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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1062–1064

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wagner, Hans

Titel/Untertitel:

Schriften zur Religion und zur Religionsphilosophie. Hrsg. v. R. Aschenberg.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017. XX, 500 S. = Hans Wagner – Gesammelte Schriften, 7. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-506-78731-6.

Rezensent:

Klaus E. Müller

Hans Wagner (1917–2000) gehört zu den großen Vergessenen des 20. Jh.s, ähnlich wie Wolfgang Cramer (über den er geschrieben hat und von dem er rezensiert wurde) – vergessen wohl deswegen, weil er der (heute selbstverständlichen) Überzeugung war, dass so etwas wie eine Metaphysik auch nach Kant – unter Respektierung von dessen bleibenden Einsichten – möglich sei. Nicht einmal im Gefilde der (nach W. Pannenbergs Überzeugung doch so metaphysikaffinen) katholischen Theologie fand er bislang adäquates Gehör.
Wenn überhaupt etwas, dann könnte der vorliegende Band daran etwas ändern. Es handelt sich um den siebten und numerisch letzten Band von W.s Gesammelten Schriften. Freilich könnte sein, dass dessen spezifischer Aufbau erneut zu einem Rezeptionshemmnis wird, auch wenn die Einleitung des Herausgebers (vgl. V–XX) darüber hinlänglich aufklärt.
Der Band enthält nämlich zwei Teile völlig verschiedener Provenienz. Beim ersten Teil Existenz, Analogie und Dialektik (1–229) handelt es sich um eine überarbeitete Variante seiner Habilitationsschrift von 1948, die Teil eines mehrbändigen Werkes werden sollte, das nie geschrieben wurde. Und der zweite Teil (231–468) besteht aus Religionsbriefen – vermutlich geschrieben in den 1980er Jahren –, die 2011 postum publiziert wurden. Insofern bindet der vorliegende Band W.s erstes und letztes Buch auf eigentümliche Weise zusammen (vgl. VI). Das Potential des ersten Teils, so der Herausgeber, sei bisher in keinem der dort behandelten thematischen Bereiche auch nur annähernd ausgeschöpft (vgl. XIII). Die Religionsbriefe wird man – unerachtet ihres bisweilen sehr persönlichen, konfessorischen Tons und ihrer partiellen Konzentration auf genuin katholische Problemstellungen – als Beitrag zu einer Metaphysik der Endlichkeit unter Kantischen Vorzeichen lesen dürfen, insofern sie davon ausgehen,
»dass die Möglichkeit des autochthonen, nämlich auf Übersinnliches und Wissens-jenseitiges bezogenen Geltungsanspruchs der Religion, obgleich mit den Mitteln wissenschaftlicher Philosophie in der Tat nicht positiv zu erweisen, eben deshalb, weil er im Glauben als wirklich angenommene Sachverhalte betrifft, deren Erkenntnis die Kompetenzen des auf die Felder möglicher Erfahrung eingeschränkten gegenständlichen Wissens übersteigt, durch Philosophie und Wissenschaft doch auch wieder nicht definitiv auszuschließen ist […].« (XVIII)
In einer 35-seitigen Einleitung (vgl. 9–44) zum ersten Buchteil bringt W. in wünschenswerter Klarheit zur Geltung, worum ihm zu tun ist: um eine Religionsphilosophie, die sich den Kriterien einer strengen Metaphysik gewachsen zeigt. (vgl. 17) Ein solches Unternehmen aber wird zur schieren Herausforderung, denn: »Die Wahrheitsfrage der Religion gegenüber scheint ebensowenig abweisbar wie lösbar. Sie führt in das Dunkel einer echten philosophischen Aporie« (24), die W. nachfolgend auch noch vierfach ausdifferenziert (vgl. 28). Ungleich wichtiger aber nimmt sich aus, dass er überzeugt ist, dass eine Lücke klaffe zwischen der Religionsphilosophie und den Theologien des Christentums, weil eine »Wissenschaft des Christentums« (36), genauer eine jenseits aller konfessionellen Prägungen, fehle. Deshalb habe – zumindest vorerst – eine Philosophie des Christentums die Stelle dieser fehlenden Theologie des Chris­tentums einzunehmen (vgl. ebd.). Als W. dieses Desiderat niederschrieb, konnte er nichts wissen von dem, was später Hans Urs von Balthasar mit seiner Trilogie aus Theologischer Ästhetik – Theo-Dramatik – Theo-Logik (10 Bde. in 15 Teilbdn.) vorlegen sollte, desgleichen Alex Stock mit seiner 11-bändigen Poetischen Dogmatik und – erstaunlich genug – der italienische Philosoph und Agnostiker Massimo Cacciari mit seinen Meisterwerken Dell’ Inizio, Della Cosa Ultima und Labirinto Filosofico. Mag von Balthasars Opus Magnum noch konfessionell geprägt sein und Stocks Werk über lange Strecken hinweg wie eine Quellensammlung wirken, die (so ähnlich wie Goethes Wahlverwandtschaften) aus sich selbst zu sprechen vermag, so begegnet uns in Cacciari ziemlich genau das, was W. eigentlich intendierte: eine allem konfessionellen Dissens enthobene, in Mythos und Logos eingebettete philosophische Theologie des Christentums. Und das Ergebnis des ersten Teils von W.s Buch lautet schlicht und einfach, dass dafür das klassische Analogie-Prinzip – selbst wenn es dialektisch angefüttert wird – nicht ausreicht, weil es heimlich doch noch einmal den Schöpfungsgedanken voraussetzt (was jeder Scholastiker sofort einräumen würde; vgl. XI).
Mag dieser erste Teil des Bandes ob der genannten Gründe schon herausfordernd sein – der zweite Teil, die Religionsbriefe (231–468), überbieten das. W. erhebt für diese Texte zwar keinen streng philosophischen Anspruch, gleichwohl geht ein solcher in Teilen mit ihnen einher – in besonderer Weise für den 1. bis 4. Brief. Dort – man muss es so sagen – kämpft W. mit der Frage der Universalität vs. Kategorialität des christlichen Gottesbildes: Wie denn möglich sei, dass – global gesehen – einer so kleinen Gruppe wie den Christgläubigen das definitive Heil zuzusprechen und alle anderen, zumal diejenigen, die historisch gesehen vorher lebten und nichts davon wissen konnten, dies zu versagen (vgl. 1. Brief). Dann gräbt W. tiefer und kommt zur Überzeugung, dass sich die Frage der Wahrheit von Religionen weder theoretisch noch wissenschaftl ich entscheiden lässt, sondern ausschließlich in einem existen-tiellen Sinn. Das macht er klar an dem Gleichnis, dass sein Herzensverhältnis zur eigenen Heimat keineswegs von einem anderen verlange, das Gleiche zu empfinden (vgl. 256). Die Kontingenz faktischer Biographien führt ihn zu der Einsicht, dass Gott den Untergang all derer, die vom Evangelium nichts erfahren haben, einfach nicht gewollt haben könne (vgl. 257). Und das führt W. zum Gedanken einer Dialektik von der Unendlichkeit Gottes einerseits und der Vielfalt möglicher Gottesvorstellungen andererseits, wie sie Jahrzehnte später zum Leitthema der kulturtheoretischen Religionskritik Jan Assmanns geworden ist:
»Kein Name, keine Kette von Namen, wie lang sie auch sei, kann die Unendlichkeit Gottes ausschöpfen; keine Vorstellung, kein Bündel von Vorstellungen kann der Unendlichkeit gerecht werden; jedes Konkrete, jede Verbindung von Konkretem nimmt das Unendliche wie ein Endliches; anders als durch vielerlei Endliches ist das Unendliche in konkreter Vorstellung schon gar nicht zu haben.« (262)
Und von diesem Punkt aus skizziert W. dann so etwas wie das Programm einer katholischen Religionsphilosophie. Themen der klassischen Apologetik (Tradition) werden dabei mit neueren Herausforderungen (etwa der Frauenfrage und dem Staat-Kirche-Verhältnis) auf gleichem Niveau behandelt. Zieht man die eher konfessionell bedingten Briefe ab, dann kann man zumal die ersten 13 cum grano salis Schleiermachers Über Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern an die Seite stellen. W. schreibt im letzten seiner Briefe:
»Nicht eigentlich aus besonderen theoretischen […] Gründen, sondern […] infolge der uns unaufhörlich präsenten Tatsache, dass wir Menschen sind […], taucht für unser Nachdenken die Entscheidung verlangende Nachfrage auf, ob wir […] nicht doch uns neben dem uns möglichen Wissen, und reinlich von diesem getrennt, ein immer wieder auf seine Heiligkeit kontrolliertes Glauben erlauben sollten.« (468)
Dass Volker Gerhardt dann genau diese Frage in seinem Buch Der Sinn des Sinns von 2014 umfänglich affirmativ beantwortet hat, mag als weiteres Indiz für die Weit- und Hellsichtigkeit von W.s Umriss einer Religionsphilosophie gelten.