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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

91–94

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Johann Joachim

Titel/Untertitel:

De imposturis religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen. Dokumente. Kritisch hrsg. u. kommentiert von W. Schröder.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 1999. 252 S. 8 = Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung. Abt. I: Texte und Dokumente, 6. Lw. DM 276,-. ISBN 3-7728-1931-1.

Rezensent:

Detlef Döring

Bei der vorliegenden Edition handelt es sich um eine erneute Veröffentlichung eines Werkes, das als "allerschlimmstes Buch" in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen ist. Es ist das Skandalon seines Titels (die Religionen seien von Betrügern gestiftet worden), dessen Erwähnung schon das blanke Entsetzen hervorrief, oder auch die (oft bibliophil begründete) Begierde weckte, in den Besitz jener Schrift zu gelangen. Für viele Untersuchungen zur Geschichte der Religionskritik und der Entstehung des Atheismus besaß und besitzt das Buch erhebliche Bedeutung.

Berichte über das "Betrügerbuch" lassen sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen; es sei (auch als Druck), so die immer wiederkehrende Behauptung, in die Hände dieser oder jener Persönlichkeit gelangt. Merkwürdigerweise stammt jedoch der älteste bekannte Druck erst aus dem Jahre 1753. Die handschriftliche Überlieferung, die mit mehr als 70 bisher nachgewiesenen Manuskripten allerdings sehr reichhaltig vorliegt, setzt erst am Ende des 17. Jh.s ein. Immer wieder ist in der Forschung über den Autor und die genaue Entstehungszeit des Textes gerätselt worden, ohne eine wirklich überzeugende, unanfechtbare Lösung zu finden. Der Herausgeber des vorliegenden Bandes, W. Schröder, glaubt diese Lösung jetzt vorlegen zu können.

Dabei ist es keine neue Figur, die Schröder ins Spiel bringt, sondern der schon 1926 von Jakob Presser benannte Hamburger Jurist Johann Joachim Müller. Allerdings hatte Presser seine These nicht in jeder Hinsicht stichhaltig beweisen können, und sie wurde wohl in ihrem Aussagegehalt als zu nüchtern empfunden: Ein gänzlich unbekannter Jurist soll erst in einer späten Zeit (1688) jenes so berühmt-berüchtigte Buch, die Fanfare des Zeitalters radikaler Religionskritik, verfasst haben? Man hat in den letzten Jahrzehnten "interessantere" Antworten gefunden. Die weiteste Verbreitung gewann die von Wolfgang Gericke mit großem Engagement entwickelte Behauptung, "De tribus impostoribus" sei in Genf von dem 1547 auf Veranlassung Calvins hingerichteten Jacques Gruet verfasst worden, habe im 16. und 17. Jh. verschiedene Bearbeitungen erfahren und sei in dieser Zeit auch mehrfach gedruckt worden. Es handelt sich bei dieser Konstruktion um ein reines Phantasiegebäude, das aber auch jeglicher Grundlage entbehrt. Dass gleichwohl eine Behauptung, deren Fragwürdigkeit bei schon kurzem kritischen Nachdenken deutlich wird, eine breite Rezeption gefunden hat (wie Schröder nachweist), stimmt nachdenklich. W. Schröder, der als einer der führenden Vertreter der gegenwärtigen Clandestinenforschung bezeichnet werden kann, hat in einer 77 Seiten umfassenden Einleitung zur vorliegenden Edition des Betrügerbuches alle bekannten Aussagen und Mitteilungen zu "De tribus impostoribus" in der gedruckten Literatur und auch in unpublizierten Quellen minutiös erfasst und mit Scharfsinn sowie großer Sachkenntnis ausgewertet. Im Ergebnis gelangt er zu der Feststellung, dass "Müllers Verfasserschaft nunmehr gesichert ist" (62). Der Rez. würde eine vorsichtigere Formulierung vorschlagen wollen und möchte dies mit der hier gebotenen Kürze begründen.

Der Stand der Erkenntnisse, den Schröder vorfand, ist in ganz knapper Wiedergabe folgender: Durch Peter Friedrich Arpe wird mehrfach bezeugt, dass Müller der Verfasser des Betrügerbuches sei. Entstanden sei es im Zusammenhang mit einer Disputation, die der in Hamburg wirkende bekannte Theologe Johann Friedrich Mayer 1688 durchführte. Müller habe Teile des Buches bei jener Disputation vorgetragen. Dabei liegt zwischen dem Jahr 1688 und Arpes Mitteilungen ein Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Jedoch liegt zu Mayers Disputation ein Bericht aus Müllers Feder selbst vor, die sogenannte "Amica collatio". Dieser Text ist 1752 von Jakob Heinrich v. Balthasar veröffentlicht worden. Die "Amica Collatio" bestätigt, dass Müller damals über das berüchtigte Buch sprach, und zwar hat er den zweiten, nicht in allen Drucken oder Handschriften des Betrügerbuches enthaltenen Teil vorgestellt. Von Mayer selbst wissen wir, dass ihm am Tage nach der Disputation ein Text "De imposturis Religionum" zugespielt wurde. Nach gängiger Auffassung handelte es sich dabei um den ersten Teil von "De tribus impostoribus". Diese Handschrift befindet sich jetzt in Wien. Zu beweisen wäre nun, dass Müller auch diesen, d. h. den ersten Teil verfasst hat. Außerdem müsste nachgewiesen werden, dass er der tatsächliche Autor des "allerschlimmsten Buches" ist, denn bei jener Disputation hatte Müller behauptet, er gäbe zu jenem Buch nur Mitteilungen wieder, die er von anderen Personen erhalten habe. Schröder bringt nun, um diese Aufgabe zu lösen, zwei gänzlich neue Argumente ins Spiel. Den "entscheidend weiterführenden Hinweis" sieht er in einer Mitteilung Balthasars, der zweitweise Mayers Bibliothekar war: "Schließlich will ich noch melden, daß, soviel ich mich erinnere, es mir anscheine das Manuscriptum de imposturis religionum ... und das Manuscriptum von der amica collatione, so ich itzo vor Augen habe, sey mit einerley Hand geschrieben gewesen".

Daraus leitet Schröder in der Form eines Syllogismus zwingend ab: 1. Müller ist der Verfasser der "Amica collatio". 2. Das Wiener Manuskript ist ein Autograph. 3. Beide Manuskripte sind von der gleichen Hand geschrieben worden. 4. Müller ist der Verfasser des Betrügerbuches. Dieser logische Schluss beruht auf einer recht unsicheren Grundlage. Jeder, der mit Manuskripten des längeren zu tun hat, weiß, dass es nicht immer leicht fällt, Aussagen über die Identität bzw. Nichtidentität zweier Handschriften zu treffen. Eine entsprechende Feststellung, die sich allein auf die Erinnerung stützt, die im vorliegenden Fall 35 (!) Jahre zurückliegt, scheint mir hier doch nicht von so "entscheidendem" Gewicht zu sein. Da aus der "Amica collatio" hervorgeht, dass es Müller war, der damals (1688) über das Betrügerbuch sprach, war Balthasar im Übrigen ja sozusagen disponiert, Müller als Schreiber der nach Wien verkauften Schrift zu identifizieren. Der zweite Beleg, den Schröder ins Feld führt, besteht im Vergleich von "De tribus impostoribus" mit zwei von Müller verfassten Dissertationen. Schröder glaubt, deutliche inhaltliche und stilistische Parallelen zwischen diesen Arbeiten und dem Betrügerbuch erkennen zu können. Auch hier wäre der Rez. vorsichtiger. So bezeugten alle Schriften "ein nicht alltägliches Interesse für die indische Religion und Kultur".

Für die Dissertationen wird diese Feststellung nicht mit entsprechenden Zitaten belegt. In "De tribus impostoribus" finden sich einige wenige lapidare Nennungen der Veden und Brahmanas (zusammen mit chinesischen religiösen Texten!) und eine Erwähnung des Großmoguls. Der Rez. kann darin keinesfalls ein "nicht alltägliches Interesse" an Indien erkennen. Auch die von Schröder besonders herausgestellte Betonung der Amoralität von Menschenopfern sowohl in den Dissertationen (eine handelt über die Geschichte der Menschenopfer) als auch in "De tribus impostoribus" wird nur mit Seitenhinweisen auf die dem Rez. nicht zur Verfügung stehenden Dissertationen behauptet.

Die einzigen vergleichend angeführten Zitate, in denen die Opferhandlungen verurteilt werden ("Nil tale novere bruta" bzw. "Nil tale novere barbari", nach Schröder "entscheidend"), können diese Beweislast nicht tragen, zumal es sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Zitat aus den "Declamationes" des Pseudo-Quintilianus handelt: "Nihil tale novere Germani" (Oratio 3, Kap. 16. Für die Identifikation des Zitates danke ich Frau Dr. Gärtner, Universität Leipzig) und daher für die Argumentation des Herausgebers keinen Wert besitzt. Schröder verweist allerdings auf weitere, in seinem Text nicht angeführte Parallelen. Es wäre sicher günstiger gewesen, diese Belege vorzustellen. Dann wäre es vielleicht auch möglich, sozusagen näher an den Autor, an J. J. Müller, heranzukommen. Denn wir wissen weiterhin nicht, ob das Betrügerbuch in Gänze wirklich das genuine Produkt der Feder Müllers ist oder nicht. Ebenfalls ist nicht recht deutlich, warum er das Buch überhaupt verfasst hat.

Der Rez. sympathisiert im Übrigen sehr mit Schröders Lösung der Autorenschaft des umstrittenen Buches. Der endgültige, stichhaltige Beweis, der unsinnige Spekulationen ein für alle Mal verbietet, ist jedoch auch jetzt noch nicht erbracht worden. Die These von Müllers Autorenschaft hat nunmehr einen noch wahrscheinlicheren Charakter gewonnen, aber sie hat nicht den Qualitätssprung zu einer unbestreitbaren Tatsache vollzogen.

Die vorliegende Textedition, die sich auf die Wiener Handschrift (1. Teil) und auf die vorhandenen Abschriften (2. Teil) stützt, ist vorzüglich. Varianten- und Kommentarapparate lassen kaum einen Wunsch offen. Zusätzlichen Wert gewinnt die Publikation durch den Abdruck einer kürzlich in Breslau entdeckten deutschen Übersetzung des Betrügerbuches durch keinen Geringeren als Johann Christian Edelmann. Auch diese Edition ist vorbildlich kommentiert worden. Den Abschluss findet das ganze Werk durch die Veröffentlichung zweier Dokumente, darunter der "Amico collatio". Bei allen vorgebrachten Einwänden gegen Schröders Beweisführung hinsichtlich der Verfasserschaft lässt sich zusammenfassend urteilen, dass wir es hier mit einer wirklich ausgezeichneten Textedition zu tun haben, die hoffentlich weiteren Publikationen in der Reihe "Philosophische Clandestina" als Vorbild dienen wird.