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Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1122–1124

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Häusl, Maria [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Denkt nicht mehr an das Frühere! Begründungsressourcen in Esra/Nehemia und Jes 40–66 im Vergleich.

Verlag:

Göttingen: Bonn University Press bei V & R unipress 2018. 262 S. = Bonner Biblische Beiträge, 184. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-8471-0763-7.

Rezensent:

Torsten Uhlig

Der hier anzuzeigende Band geht auf eine internationale Fachtagung zurück, die im Frühjahr 2016 an der Technischen Universität Dresden im Anschluss an das nicht verlängerte Teilprojekt »Trennung und Öffnung. Alttestamentliche Diskurse um die Konstituierung des nachexilischen Israel« (Sonderforschungsbereich 804 »Transzendenz und Gemeinsinn«, 2009–2014) stattfand. Er versammelt die dort gehaltenen Vorträge sowie einige wenige zusätzlich angefragte Beiträge, die sich jeweils einem Teilaspekt der Identitätsbildung des nachexilischen Israel in Jes 40–66 bzw. Esr/Neh widmen.
Der Band umfasst im Einzelnen: Maria Häusl, Einleitung. Begründungen für die Neukonstituierung des nachexilischen Israel (9–31) – I. Rede von Gott: Bob Becking, The Image of God and the Identity of the Community: Remarks on the Prayers of Nehemiah (35–54) – Ulrich Berges/Bernd Obermayer, Gottesbilder der Gewalt in Tritojesaja (55–73) – II. Rekurs auf eine vorgegebene Tradition: Se-bas­tian Grätz, Alter Wein in neuen Schläuchen? Die Bücher Esra/Nehemia zwischen Tradition und Innovation (77–91) – Alphonso Groenewald, A new creation and a new city overcome trauma: Prophecy and Torah in Isaiah 65:16b–25 (93–111) – III. Bedeutung von Zeit: Uwe Becker, Theokratie und Eschatologie. Die Kyros-Gestalt und das Selbstverständnis des Judentums im Spiegel von Esra 1/6 und Jes 40–55 (115–135) – Uta Schmidt, »Nicht mehr …!« Vergangenheitsbewältigung und Zukunftserwartung in Jes 40–66 (137–156) – IV. Bedeutung des Raumes: Raik Heckl, Von der Teilautonomie der Tempelstadt zur heiligen Stadt Jerusalem (159–182) – Andrea Spans, Wie sich Identität Raum greift. Exemplarische Untersuchungen zur Bedeutung des Raumes in Jes 40–66 (183–206) – V. Rekurs auf ein gemeinsames Ethos: Dorothea Erbele-Küster, Welche Tora rezipiert Esra wie? Literarische Begründungsstrategien des Ethos in persischer Zeit (209–224) – Andreas Schüle, Von der prophetischen Kritik zum Bußgebet des Volkes. Der Abschluss der Prophetie in Tritojesaja (225–246).
Werden die hier thematisierten Fragen in der Forschung weithin unter dem Begriff »Identitätsdiskurse« bzw. »Identitätsbildung des nachexilischen Israel« verhandelt, spricht die Herausgeberin eher von der »Konstituierung eines nachexilischen Gemeinwesens« und den dafür entwickelten »Begründungsressourcen«. Erklärt und entfaltet werden diese Begriffe in dem einführenden Beitrag von Maria Häusl (»Einleitung. Begründungen für die Neukonstituierung des nachexilischen Israel«). Sie verzeichnet zunächst die Ge­meinsamkeiten und Unterschiede zwischen Jes 40–66 und Esr/Neh, in denen bereits die zentrale Rolle dieser Textkomplexe für die Ausbildung des nachexilischen Gemeinwesens deutlich wird. In einem zweiten Schritt erklärt sie die Begriffe »Konstituierung des nachexilischen Israel« und »Begründungsressource«. Wie der Titel des Buches deutlich macht, liegt darauf dann das weitere Augenmerk in ihrem und den folgenden Beiträgen. Häusl hält fest, dass angesichts der grundlegenden religiösen Weltdeutung im Alten Vorderen Orient ein Verweis auf Gott bzw. JHWH nicht als Begründungsressource ausreicht. Vielmehr müssten »alle anderen in den Texten begründend verwendeten Größen, Medien, Modi und Symbolisierungen« (13) beachtet werden. Sie fasst diese in vier Begründungsfeldern zusammen: 1. Rede von Gott; 2. Rekurs auf eine vorgegebene Tradition; 3. die Bedeutung der Zeit und des Raumes; 4. Rekurs auf ein gemeinsames Ethos. Selbstverständlich ist, dass Gott/JHWH die zentrale Begründungsressource darstellt, ebenso wie sich die Begründungsfiguren nicht trennscharf voneinander abheben lassen (vgl. 14). Dass sich Häusl für die jeweiligen Felder wichtige Impulse aus entsprechenden Debatten in den Kulturwissenschaften erhofft, zeigt ihre kurze Charakterisierung der jeweiligen Begründungsfelder. In dem sich daran anschließenden dritten Abschnitt fasst Häusl die weiteren Beiträge des Sammelbandes zusammen, die jeweils eines der Begründungsfelder in Bezug auf Esr/Neh bzw. Jes 40–66 thematisieren. Darin wird das schlüssige und innovative Konzept der Aufsatzsammlung gut sichtbar, auch wenn man dann bei der Lektüre einzelner Aufsätze die eigentliche Thematik angesichts der Konzentration auf eigene Entstehungstheorien der betrachteten Schriften eher mühsam suchen muss (vgl. Becker; Heckl).
Es ist diese im Einführungsbeitrag vorgestellte Gesamtkonzeption, die diese Aufsatzsammlung besonders lesenswert macht und inmitten der unzähligen Einzelveröffentlichungen zu Teilaspekten der Identitätsbildung des nachexilischen Israel in der Verknüpfung verschiedenster Fragehorizonte (Narrativität, Beitrag der Kulturwissenschaften, Verhältnis von Synchronie und Diachronie) eine wegweisende Rolle einnehmen kann. Es versteht sich von selbst, dass nicht alle Beiträge des Sammelbandes sich nahtlos in diese Konzeption einfügen. Angesichts der überzeugend vorgetragenen Einleitung und der konzeptionellen Gegenüberstellung von jeweils zwei Beiträgen zu einem Begründungsfeld (jeweils ein Aufsatz zu Esr/ Neh und Jes 40–66 mit oft unterschiedlichen methodischen Ansätzen bzw. Schwerpunkten, die jedoch nur selten einen ausdrücklichen Vergleich miteinander enthalten), eröffnet der Band aber selbst den Raum zum Vergleichen, Prüfen und Weiterdenken.
Im Einzelnen: Im Blick auf die Rede von Gott als Begründungsressource (I.) achtet Bob Becking auf das Gebet in der Nehemiaerzählung. Gott ist darin Garant der kosmischen Ordnung, der das Gesetz zum Leben gibt und erfahrbar ist als Gott, der begegnet und vergibt, aber auch straft. Ulrich Berges und Bernd Obermayer präsentieren eine notwendige und begrüßenswerte Problematisierung von Gewaltrhetorik und Identitätsbegründung: Sie untersuchen mit Jes 59,15b–20; 63,1–6 und 65–66 die Texte innerhalb »Tritojesajas«, in denen von göttlicher Gewalt zur Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit die Rede ist, nehmen eine »deutliche Steigerung der gewalthaltigen Rhetorik« wahr, mit der die Abgrenzung der »Knechte« von den anderen Völkern einerseits und den Abtrünnigen innerhalb Israels andererseits einhergeht, und vermuten den Konflikt der Trägerkreise des Jesajabuches mit ihrer Gegnerschaft dahinter.
Für das Begründungsfeld des Rekurses auf Traditionen (II.) zeigt Sebastian Grätz für Esr/Neh ein Ineinander von Tradition und Innovation in Bezug auf das Verhältnis von Herrschaft und Heiligtum (Wiederherstellung des Tempels, aber Fremdherrscher als Bauherr) und hinsichtlich der Rolle der Tora (Traditionen, die am Sinai verankert sind, aber Prinzip der stetigen Neuauslegung) und liefert damit – neben Häusl – einen weiteren wichtigen Beitrag zur differenzierteren Wahrnehmung von Esr/Neh. Alphonso Groenewald stellt Jes 65,16b–25 als einen Text zur Ermöglichung von Resilienz vor, der mit der Auswahl und Transformation von Traditionen aus Jes 43,16–21; Jes 11,6–9; Gen 1–3 und Dtn 28 eine hochtraumatisierte Gruppe zum Überleben führen soll.
Dem Begründungsfeld der Zeit und des Raumes (III., IV.) widmen sich jeweils zwei Aufsätze: Uwe Becker bemüht in seiner Rekonstruktion der Entstehung der Kyros-Referenzen Otto Plögers (1959) Unterscheidung zwischen theokratischer und eschatologischer Strömung im perserzeitlichen Judentum mit dem darin implizierten Zeitaspekt des Heilshandeln Gottes. Uta Schmidt macht auf unterschiedliche Verwendungen der Zeit in den Argumentationsmustern zwischen Jes 40–55 und Jes 56–66 aufmerksam. Bei Raik Heckl steht die Betrachtung der Raumaspekte vor allem im Dienste seiner Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Buches Esr/Neh: Die ältere Nehemia-Erzählung (Neh 1–7,3*; 9*; 10*; 11,1–2 ohne »heilige Stadt«) aus hellenistischer Zeit zeichnet Jerusalem als teilautonome Tempelstadt parallel zu anderen jüdischen Politeuma im ptolemäischen Herrschaftsgebiet. Daraus wird in der Gesamtkomposition von Esr/Neh der Wiederaufbau Jerusalems als »Heilige Stadt« mit dem Tempel in ihrer Mitte. Bei so mancher anregenden Beobachtung und Anfrage bleiben für die Plausibilisierung doch vor allem die Beziehungen zum Pentateuch und zur Ziontradition generell und zur Darstellung Jerusalems in Jes 40–66 offen. Letzterem widmet sich der gewichtige Beitrag von Andrea Spans. Sie diskutiert den Aspekt der Stadt Jerusalem als Raum in Jes 49,14–26; Jes 54 und Jes 60. In Jes 60 steht die Stadt als Heiligtum im Zentrum der Welt, das auch für die Völker offen ist (»nach außen«). In Bezug auf die Frage nach dem Ethos als Begründungsressource (V.) zeichnet zunächst Dorothea Erbele-Küster im Blick auf Esra nach, wie darin Schriftlichkeit, Intertextualität und kommunikativ-mündliche Elemente genutzt werden, um ein gemeinsames Tora-Ethos zu konstruieren, wobei Tora kein fester Normenkatalog ist, sondern ein dynamisches Konzept. Andreas Schüle fragt schließlich, welchen Beitrag »die Prophetie« für das Ethos als Identitätsbegründung leisten kann. Zu Recht betont er im Blick auf Jes 56–66, dass »einfache Duale (konditioniertes/unkonditioniertes Heil) an der Sache vorbeigehen«, und skizziert drei Strategien in Jes 58; 59 und 63,7–64,11+65, mit denen »Prophetie« durch Verweis auf Kult und Ethos die Identität des Gottesvolkes kritisch bestimmt.
Personen- und Stellenregister beschließen diesen Aufsatzband, der wichtige Beiträge für alle an der Auslegung von Esr/Neh bzw. Jes 40–66 Interessierte enthält und der in den unterschiedlichen Beiträgen auch eine große Breite an berücksichtigter Sekundärliteratur aufweist, vor allem aber durch seine wegweisende Konzeption be­sticht, wie sie in der Einführung und Zuordnung der Aufsätze sichtbar wird.