckendes Werk vorgelegt. Es informiert ebenso umfassend wie kenntnisreich, ist konzeptionell schlüssig, repräsentiert den aktuellen Forschungsstand und ist zudem verständlich geschrieben. Dass angesichts der Fülle kontrovers diskutierter Sachverhalte manche Entscheidungen arbiträr sind, ist nach Lage der Dinge fast unvermeidlich. Mit den antiken Quellen weniger vertraute Leserinnen und Leser werden es zu schätzen wissen, dass S. thematisch einschlägige Texte vor allem aus dem Bereich der paganen Literatur zum Teil ausführlich zitiert und in Übersetzung darbietet. Kurzum, das Buch bereichert durch seine profilierte Darstellung die Palette der Einführungen in die frühe Christentumsgeschichte. Dem Autor darf man gratuliere n.