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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1079–1081

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dressler, Bernhard, Feige, Andreas, Fischer, Dietlind, Korsch, Dietrich, u. Albrecht Schöll

Titel/Untertitel:

Innenansichten. Zum profes-sionellen Umgang mit Religion im Pfarramt.

Verlag:

Leipzig: Evange-lische Verlagsanstalt 2017. 352 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05117-5.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Dass den Pfarrern und Pfarrerinnen eine Schlüsselrolle zukommt, wenn es um die Präsenz von Kirche und Christentum in der Gesellschaft geht, ist allgemein bekannt. Wie sehr dabei gerade der persönlichen Beziehungsqualität im Verhältnis zu den Kirchenmitgliedern und weit darüber hinaus Bedeutung zukommt, belegte erneut die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (2014). Auch angesichts wachsender Distanz gegenüber »kerngemeindlichen« Aktivitäten und Mentalitäten, ja sogar angesichts des Zerbrechens volkskirchlicher Strukturen und der Auflösung des landeskirchlichen Systems flächendeckender kirchlicher Versorgung, erfüllt der Pfarrberuf immer noch die Funktion einer ins Ganze der Gesellschaft ausgreifenden, alle angehenden Darstellung und Mitteilung der christlichen Religion – seien sie engagierte Kirchenmitglieder oder nicht. Warum ist das so und vor allem, wie schaffen die Pfarrer und Pfarrerinnen das?
Schon das Forschungsdesign und die Profilierung der Fragestellung vorliegender Studie zeigen eine religionssoziologische und kirchentheoretische Ausrichtung an, die prononciert gegen diejenige Interpretation der Ergebnisse der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gerichtet ist, die die soziale Reichweite der christlichen Religion mehr oder weniger auf Kirchenmitgliedschaftsverhältnisse eingrenzen möchte, daraus die pastorale Konzentration auf die gemeindlich Engagierten einfordert und theologisch die Weite volkskirchlichen Denkens und damit das von seinen Gegner so bezeichnete »liberale Paradigma« verabschieden möchte (vgl. Pollack, Wegener). Demgegenüber wird in dieser Studie von der religionstheoretisch begründeten Forschungshypothese ausgegangen, dass die Präsenz der christlichen Religion im Leben der Menschen nicht daran festzumachen ist, ob und wie energisch Kirchenmitgliedschaft praktiziert wird oder theologisch bzw. kirchlich-traditionell vorgegebene Lehr- und Glaubensaussagen ge­kannt werden und zustimmungsfähig erscheinen. Religion wird forschungskonzeptionell vielmehr mit Joachim Matthes (1992) als ein »diskursiver Tatbestand« aufgefasst, in dem immer eine be­stimmte »kulturelle Programmatik« zum Ausdruck kommt. D. h., was lebenspraktisch als Religion erscheint und als solche soziologisch wahrgenommen wird, hängt vom Diskurs über sie ab, aus dem sie gleichwohl nicht entsteht. Sie bildet sich in der Unmittelbarkeit der Lebensvollzüge, in den kleinen, mittleren und großen Transzendenzerfahrungen (Luckmann), in denen immer auch die Fragen, die auf den Sinn des Ganzen gehen, aufbrechen können. Das ist zumeist allerdings nicht auf explizite Weise der Fall, sondern bleibt weithin in vorsprachlicher Unbestimmtheit.
Orientiert an diesem Religionsbegriff geht die vorliegende Studie davon aus, dass, lehrmäßig gesehen, die Unbestimmtheit der gelebten Religion, wie auch die von vielen praktizierte Kirchendis-tanz missverstanden sind, wenn man darin den Ausdruck religiöser Indifferenz meint sehen zu müssen. Im Gegenteil, die in lehrmäßiger Unbestimmtheit gelebte, in Lebenssinndeutungsanforderungen implizit angelegte Religion wartet unter Umständen geradezu darauf, in der Gestaltung religiöser Kommunikation explizit zu werden. Diese Anforderungen und die aus ihnen hervorgehende Erwartung zu sehen und ihnen entsprechen zu wollen, wird von daher zur Aufgabe der Experten im professionellen Umgang mit Religion, als welche die Pfarrer und Pfarrerinnen von dieser Studie am Leitfaden ihrer religions- und kirchentheoretischen Grundannahmen angesehen werden. Die Professionalität von Pfarrern und Pfarrerinnen im Umgang mit Religion hätte darin zu bestehen, nicht die positionell und individuell eigene Religion anderen vermitteln zu wollen, noch sie auf eine im Studium gelernte, theologisch gelehrte Religion zu verpflichten. Die Professionalität müsste sich in einem flexibel reflektierten Umgang mit der eigenen Religion wie auch im umsichtigen Umgang mit der Unterscheidung von Theologie und gelebter Religion zeigen. Pfarrern und Pfarrerinnen sollte es möglich sein, die ins Leben eingelassene und im Lebensvollzug zumeist implizit und unausdrücklich bleibende Religion der Menschen artikulieren sowie – unter Aufnahme des religiösen Deutungspotentials der Tradition – in eine kritische Verständigung über sich hineinnehmen zu können. Gelingt das den Pfarrern und Pfarrerinnen? Praktizieren sie einen in diesem Sinn professionellen Umgang mit Religion?
Das ist die Forschungsfrage, der ein Team von zwei Theologen (Bernhard Dressler und Dietrich Korsch), einer Soziologin und zwei Soziologen (Dietlind Fischer, Andreas Feige und Albrecht Schöll) auf dem Wege qualitativ verfahrender Sozialforschung nachgegangen ist, indem es narrative Interviews mit der Methode der Erzählanalyse (Schütze) und der objektiven Hermeneutik (Oevermann) ausgewertet hat. Die fachmethodisch präzise validierte Interpretation aller 26 Interviews, die die Autoren der Studie mit Pfarrern und Pfarrerinnen im hessischen Raum selbst geführt haben, stellt die vorliegende Studie in Kurzporträts vor (vier der Porträts werden am Schluss der Studie zusammen mit der Langfassung der Fallanalysen präsentiert). Jedes der Porträts ist so strukturiert, dass verdeut licht wird, wie zur Zeit des Interviews die berufliche Situation des/der betreffenden Interviewten aussah, wie der biographische Weg zum Theologiestudium verlaufen ist, welches wichtige Themen bzw. Lehrer im Theologiestudium waren, welche beruflichen Entwicklungen auf das Studium gefolgt sind, und schließlich, welches Profil der Umgang mit den Aufgaben und Herausforderungen des Pfarrberufs erkennen lässt.
Diese Kurzporträts allein schon lohnen die Lektüre dieser so­wohl pastoralsoziologisch wie pastoraltheologisch bahnbrechenden Studie. Mit Oevermanns Analysetechnik, nach der in der Auswertung der Interviews strikt verfahren wird, gelingt es, die la-tenten Sinnstrukturen in den Äußerungen der Interviewpartner aufzudecken. Auch noch diesen latenten Sinnstrukturen und nicht nur den expliziten Selbstäußerungen versuchen die Autoren der Studie in aufwendig-empathischen Formulierungsanstrengungen Ausdruck zu geben. So bringen sie nicht nur die momentane Selbstauslegung der Interviewten zum Vorschein, sondern lassen die biographisch habitualisierte Gestalt ihres pastoralen Selbstverständnisses hervortreten.
Den 26 Kurzporträts, die die nach Oevermann und Schütze verfahrende Auswertung der narrativen Interviews präsentieren, schließen sich Kommentare und Reflexionen der Autoren an, die die Antwort auf die Forschungsfrage formulieren. Diese geht, kurz zusammengefasst, in der Tat dahin, zu sagen: Pfarrer und Pfarrerinnen sind zu einem professionellen Umgang mit Religion fähig. Dies zeigt sich darin, dass es ihnen gelingt, nicht zuletzt durch die Reflexionskompetenz, die ihnen das theologische Studium verschafft hat, sich kommunikativ zwischen der gelebten Religion (der eigenen und der der anderen) und der tradierten, biblisch fundierten und kirchlich gelehrten Religion zu bewegen. Sie entwi-ckeln einen individuellen Habitus, der sie in die Lage versetzt, die christliche Botschaft so auszulegen, dass Menschen sich in ihrer Sinngewissheit gestärkt finden. Sie werden auf ihre Religion angesprochen, in der Weise, dass sie sich des sie tragenden, auch noch in Krisen und schuldhaftem Versagen ihnen die Lebensgewissheit erhaltenden, göttlichen Grundes bewusst werden können.
Pfarrer und Pfarrerinnen sind nah bei den Menschen und hören ihnen zu. Sie versuchen Kirche für die Religion der Menschen zu sein. Sie verlangen keine Zustimmung zu vorgegebenen Glaubenssätzen, sondern sind bemüht, die Menschen, wer sie auch seien, über das ihnen eigene, immer wieder ereignishaft, unmittelbar in ihnen selbst aufkommende religiöse Gefühl zu verständigen. So lässt diese Studie die Pfarrer und Pfarrerinnen sehen. Diese Selbstauffassung vom Pfarrberuf machen die 26 Porträts ausdrücklich, in dem sie auch noch den latenten Sinnstrukturen des beruflichen Selbstkonzeptes von Pfarrern und Pfarrerinnen Sprache verleihen.
Der Rezensent konnte diesen empathisch-interpretativen Porträts mit großer Zustimmung folgen. Was ihn im Blick auf die Studie insgesamt allein etwas skeptisch stimmt, ist, dass in den An­schlusskommentaren und Reflexionen der Autoren und der Autorin der Religionsbegriff eine sehr viel zentralere Stellung einnimmt, als in den latenten bzw. offenkundigen beruflichen Selbstkonzepten der Pfarrer und Pfarrerinnen, die die 26 Porträts zum Ausdruck bringen. Ob es in der theologischen Aus-, Fort- und Weiterbildung nicht doch noch sehr viel mehr Arbeit an einer religionsbewussten Theologie bräuchte, einer Theologie, die sich um eine solche Verständigung der pastoralen Praxis über sich bemüht, wie sie die Pfarrer und Pfarrerinnen im beruflichen Alltag offensichtlich allererst zu entwickeln lernen? Vielleicht bliebe dann auch vom theologischen Studium mehr hängen, als es die Porträts dieser Studie erkennen lassen.
Wie dem auch sei, wer dieses Buch zur Hand nimmt, in dem wächst die Achtung vor dem so schweren und zugleich ungemein beglückenden Pfarrberuf.