Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2018

Spalte:

1120–1122

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ego, Beate

Titel/Untertitel:

Ester.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 471 S. m. 18 Abb. = Biblischer Kommentar Altes Testament. Neubearbeitungen, XXI. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-7887-2966-0.

Rezensent:

Veronika Bachmann

Passend zum aktuellen Trend innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft, der Literatur- und Theologiegeschichte der hellenis-tischen Zeit vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken, sind in jüngs-ter Zeit gleich zwei Esterbuchkommentare erschienen, die die Entstehung der masoretischen Buchfassung in den historischen Kontext dieser Zeit stellen. Bei dem einen handelt es sich um den französischsprachigen Kommentar von Jean-Daniel Macchi (Labor et Fides 2016), der in gekürzter Form und ins Englische übersetzt Ende 2018 in der Reihe International Exegetical Commentary on the Old Testament (IECOT) erscheinen soll. Bei dem zweiten handelt es sich um die hier besprochene Neubearbeitung des Esterbuchbandes der Reihe Biblischer Kommentar Altes Testament von Beate Ego, Inhaberin des Lehrstuhls für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Wie der von Gillis Gerlemann verantwortete Vorgängerband von 1973 konzentriert sich E.s Kommentar auf die hebräische, ma­soretische Textfassung. Anders als dieser geht sie unter der Kommentarrubrik »Aspekte der Auslegungsgeschichte« knapp, aber konsequent auch auf die griechische Septuaginta-Fassung ein. Die sogenannten Zusätze dieser Fassung, die in der protestantischen Tradition als apokryph gelten, präsentiert der Band am jeweils passenden Ort der Erzählung in der Übersetzung der Septuaginta Deutsch von Kristin de Troyer und Marie-Theres Wacker. Anders als Macchi, der als älteste Fassung eine Vorform des griechischen Alpha-Textes postuliert, die er in seinem Kommentar hypothetisch rekonstruiert, schenkt E. dieser Textversion relativ wenig Beachtung. Sie führt vor allem methodische Erwägungen an, um ihren Fokus auf die masoretische Textversion als älteste erreichbare Fassung zu begründen (4–10). Den Alpha-Text in seiner Endgestalt betrachtet sie »als Zeugnis der Auslegungsgeschichte des Esterbuches« (10).
E. postuliert für das Esterbuch eine vormakkabäische Grundschicht, die sie Ester-Rettungserzählung nennt und im Umfang bei 1,1–8,17* festmacht. Diese sei dann in makkabäisch-hasmonäischer Zeit mehrfach erweitert worden, wobei die Erweiterungen vor allem den Schlussteil und die Purimfest-Thematik sowie die Profilierung der Mordechai-Figur betroffen hätten (42.62–69). Das Proskynese-Motiv wertet sie als starkes Indiz für eine hellenistische Entstehungszeit der Grundschicht. Anders als Macchi verortet sie die Anfänge der Erzählung nicht in der ägyptisch-alexandrinischen, sondern in der östlichen Diaspora der hellenistischen Zeit. Damit nimmt sie deren mögliche Bedeutung für die Literaturgeschichte deutlich ernster als bisherige Arbeiten (vgl. als Ausnahme z. B. Hiepel, Ludger: Ester das ist auch I štar. Eine Lesebrille für die hybride Esterfiguration vor dem Hintergrund der altorientalischen Kriegs- und Liebesgöttin, in: BN 163 [2014], 53–71, wobei gerade dieser Aufsatz unrezipiert bleibt), was dazu einlädt, der dortigen »persisch-griechischen Kultursymbiose« (65) grundsätzlich mehr Beachtung zu schenken.
Wie mit Macchis Kommentar liegt mit E.s Werk ein solider, der historisch-kritischen Forschung verpflichteter Kommentar mit klassischem Aufbau vor: Auf die Einleitung (1–84) folgt der Kommentarteil, dessen Gliederung sich an der narrativen Struktur orientiert, wie E. sie ausmacht (begründet in 16–24). Der große Umfang beider Kommentare – Gerlemans Band kommt mit 151 Seiten geradezu als dünnes Büchlein daher – zeugt davon, dass heute zur Interpretation des Esterbuches nicht nur die vielfältigen innerbiblischen Bezüge stärker gewichtet werden als früher, sondern auch Bezüge zu außerbiblischen Quellen. Im Vergleich zu Macchi, der vor allem die hellenis-tische Persika-Literatur ins Gespräch bringt, fällt E.s Auswahl der Quellen breiter aus. Auch ikonographische Quellen trägt sie zusammen, was ihren Kommentar zu einem vielfältigen Materialpool werden lässt. Relativ eng fällt der Blick auf die Rezeptionsgeschichte aus, was unter anderem dem Profil der Reihe geschuldet sein dürfte. Sowohl in der Einleitung (78–84) als auch im Kommentarteil geht E. exemplarisch praktisch nur auf die griechische Septuagintafassung und den aramäischen Targum Scheni ein.
Wenn sie als Fazit von der Estererzählung als »einem eindrücklichen Zeugnis jüdischer Frömmigkeit« spricht, »das sein wirkungsgeschichtliches Potential auch in einer Zeit veränderter his­torischer Konstellationen entfalten kann« (84), benennt sie einen wichtigen Punkt und macht die christliche Leserschaft mit jüdischen Rezeptionsweisen vertraut. Zugleich windet sie sich damit um eine tiefere Auseinandersetzung mit christlichen Lesarten, die reproduzieren, was Haman innerhalb der Erzählung vorführt (vgl. gewisse Anspielungen darauf in 3–4). Dass es (auch) aus christlicher Sicht geboten sein dürfte, den Aufruf zum Erinnern am Ende der Erzählung ernst zu nehmen – als Aufruf zu einem Erinnern, das verpflichtet –, wäre m. E. in einem heutigen Esterbuchkommentar christlicher Prägung deutlicher zu thematisieren, als es E. und auch Macchi tun, gerade angesichts der noch immer gerne gehegten Vorbehalte gegenüber dem Buch. Beiden Werken ist zugute zu halten, dass sie zwei Passagen, die im Hebräischen zweideutig formuliert sind, gegen die bisherige Praxis übersetzen. Zum einen erscheint Mordechais Verhältnis zu Ester weniger harsch, wenn beide 4,14aβ als rhetorische Frage interpretieren. Zum anderen wird gegen das Vorurteil der »rachsüchtigen Juden« angeschrieben, wenn in 8,11 der Ausdruck »(samt) Kindern und Frauen« als Apposition zu den Bedrängten statt zu den Bedrängenden verstanden wird, eine Übersetzungsvariante, die Eingang in die BigS und inzwischen auch in die Luther- und Einheitsübersetzung ge­funden hat. Anders als Macchi, Gillis und andere unterstreicht E. die weisheitlichen Züge der masoretischen Fassung. Damit knüpft sie insbesondere an Arbeiten von Shemaryahu Talmon aus den 60er Jahren an, die in der Forschung allzu lange stiefmütterlich behandelt worden sind. Was die Gattung angeht, schlägt sie denn auch vor, von einer »Diasporanovelle« zu reden, »die stark weisheitliches Gepräge hat und als Festlegende fungiert« (40).
In zwei Punkten irritiert der Kommentar: Zum einen inhaltlich, wenn von Ester konsequent nicht als Cousine, sondern als Nichte Mordechais die Rede ist. Zwar gibt es seit Flavius Josephus eine Tradition, Ester als seine Nichte einzuführen – wohl um den Altersunterschied zu erklären –, doch sowohl im masoretischen Text als auch in der Septuagintafassung wird Ester aus Mordechais Perspektive eindeutig als »Tochter seines Onkels« bzw. als »Tochter des Bruders seines Vaters«, also als Cousine beschrieben (Est 2,7). Blickt man auf das Inhaltsverzeichnis, ist zum anderen formal nicht nachzuvollziehen, dass vergessen wurde, in der Titelstruktur des Kommentarteils das Ende der Einleitung (gemäß E. 1,1–2,23) und den Beginn des Hauptteils (Est 3,1–9,19) zu markieren. Erst beim Lesen des Kommentarteils merkt man schließlich auch, dass die Schlusspassagen von 2,19–23 sowie von 9,1–19 und 10,1–3 dazu dienen, den gesamten Teil (Einleitung – Hauptteil – Schlussteil) zu rekapitulieren.
Insgesamt stellt E.s Kommentar eine gelungene Überarbeitung des Esterbandes innerhalb der Reihe Biblischer Kommentar Altes Testament dar. Und die deutschsprachige Esterbuchforschung ist um ein solides, zum Weiterdenken animierendes Werk reicher.