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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1085–1087

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Froehlich, Susanne [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Als Pioniermissionar in das ferne Neu Guinea. Johann Flierls Lebenserinnerungen. Hrsg., eingel. u. kommentiert v. S. Froehlich. 2 Teilbde.

Verlag:

Teil I: 1858–1866, Teil II: 1866–1941. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. LXV, 1007 S. m. 80 Abb. u. 5 Ktn. = Quellen und Forschungen zur Südsee. Reihe A, 5. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-447-10164-6.

Rezensent:

Eckhard Zemmrich

Missionsgeschichtliche, autobiographische Quelleneditionen er­innern daran, dass ein Verständnis von Entstehung und Wachstum religiöser Identität nicht auf die Frage nach ihrer diskursiven Konstruktion und Dekonstruktion beschränkt werden darf. Ohne die Einbeziehung von den in solchen Texten beschriebenen subjektiven Erfahrungen und Erlebnissen, Motivlagen und Intuitionen als Fundament und Ergebnis religiöser Sinnzuschreibungen und Aushandlungsprozesse wäre die Gefahr weitaus größer, jeweils eigene Überzeugungen zu Motivation und Konsistenz religiösen Selbstverständnisses unreflektiert in Anwendung zu bringen – und so eine angemessene, kritisch-verständnisvolle Würdigung der un­hintergehbaren Kontextualität religiöser Identität und ihrer Ausbreitungsgeschichte zu verfehlen.
Die erstmals vollständig publizierten Lebenserinnerungen des Pioniermissionars in Papua-Neuguinea, Johann Flierl (1858–1947), bieten ein solches subjektives Lebens- und Glaubenszeugnis, das in seiner »ungeheure[n] Vielschichtigkeit« (I, Einleitung, XIX) Beachtung verdient. Der in zwei Bänden auf knapp 1000 Seiten von einer Ururenkelin Flierls herausgegebene Text wurde von einem ma­schinenschriftlichen deutschen Manuskript übertragen, das der über achtzigjährige »Missions-Senior« Flierl ursprünglich nur für seine Nachkommen in mehreren Durchschlägen angefertigt hatte. Die Herausgeberleistung besteht nicht allein in der Übertragung und wissenschaftlichen Aufbereitung des Textes. Susanne Froehlich stellt ihm auch eine ausführliche Einleitung voran, die den Stoff der von Flierl in acht fast durchweg chronologisch angelegten Kapiteln ihrerseits sachlich nach Themenkomplexen ordnet. Präsentiert werden darin unter Einbeziehung einschlägiger missionsgeschichtlicher Forschungsarbeiten dichte, zusammenfassende Überlegungen zu Berufungs- und Berufsverständnis des Missionars, seinen Familienverhältnissen, aber auch zu seiner Haltung gegenüber Kolonialismus und Nationalsozialismus.
Die Herausgeberin führt dabei die Auseinandersetzung durchweg im oben erwähnten Sinne, nämlich kritisch-verständnisvoll. Welche Ansprüche das mitunter stellt, zeigt die Bewertung des Verhältnisses Flierls zum Nationalsozialismus. Der in neulutherischer Tradition gepflegte, aber auch immer unter dem Bekenntnisvorbehalt stehende Gehorsam und Vertrauensvorschuss jeglicher »Obrigkeit« gegenüber hatte Flierl während fast 60 Jahren auf dem »Missionsfeld« zu einem kritisch-konstruktiven, geachteten Partner vier verschiedener Kolonialverwaltungen werden lassen, je­weils mit guten persönlichen Beziehungen zu deren obersten Vertretern. Flierl wollte, nach G. Warnecks Formulierung, »Gewissen der Kolonialregierung« sein (II, 359, passim). Dies meinte er dann auch Hitler gegenüber erreichen zu können, wobei sich aus den Lebenserinnerungen das spannungsreiche Bild einer unerschütterlichen Loyalität dem »Führer« und seiner antisemitisch-antikommunistischen Verschwörungspropaganda gegenüber ergibt, bei gleichzeitiger, entschiedener Kritik an den Zielen der »Deutschen Christen« und staatlichen, neuheidnischen Erziehungsbemühungen. Der Herausgeberin gelingt es, diesen Quellenbefund in seiner irritierenden Komplexität zu charakterisieren und nicht im Sinne vereinfachender Kategorisierungen vorschnell aufzulösen.
Besonders wünschenswert wäre auch eine eigene Betrachtung der Theologie Flierls gewesen, gerade mit Blick auf die von ihm beschriebene transkulturelle Ausrichtung des in Deutschland Gelernten und für eine Verhältnisbestimmung zu seinen besser rezipierten Kollegen in Neu-Guinea, Christian Keyßer und Georg Pilhofer. Dieses Desiderat mag man jedoch der nicht-theologischen Profession der Herausgeberin zugute halten: Sie ist von Hause aus Alt-Historikerin.
Die Autobiographie selbst beeindruckt nicht nur durch ihre sich konsequent durchhaltende, theologisch-spirituelle Verarbeitung des immer wieder gefahrvollen, ja abenteuerlichen Lebensweges Flierls. Sie besticht auch durch ihre frappante Fülle an Sach- und Hintergrundinformationen zu Personen und Ereignissen und der in jedem Fall phänomenalen Gedächtnisleistung des Verfassers. Zugleich zielstrebig und detailreich schildert er seinen Lebensweg vom einfachen Bauernjungen mit seinem früh entstehenden Berufswunsch, »Heidenmissionar« zu werden, über die hartnäckige Verfolgung dieses Berufszieles bis hin zur endlichen Erfüllung in Australien und dann vollends ab 1886: als erster Missionar im deutschen »Schutzgebiet« auf Neu-Guinea.
Die harte, unermüdliche Aufbau- und Entwicklungsarbeit wird geschildert, detailliert mit derjenigen anderer Missionswerke verglichen und in ihren Wechselwirkungen sowohl mit der jeweils herrschenden Kolonialpolitik als auch mit der Missionsleitung in Deutschland und den »Missionsfreunden« weltweit reflektiert. Die ständige Gefahr für Leib und Leben durch Tropenkrankheiten, Naturereignisse, Tiere und selbst- oder fremdverursachte Konflikte mit der indigenen Bevölkerung wird dabei immer wieder nur wie nebenbei erwähnt und stets der Berufung ein- und untergeordnet, der sich Flierl unerschütterlich gewiss bleibt. Sein lebenslanger Kampf ums Überleben und um Anerkennung erscheinen beide umfasst und getragen von einem tiefgegründeten Glauben, der auch einen lebensklugen Pragmatismus zeitigte.
Beachtenswert ist der durchgängig als von Rassendünkel frei beschriebene Umgang mit der indigenen Bevölkerung und die etwa am Beispiel der Kate- und Jabimsprache zum Ausdruck ge­brachte Wertschätzung ihrer Kulturleistungen. Das notorisch pa­triarchalische Gebaren des »Missions-Seniors« bekamen »die Braunen« ebenso wie »die Weißen« zu spüren, natürlich auch seine Familie und in besonderer Weise seine Frau. Die Herausgeberin bemüht sich hier wohltuend um einen editorischen Ausgleich, indem sie möglichst genaue biographische Angaben auch zu allen im Text genannten Frauen einbringt.
Das zweibändige Werk böte auch religionssoziologischen und -ökonomischen Untersuchungen reiches Quellenmaterial. Für Letztere zum Beispiel wegen der Beschreibung des permanenten Ringens um eine Balance zwischen Selbstversorgung und Spendenzufluss, auf die Missionsunternehmungen angewiesen waren – ein Phänomen, das Strategieüberlegungen von weltweiten Missionswerken bis heute prägt. Eine vom Text her ebenfalls naheliegende religionsgeographische Auswertung wird durch das leider sehr schlicht gehaltene Kartenmaterial im Anhang eher nicht gefördert. Dafür findet man dort aber zahlreiche aussagekräftige, auch bisher unveröffentlichte Fotographien sowie ausführliche Indizes zu Namen, Orten, Sachen und Bibelstellen.
Flierls erweckungstheologisch gegründete Überzeugung vom ganzheitlichen Anforderungsprofil christlicher Missionare und die Verehrung, die sein Andenken in Papua-Neuguinea bis heute erfährt, verleihen seinem nun vollständig vorliegenden Lebenszeugnis eine hohe Glaubwürdigkeit. Es ist geeignet, zu einer weiter differenzierenden, konstruktiv-kritischen Würdigung von Anliegen und Leistungen christlicher Missionsbemühungen im späten 19. und frühen 20. Jh. Wertvolles beizutragen.