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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1133–1135

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lanzinger, Daniel

Titel/Untertitel:

Ein »unerträgliches philologisches Possenspiel«? Paulinische Schriftverwendung im Kontext antiker Allegorese.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 378 S. m. 2 Abb. u. 7 Tab. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/ Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 112. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-59370-7.

Rezensent:

Benjamin Schliesser

Bei seiner Analyse der allegorischen Auslegung Philos fühlte sich der große Württemberger Historiker August Friedrich Gfrörer an den Ausruf des Posonius über Hamlets merkwürdige Rede erinnert: »Though this be madness, yet there’s method in it« (vgl. 16). Noch weniger schmeichelhaft ist Nietzsches Rede vom »unerhörten philologischen Possenspiel« und von der »Kunst des Schlecht-Lesens«, mit der er die »Philologie des Christentums« und damit insbesondere die paulinische Schriftauslegung abkanzelte (vgl. 13). Wahnsinn oder Methode, hohe Kunst der Auslegung oder »Possen spiel«? Von der Spannung dieser Gegensätzlichkeiten lässt sich Daniel Lanzinger in seiner an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereichten Dissertation über die antike Allegorese leiten. (Allerdings: Warum steht im Titel »unerträglich« und nicht »unerhört«?) Im Ergebnis, so viel sei vorweggenommen, schlägt er sich nicht etwa auf die eine oder andere Seite, sondern plädiert für ein ausgewogenes Urteil: Ja, die Allegorese sei ein »Possenspiel«, weil sie der Rationalisierung und Plausibilisierung einer zuvor schon feststehenden Aussageabsicht diene. Zugleich erfolge sie nach gewissen Regeln, die aus der Warte eines heutigen Wissenschaftsverständnisses zwar nicht unmittelbar einleuchten, die aber rekonstruiert und nachvollzogen werden können und sollen (315 f.).
Das Anliegen der Studie ist es, sich auf die Spielregeln der Allegorese reflexiv einzulassen. Dabei setzt sie sich als neutestamentliche Arbeit zum Ziel, »das Phänomen der allegorischen Auslegung bei Paulus gründlich zu beleuchten« (317) und an den »Standards seiner Zeit« zu messen (16). Der Gang der Arbeit ist schnörkellos: Auf die Einleitung mit einem Forschungsüberblick sowie terminologischen und konzeptionellen Klärungen (13–51) analysiert L. ausgewählte Texte aus dem pagangriechischen Schrifttum (52–126) und der frühjüdischen Tradition (127–186). Eine Zwischenbilanz (187–193) bereitet den materialen Hauptteil der Arbeit vor: »Allegorische Auslegungen bei Paulus« (194–308). Abschließend werden die Ergebnisse gebündelt (309–316) und in Impulse für die weitere F orschung überführt (317–319). Die Arbeit wird durch ein aus-führliches Literaturverzeichnis sowie durch Sach-, Stellen- und Namenregister erschlossen.
Nachdem L. in der ersten Hälfte seines Buchs Heraklits Quaestiones Homericae, Plutarchs De Iside et Osiride sowie Philos De Abrahamo und Texte aus Qumran (Habakuk-Pescher und Damaskusschrift) nach allen Regeln der historischen und hermeneutischen Kunst ausgewertet hat, kommt er zu einem beachtenswerten, wenn auch etwas gewundenen Definitionsvorschlag für das Phänomen der Allegorese: »Allegorese liegt dann vor, wenn ein Autor eine von ihm als autoritativ akzeptierte Quelle referiert […], aus dieser Quelle einzelne Elemente herausgreift und diesen eine Bedeutung zuschreibt, die von derjenigen des normalen Sprachgebrauchs abweicht, dabei annimmt, dass die von ihm vorgeschlagene Bedeutung eine vom Urheber der Quelle intendierte ist, und schließlich die Plausibilität seiner Deutung durch Aufzeigen einer Ähnlichkeit zwischen dieser und ihrer Entsprechung in der Quelle begründet« (193.309). Innerhalb dieses methodologischen Rahmens bestehe große Variabilität. Der Ausleger bedient sich nach Bedarf aus seinem methodischen »Werkzeugkasten« (168.190.292.309) und ergreift das zur Beschaffenheit des Traditionsstücks passende Instrument.
In die Definition der Allegorese fügen sich nach L. auch vier paulinische Texte ein: Gal 4,21–31, Gal 3,16, 1Kor 9,8–12a und 1Kor 10,1–14, während eine Reihe weiterer Stellen als Grenzfälle oder Nachbarn identifiziert werden können (1Kor 5,6–8; Röm 10,6–8; Röm 15,3; Röm 5,12–21; 2Kor 3,12–18). Auch Paulus kennt und nutzt das »Prinzip des Werkzeugkastens« der Allegorese, zieht selektiv Schrifttexte heran und legt sie entsprechend seiner Aussageabsicht aus. Charakteristisch für die paulinische Allegorese ist u. a., dass er sie in den vier untersuchten Fällen ausschließlich in Auseinandersetzung mit Gegnern anwendet, stets auf Texte der Tora zurückgreift, keine fortlaufende Auslegung bietet, den exegetischen Prozess nicht transparent macht und lediglich dessen Ergebnisse nennt. Diskussionswürdig ist mit Blick auf die Forschung der letzten Jahrzehnte die These, dass »eine scharfe Trennung von Alle-gorese und Typologie auf der neuzeitlichen Überbetonung einer Dichotomie von ›Text‹ und ›Ereignis‹« beruhe und Paulus immer ein Schriftausleger sei, für den »die auszulegende Erzählung als ganze ihre ›geschichtliche‹ Dimension […] behält« (278).
Die Studie, die mit dem Armin-Schmitt-Preis für biblische Textforschung sowie mit dem Pax-Bank-Förderpreis für theologische Forschungsbeiträge ausgezeichnet wurde, ist stringent aufgebaut und sehr solide durchgeführt. Es war eine kluge Entscheidung, aus dem ungeheuer weit gestreuten antiken Schrifttum exemplarische Texte herauszugreifen (vgl. 34) und sie mit paulinischen allegorischen Auslegungen ins Gespräch zu bringen. Nur so ist die Arbeit technisch durchführbar, methodisch kontrollierbar und wissenschaftlich rezipierbar. Innovative oder überraschende Erkenntnisse werden zwar nicht gewonnen, aber die These von der »Schrift als Zeugin des Evangeliums« (D.-A. Koch) wird durch etliche Facetten bereichert. Der textorientierte, technische Duktus der Analyse lässt etwas die geistige Atmosphäre in den Hintergrund treten, in der die Allegorese gedeihen und rezipiert werden konnte. Jüngere Forschungen zeigen, dass sie sich in einer Zeit verstärkter transkultureller Kontakte im Alexanderreich verbreitete und »mit der Entwicklung kosmopolitischer Zentren des kulturellen und ökonomischen Austauschs in enger Verbindung« stand; sie verkörpert »eine Bewegung der Texte über zeitliche, geographische und kulturelle Grenzen hinaus« (Ulla Haselstein). Es wäre also nicht nur zu fragen, worin mögliche (biographische) Berührungspunkte des Paulus mit der Allegorese zu suchen sind und wie er sie ›technisch‹ ins Werk setzte, sondern auch, woraus sie ihre Überzeugungskraft generierte, warum sie ihm gerade an den genannten Stellen das persuasive Mittel der Wahl war, warum er gerade diese Traditionsstücke auslas oder wie es zur Ausprägung der paulinischen Spezifika kam.
Aufschlussreich gewesen wäre eine hermeneutische Reflexion zur Relevanz der Zeitgebundenheit exegetischer Methoden, die ja nicht nur die antike Auslegung kennzeichnet, sondern auch die zeitgenössische. Hat eine Schriftlektüre – in der Antike wie in der Gegenwart – ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie sich an kontingente und wandelbare Spielregeln hält und in einen zufällig verfügbaren »Werkzeugkasten« greift, und falls ja: Wie kann die bindende Kraft des Wahrheitsgehalts biblischer Überlieferungen ihre Wirkung entfalten? Nicht reflektiert wird das Verhältnis zwischen der Alltagsallegorese in der praktischen Bibelhermeneutik (Predigt, Unterricht), der an die Allegorese durchaus anschlussfähigen rezeptionsästhetischen Lektüren und der historisch-kritischen Auslegung. Wie verhalten sich Wahnsinn und Methode, Wahrheit und Methode zueinander? Über diese Fragen nachzudenken, war freilich nicht das Anliegen der gelungenen, reichhaltigen Studie; dass sie dazu anregt, ist ihr Verdienst.