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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1072–1075

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wirth, Mathias

Titel/Untertitel:

Distanz des Gehorsams. Theorie, Ethik und Kritik einer Tugend.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. IX, 449 S. = Religion in Philosophy and Theology, 87. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-154086-8.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Bei diesem Buch von Mathias Wirth handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und teilweise gekürzte, von Marco Hofheinz betreute Dissertation, mit der W. im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover promoviert wurde. In dieser sprachtheologischen Untersuchung wird der verbreitete Vorbehalt gegen die Verwendung der Gehorsams-Semantik in Theologie und Philosophie aufgegriffen, unter Mobilisierung interdisziplinärer Ressourcen vertieft und einer sachlichen Begründung zugeführt. Der abschließende Vorschlag besagt, die Kategorie des Gehorsams aus der theologischen Sprache zu verabschieden und durch »Freundschaft« zu ersetzen.
Einleitend erörtert W. unterschiedliche Definitionen des Be­griffs und Funktionszusammenhänge, in denen er verwendet wird. Er grenzt den Gehorsam scharf gegen Freiheit ab und versteht ihn als Ausdruck von Heteronomie, die von einem Sollen in Gestalt einer Pflicht oder eines Befehls ausgeht. »Gehorsam ist die gewünschte Haltung, die auf den Befehl einer Autorität folgt; Autorität erscheint so als präzises Korrelat des Gehorsams. Der Befehlshaber inauguriert mit seinem Befehl nicht Deliberation, sondern wünscht prompte Umsetzung« (14). Die heteronome Struktur des Gehorsams verleiht der Studie ihren Titel, indem sie als negative Distanz interpretiert wird. Vorausgesetzt ist dabei die These von einer der Handlungssituation vorausliegenden Freiheit. Positive Distanz beschreibt dabei »die Grundfähigkeit […], gerade darin formal frei zu sein, sich trotz aller materialen Bedingtheit zu allem und jedem, auch zu sich selbst, in Distanz setzen zu können« (3). Der Gehorsam dagegen befindet sich in negativer Distanz zur Freiheit, »denn ihr Absehen besteht wesentlich in innerer Distanz zur Tat eigener Freiheit« (4). Negative Distanz verneint die »eigene Überzeugung und schließlich die positive Freiheit zum Eigenstand« (ebd.). Vor dem Hintergrund dieses in Auseinandersetzung mit zahlreicher Literatur abgeleiteten Begriffsgefüges »will diese Studie eine Antwort auf die Frage versuchen, warum die Beziehungsform des Gehorsams sowohl in einer allgemeinen Ethik als auch in theologischen Zusammenhängen, trotz ihrer traditionellen Bedeutung, heute Unbehagen und nicht selten Schweigen auslöst, wenn es nicht zu drastischen Uminterpretationen kommt, die besonders aus dem Bereich der christlichen Theologie stammen« (15).
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Unter der Überschrift »Paradigmen« analysiert W. in drei Kapiteln des ersten Teils drei »Gehorsamserzählungen« (18). In einer psychologisierenden Deutung wird Gen 22 als Beispiel für die »Distanz des religiösen Gehorsams« (40) präsentiert: »Nicht zu Gott, aber zur befohlenen Tat steht Abraham in maximaler Distanz« (42). Zur Analyse des politischen Gehorsams in Kapitel 2 trägt W. Ergebnisse aus der NS-Forschung zusammen und resümiert: »Der NS-Gehorsamstyp besteht […] aus drei Elementen: Eliminierung oder nationalsozialistische Umbildung des eigenen Gewissens, Instrumentalisierung für NS-Autoritäten, Fehlen von Mitleid.« (90) Differenzierter fällt die Beschreibung des psychologischen Gehorsams aus, den W. auf der Basis der Experimente des US-amerikanischen Psychologen Stanley Milgram präsentiert: Das menschliche Handeln ist dominant durch Gehorsamsneigung bestimmt.
Menschen »treten in Gehorsamsdiskursen (unbewusst) in Distanz zu sich selbst und lassen sich heteronom bestimmen. […] Zwar befolgten die meis-ten Probanden in einem peripheren Gehorsam den Befehl zur Folter mit Strom, innerlich gerieten sie […] in schreckliche Gewissenskonflikte, die sie zwischen Mitleids- und Gehorsamsmoral zermürbten. Gerade diese Konflikthaftigkeit […] gewährt Einblicke in das hier aufgedeckte Distanzgeschehen. Das innere Konflikterleben ergibt sich aus der heteronomen Belastung durch abverlangten Gehorsam, der gegen innere Überzeugung steht.« (123)
Teil II ist mit »Philosophie und Ethik des Gehorsams« überschrieben und untersucht in zwei Kapiteln »Problem-Facetten« von Gehorsam und Ungehorsam. Diskutiert werden Konzepte von Kant, der Frankfurter Schule, Arendt und Foucault sowie Schleiermacher, Lévinas und Gadamer. Das sechste Kapitel bündelt die Ergebnisse beider Teile. W. gewinnt den Begriff einer Freiheit, die einerseits ihre Schranken kennt, die andererseits ethisch positioniert ist. »Bei keinem der genannten Denker der Grenzen menschlicher Autonomie folgt aber in der Quintessenz aus anerkannter Angewiesenheit Abdikation von Verantwortung. Das Gespräch […] zeigt […], dass die schroffe Alternative Libertinismus oder Preisgabe von Ich und Verantwortung unhaltbar ist. Ethisch verantwortliches Handeln bewegt sich im Mittelpunkt dieser beiden Pole. Als Gehorsamshandeln deklariert, läuft es Gefahr, unvermeidlich mit dem Grenzgebiet der Preisgabe von Ich-Instanz und Verantwortung assoziiert zu werden« (298).
Teil III ist theologisch angelegt: »Distanz des Gehorsams und Distanz zum Gehorsam. Zur Rekonstruktion einer evangelischen Beziehungsform«. In Kapitel 7 stellt W. drei wichtige theologische Kritiken am Gehorsamsbegriff vor, nämlich Falk Wagners trinitätstheologische Begründung jedweder Unhaltbarkeit des asymmetrischen Gott-Mensch-Modells, Eberhard Jüngels rechtfertigungstheologische Kritik eines despotischen Glaubensgehorsams und Wolfgang Hubers sozialethische Deutung der Kirche als machtkritische Anwältin der Freiheit. Unter der Überschrift »Freundschaft und der Versuch der Restrukturierung eines evangelischen Rates« legt W. in Kapitel 8 seinen eigenen, in der Sache reizvollen Vorschlag vor, den Begriff der Freundschaft als Kategorie zur Bestimmung des Gott-Mensch-Verhältnisses zu verstehen und mit ihm die Gehorsamssemantik zu verabschieden. Zur Legitimierung dieses ambitionierten Vorhabens beruft er sich auf eine ökumenische Ahnenreihe (vgl. 348). Durchgeführt wird der Gedanke in vier eindrucksvollen exegetischen Studien zum Exodus (»Exodus als partnerschaftliches Freiheitsgeschehen«), Psalm 119 (»Psalm 119 und die liebenden Tränenbäche«) , Joh 13,1–20 (»Fußwaschung […] als Ausdruck von Freundschaft und Machtverzicht«) und Joh 15,14–15 (»Vom Ende des Knechtseins: Vos amici mei estis«), deren Ergebnisse er durch intensive Verweise auf die Forschungsliteratur abstützt.
Vor dem Hintergrund dieses biblisch-inspirierten Verständnisses der Gottesbeziehung als Liebes- und Freundschaftsverhältnis mit den Menschen erfolgt im letzten Kapitel die Verabschiedung von formaler Autorität, Macht und Gehorsam unter Verwendung zum Teil steiler theologischer Voraussetzungen und Formulierungen. So heißt es zum Beispiel:
»Weil Jesus in seiner Menschlichkeit die Menschen ergreifende und berufende Liebe ist, bedeutet selbst die Ohnmacht und Schande des Kreuzes für ihn keinen Verlust von Autorität. Die Autorität der Ohnmacht Jesu kann in ihrer Zurückweisung des Versuchs, andere als Mittel der Liebe zu gebrauchen, kaum als Disqualifizierung des Gehorsams überhört werden. […] Ohnmacht fordert keinen Gehorsam, sondern Solidarität, Liebe, Hingabe. Die mit Christus angebrochene Wirklichkeit und Heilheit der basileia ist zugleich das Ende eines Gehorsams, der Freiheit zwingt und Liebe lähmt.« (391)
Diese christologische Verabschiedung wird abschließend mit dem Befund in »autonomen Ansätzen in der Ethik« (394) abgeglichen. Folgerichtig endet die Arbeit mit einem Imperativ, jeder Gehorsamsanmutung zu widerstehen: »Weil du selber Verantwortung übernehmen kannst, weil in dir selber eine Instanz ruht, der du als von Gott gerechtfertigt, aufgerichtet und anerkannt folgen darfst, deshalb sollst du dir selbst trauen und allen Formen des Gehorsams als heteronomer Supression deiner Autonomie widerstehen, selbst dort, wo du in Angst der eigenen Marginalität und Ungesichertheit so gewahr wirst, dass du nicht nur den Diskurs suchst, sondern bereit bist, dich bestimmen zu lassen, was du nicht sollst, weil du in der Tradition des Exodus-Gottes zur Freiheit befreit du selbst sein kannst« (395).
Das Buch führt viele und gute Argumente an, um eine Einsicht zu belegen, der wohl keiner widersprechen mag. Insofern trifft W. mit seiner sprachtheologischen Kritik an der Tugend des Gehorsams ins Schwarze. Trotz dieser Zustimmung seien drei kleine Bedenken angebracht. Einmal erscheint ein Freiheitsverständnis, das jede Heteronomie programmatisch abstreifen will, doch etwas vordergründig. Ein vertieftes Freiheitsverständnis wird sich gerade mit jenen Fremdbestimmungsfaktoren arrangieren müssen, wie sie etwa im Schicksal, in Krankheit oder auch im unerwarteten Glücksmoment begegnen. Diese Faktoren haben auch religiöse Valenz und zeigen, dass im Freiheitsleben womöglich einem »Ge­horsam«, nicht aber der mit ihm in dieser Studie gleichgesetzten »negativen Distanz« ausgewichen werden kann. Zweitens, die Kategorie der Freundschaft zur Rekonstruktion des Gottesverhältnisses ist gar nicht so selten, wie W. vermeint (vgl. 346 f.). In der Aufklärungstheologie hatte sie z. B. große Konjunktur, die aber in derjenigen theologischen Tradition, in die sich W. stellt, nicht wohl gelitten war. Der Freund der Aufklärung registriert indes gern, dass hier mit Entdeckerfreude Bekanntes reformuliert wird. Drittens, die Probe aufs Exempel dürfte für den sprachtheologischen »Austausch des Begriffs Gehorsam durch Liebe, Hingabe, Treue etc.« (342) noch ausstehen: Wie verhält sich der hier unterbreitete Vorschlag zu der zu dieser Semantik gehörenden Tradition in Liturgie, Kirchenlied und Gebet? W. räumt selbst ein, dass der Begriff nicht einfach aufgegeben werden kann, weil er »explizit als evangelischer Rat Teil der biblischen Urkunden ist« (303). Wie konkret die angestrebte »Revitalisierung durch Restrukturierung, die so tiefgreifend sein kann, dass sie sich als Substitution erweist« (304), werden kann, hätte der Leser gern gewusst. Bis zum Nachweis des Gegenteils wird für ihn an der zweiten Bitte im Vater Unser deutlich, dass humane Autonomie und menschliches Gottesverhältnis ohne Negativität wohl nicht zusammenzudenken sind.