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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

85–87

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Casper, Bernhard

Titel/Untertitel:

Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 1998. 173 S. 8 = Phänomenologie. Texte und Kontexte, 3. Geb. DM 48,-. ISBN 3-495-47894-9.

Rezensent:

Jörg Disse

C.s religionsphilosophische Untersuchung zum Geschehen des Betens gründet in einer philosophischen Anthropologie, deren hermeneutisch-phänomenologischen Ansatz der Autor im Epilog kurz skizziert. C. geht im 2 aus vom Faktum des "Sich-überschreiten(s) des Menschen in ein ihm Unverfügbares hinein" (15), das der neuzeitlichen Autonomie als einem Streben nach beherrschendem, in den eigenen Grenzen verharrendem Verstehen der Wirklichkeit entgegengesetzt wird. Sich-Überschreiten meint ein Sich-Einlassen auf das Andere, das Verwunderliche, Neue und Fremde, meint - mit Verweis auf S. Weil - ein Geschehen der Aufmerksamkeit als eine Haltung der "Passivität des Angegangenwerdens" vom Gegenstand (15). Wesentlich für C. ist dabei der eigentümliche Zeitigungscharakter der Aufmerksamkeit. Statt Sammlung der Wirklichkeit in eine Synchronie des Anwesendseins hinein ist sie ein Warten, welches alles Anwesendsein ständig durch die Ausrichtung auf das Andere als das Unverfügbare, sich als Gabe Ereignende, durchkreuzt. In diesem "natürlichen Gebet der Seele" (Malebranche) findet das Subjekt zu sich selbst. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit insbesondere auf Grund- und Grenzsituationen des Menschen, vor allem auf seine Sterblichkeit, die ihm die Not des Sichaufgegebenseins, Sichselbstzeitigenmüssens vor Augen führt ( 3).

Das Sich-Überschreiten aber geschieht - in Anlehnung an Levinas - immer als Antwort auf die Begegnung mit dem anderen Menschen ( 4). So liegt jedem Sprachereignis die Bitte zugrunde, von dem Anderen gehört zu werden, und hat damit in sich schon Gebetscharakter. Die bittende Aufmerksamkeit auf den Anderen ist darüber hinaus von einem Verbot geleitet, ihn im Sinne Kants nicht bloß als Mittel zu brauchen. Den ethischen Anspruch, der auf diese Weise vom Anderen ausgeht, versteht C. im 5 als unendlich. Er ist unendlich, weil mir immer schon gegeben, mich zugleich nie endend je neu herausfordernd, und weil unbedingt, da an keine Voraussetzungen gebunden. Hieraus aber wird unmittelbar - unmittelbarer noch als bei Levinas selbst - gefolgert, der unendliche Anspruch des Anderen bezeuge sich als Herrlichkeit des Unendlichen, d. h. als Gott im Anderen. Wie jedoch soll von einer nur formalen Unendlichkeit des Immer-schon-da-Seins und des Nie-Endens auf die inhaltliche Unendlichkeit einer Vollkommenheit geschlossen werden, von der ein ethischer Anspruch überhaupt erst an mich ergehen kann bzw. das Verhältnis zum Anderen als Grundlage für das Gebet verstanden werden kann? Das für alles Gebet grundlegende Gottesverhältnis schleicht sich in die Analyse von C. mehr stillschweigend hinein, als dass es phänomenologisch aufgewiesen wird.

Im 6 wird das anthropologische Fundament noch einmal vertieft. Der Mensch ist ein Wesen, das sich grundsätzlich verfehlen kann, das Freiheit zum Guten und zum Bösen ist und sich zudem in einem Zusammenhang vorfindet, in dem ein Sich-Verfehlen des Menschlichen immer schon stattgefunden hat. Dies geht, wie der 7 zeigt, einher mit einem Grundbestreben des Menschen dahin, dass alles "zu der Fülle seines ,Seins’" komme (55). Dieses Ziel bildet den Richtungssinn des Weges, den der mit Vernunft und Freiheit begabte Mensch aufgerufen ist, einzuhalten. Das Gebet aber ist das Geschehen der sich verwirklichenden Vernunft und Freiheit. Dabei bildet es eine besondere Zeit (in der Zeit), deren eigene zeitliche Struktur die Einheit augustinischer "amans memoria" und eines Vorauslaufens in die Vollendung ist. Es handelt sich um einen Akt nichtintentionaler Intentionalität, um einen Akt reinen Harrens, d. h. um ein Gebet ohne "Geste des ,etwas Verlangens’" (63). Das Beten als Ruf aus dem Aufenthalt im Gewöhnlichen heraus ist schließlich immer ein "responsorisches" Geschehen, d.h. die Antwort auf ein Angegangenwerden des Menschen vom unvordenklichen und unausdenklichen Grund selbst.

Der 8 befasst sich mit dem Verhältnis von Gebet und Sprache. Hervorgehoben werden als Momente die sprachanalytische Bestimmung des Gebets als Sprachhandlung, das Beten als ein Sprechen aus dem Eigensten heraus, die Leibhaftigkeit des Betens, die Sprachhandlungen der Klage und des Lobes sowie die Dialektik von Rede und Schweigen, d. h. das Gebet als ein Geschehen "des Verstummens und des im Verstummen sich zutragenden Anrufes" (86 f.), wobei hier eine Absetzung vom "metaphysischen Denken" als einer "einseitigen" negativen Theologie vorgenommen wird, die einer näheren Betrachtung etwa des von C. herangezogenen Dionysios’ Areopagita (vgl. dort die Rolle des Präfixes ,hyper-’!) nicht standhält. Im 9 betont C. vor allem die Verwiesenheit allen Gebets auf das Verhältnis zum Anderen, zum Mitmenschen. Die Intentionalität des Betens geht einerseits immer schon auf das gemeinsame Heil, andererseits wird der sakramentale Charakter des Betens hervorgehoben: Die Gemeinde ist sich selbst "die erste Frucht des Gebetes" (102). Weitergeführt wird dieser Gedanke im 10 in Bezug auf Festtage als "Tage des Eingedenkens", als "in Verleiblichung des Miteinander gelebte Steigerung" des Gebets (108). In 11 untersucht C. das Verhältnis des Gebets zur Seinsweise des Alltäglichen im Sinne eines Ausbruchs aus der Selbstentfremdung des Menschen im Alltäglichen, eines Innehaltens, das zudem erst ermöglicht, dem alltäglichen Geschehen seine Orientierung, seinen Sinn zu geben. In 12 schließlich wird das erarbeitete Gebetsverständnis in sehr knapper Ausführung von verschiedenen Formen des Verfallens des Religiösen abgehoben, deren gemeinsamer Nenner die zu anfangs erwähnte Autonomie als ein das Sich-Überschreiten negierendes Sich-Absolutsetzen ist.

Das Buch zeichnet sich dadurch aus, dass der Kerngedanke, das Verstehen des Gebets vom Zeitigungscharakter menschlichen In-der-Welt-Seins und damit von der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit des Daseins her, überzeugend und mit großer Sensibilität für das religiös Eigentliche dargestellt wird. Der von C. skizzierte Ansatz zu einer hermeneutischen Religionsphänomenologie verdient es gerade im Hinblick auf diesen Kerngedanken weitergeführt zu werden. Ich möchte jedoch dafür plädieren, die implizite, für die philosophische Konsistenz von C.s Ansatz m. E. abträgliche Scheu allem gegenüber, was auch nur den Anschein von Metaphysik erwecken könnte, fallenzulassen.