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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1081–1083

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fechtner, Kristian, Hermelink, Jan, Kumlehn, Martina, u. Ul-rike Wagner-Rau

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Ein Lehrbuch.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2017. 289 S. m. 1 Abb. u. 3 Tab. = Theologische Wissenschaft, 15. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-17-028337-4.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Angesichts der sehr speziellen, 1972 einsetzenden Entwicklungsgeschichte der Lehrbuchreihe »Theologische Wissenschaft« (ThW) erscheint eine kurze Einordnung des hier zu besprechenden Bandes in den Gesamtzusammenhang dieser Edition sinnvoll: Das vor 46 Jahren aufgelegte Konzept des Lehrwerks ThW widerspiegelt in markanter Weise die Denkstrukturen einer theologischen Epoche, die sowohl ihr gesammeltes Wissen als auch ihre neuen Perspektiven primär im Kontext exegetischer und historischer Forschung formulierte. Keine andere theologische Lehrbuchreihe präsentiert sich mit einem derart starken Übergewicht an alt- und neutestamentlichen sowie christentumsgeschichtlichen Arbeiten wie die ThW. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es 28 Jahre brauchte, bis zum ersten Mal eine Praktische Theologie erschien. Umso unbefriedigender war der Umstand, dass Wolfgang Stecks im Jahr 2000 vorgelegtes Werk nur den ersten Teil einer Abhandlung darstellte, die erst elf Jahre später durch einen zweiten Band vervollständigt wurde. Diese »Praktische Theologie« erläuterte auf ca. 1350 Seiten die »Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt«, wie es im Untertitel hieß. Damit präsentierte sich das Werk zwar als facettenreiche und weitsichtige Programmschrift eines Fachgelehrten, sprengte aber völlig den intendierten Leitfadencharakter der Buchreihe, wie er mustergültig in deren Prototypen, in Walther Zimmerlis »Grundriß der alttestamentlichen Theologie« (1972; 223 S.) und Eduard Lohses »Grundriß der neutestamentlichen Theologie« (1974; 171 S.) zum Ausdruck kam – in Büchern, die aufgrund ihrer Lesbarkeit und Prägnanz zu Lehrbuch-Bestsellern avancierten.
Vor diesem Hintergrund ist der Versuch des Autorenteams Fechtner, Hermelink, Kumlehn und Wagner-Rau zu würdigen, mit Band 15 der ThW einen neuen Versuch zu wagen und die Praktische Theologie – nach 45 Jahren des Bestehens dieser Reihe – erstmals in Form eines Lehrbuchs zu präsentieren. (In der Zählung des Verlags ersetzt diese Schrift nun das Doppelwerk von Wolfgang Steck, das seinerzeit ebenfalls als Band 15/1 und 15/2 erschien.) Seinem Anspruch, »Grundlinien der aktuellen Diskussion im Fach« (15) nachzuzeichnen, wird das vorliegende Buch insofern gerecht, als es sich einer zeitgenössischen Praktischen Theologie verpflichtet sieht, von gegenwärtigen Herausforderungen ausgeht und weitgehend nur problembezogen auf historische Aspekte rekurriert.
Das Werk ist in zwei – von ihrem Umfang her ausgesprochen ungleiche – Teile gegliedert: Teil I, der nur knapp 15 Prozent des Seitenumfangs in Anspruch nimmt, präsentiert ausgewählte Prole-gomena der Praktischen Theologie, von den Autoren als »Querschnittsthemen« apostrophiert, die in gewisser Hinsicht bei jedem der in Teil II dargestellten Reflexions- und Praxisfelder mit zu be­rücksichtigen sind. Dabei geht es um das Verständnis von Praktischer Theologie »als Theorie der christlichen Religionspraxis« ( U. Wagner-Rau), um das Verhältnis von »Christentum und moderner Gesellschaft« sowie »Religion und Gegenwartskultur« (K. Fechtner) und schließlich um die in jeder Epoche bzw. in jeder Generation neu zu erörternde Frage nach dem Verhältnis von »Religion und Individuum« (M. Kumlehn). Dem Autorenteam ist es gelungen, die mit diesen Fragestellungen verbundenen Herausforderungen in­terdisziplinär zu präzisieren und theologisch zu vertiefen. Es dürfte nur wenige vergleichbare Lehrbuchtexte geben, die auf so knapp be­messenem Raum in der Manier von Essays wichtige Brenn-punkte der hinter diesen Themen stehenden Debatten in den Blick bekommen, Kriterien eines theologisch und interdisziplinär anschlussfähigen Religionsverständnisses benennen, die »Reichweite« der gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte eines zeitgenössischen Christentums markieren und die Grundfragen von (religiöser) Identität, der Erfahrungsorientierung Praktischer Theologie u. a. m. erläutern.
Im Teil II werden dann zehn »Handlungsfelder« auf jeweils 25 bis 30 Seiten skizziert: 1. Kasualien, 2. Kirchentheorie, 3. Pastoraltheorie, 4. Liturgik, 5. Homiletik, 6. Seelsorge, 7. Religionspädagogik, 8. Diakonik, 9. Publizistik, 10. Frömmigkeit/Spiritualität. Ge­wiss hätte man z. B. Kirchentheorie und Frömmigkeit auch im Rahmen der Prolegomena bzw. der »Querschnittsthemen« erörtern können, sind die damit verbundenen Fragen doch für jedes der sonst in Teil II behandelten Reflexions- und Handlungsfelder hoch relevant. Andererseits profitiert die Einbettung dieser beiden Themen unter den Spezialgebieten der Praktischen Theologie davon, dass sie auf diese Weise nach einem Sieben-Punkte-Schema erschlossen werden, dem alle Kapitel des Teils II folgen: Die Nennung je konkreter Herausforderungen, Hinweise auf Ansätze der Reflexions- und Handlungsorientierung, empirische Befunde, historisch-systematische Anschlussstellen, praktisch-theologische Grundbestimmungen, aktuelle Diskurse und schließlich Zu­kunftsfragen erweisen sich zusammengenommen als geeignetes Erschließungsmuster, um die Fülle der Diskurse zu kanalisieren und didaktisch aufzubereiten.
Am Schluss wünschte man sich – ähnlich wie in Teil I – eine bündelnde Sondierung anstehender praktisch-theologischer Grund-fragen bzw. eine Perspektivenbildung, die über die kapitelweise oft nur knapp angedeuteten »Zukunftsfragen« hinausgeht. Manche der hier als künftige Herausforderung bezeichneten Fragestellungen erscheinen mir gegenüber tieferliegenden Problemzonen eher peripher: »Predigt als Rede im Namen Gottes oder als Rede vom Glauben?« (169), »Gottesdienst als stellvertretendes Handeln […] für diejenigen, die sich selbst gar nicht einfinden«? (151): Liegen wirklich hier die demnächst anzugehenden Herausforderungen der Praktischen Theologie? Dürfte nicht, um nur ein Beispiel zu nennen, die Frage nach einer interdisziplinär reflektierten, praktisch-theologisch stimmigen Anthropologie – als Teil des Referenzrahmens der Gottesdienstvorbereitung, der Predigtarbeit, der Seelsorge sowie als eine Basiswissenschaft jeglicher Handlungsfelder der Praktischen Theologie – von größerem Gewicht sein? Bei dieser Rückfrage wird durchaus eingeräumt, dass solche Akzentuierungen Teil des praktisch-theologischen Diskurses selbst, aber gerade deshalb für die Einübung in praktisch-theologisches Argumentieren wichtig sind.
Das Buch lädt zu diesem Diskurs nicht nur ein, sondern vermittelt dank seiner didaktischen Ambitionen geeignete Voraussetzungen dafür, sich gut informiert in ihn einzuarbeiten und sich im praktisch-theologischen Argumentieren zu üben. Angesichts in­teressanter – und für das Verständnis der Praktischen Theologie wichtiger – Analogien in den Diskursen rund um die verschiedenen Schwerpunkte dieses Fachs sollte in der 2. Auflage zumindest ein Sachregister nicht mehr fehlen.