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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1059–1062

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Vogelsang, Frank

Titel/Untertitel:

Die Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit. Phänomenologische Untersuchungen nach Merleau-Ponty, Ricœur und Waldenfels.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2016. 376 S. = Fermenta Philosophica. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-495-48822-5.

Rezensent:

Markus Iff

Mit seiner Arbeit zum Wirklichkeitsbezug der Rede von Gott, die im renommierten philosophischen Fachverlag Karl Alber 2016 erschienen ist, knüpft Frank Vogelsang an zwei Veröffentlichungen an, in denen er sich ebenfalls anhand leibphänomenologischer Perspektiven und Methoden mit fundamentalen Erkenntnisgrenzen befasst hat. In der Untersuchung »Offene Wirklichkeit. Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty« (2011) hat er analysiert, welche Aussagen wir über die Wirklichkeit unter der Berücksichtigung der Bedingungen unserer leiblichen Existenz machen können. In seiner Arbeit »Identität in einer offenen Wirklichkeit. Eine Spurensuche im Anschluss an Merleau-Ponty, Ri-cœur und Waldenfels« (2014) erörtert er, inwiefern eine phänomenologische Analyse der Identitäts-Thematik ermöglicht, verschiedenartige Identitätserfahrungen zu identifizieren und in einen erläuternden Zusammenhang zu stellen.
Das leitende Interesse der vorliegenden Untersuchung liegt nun in der Frage, welchen Beitrag die Rede von Gott zur Erschließung der Wirklichkeit – im Sinne einer offenen Wirklichkeit – leisten kann und welcher spezifische Erkenntnisgewinn ihr dabei zu­kommt (vgl. 25–27).
Die ersten vier Kapitel der Untersuchung sind theologie- und wissenschaftsgeschichtlich angelegt und beschreiben den Kontext, innerhalb dessen die Rede von Gott und der Zusammenhang mit einem offenen Verständnis von Wirklichkeit begründet und erörtert werden soll. Am Anfang stehen Beobachtungen zur paulinischen Rede von Gott und deren Verankerung in Inkarnation, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi (32–58). Von besonderem Interesse sind hier die unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen von Wirklichkeit, die in der Rede von Gott bei Paulus auszumachen sind und die das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens prägen (vgl. 49 f.).
Im zweiten Kapitel (59–70) wird die Rede von Gott und ihr metaphysisch grundierter Wirklichkeitsbezug in der Patristik und im Spätmittelalter angerissen und – im Blick auf den Nominalismus – aus Sicht neuzeitlicher Kritik problematisiert. Daran schließt sich eine historische und gegenwartsbezogene Darstellung der im Zentrum der Untersuchung stehenden Spannung zwischen naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibungen und theologischer Rede von Gott an (71–89). Der Vf. schlägt hier einen weiten Bogen von der Auflösung der Verbundenheit der Rede von Gott und ihrem Wirklichkeitsbezug durch das Aufkommen der Naturwissenschaften im 17. und 18. Jh. bis zu gegenwärtigen naturalistischen Theorien (vgl. 81 f.). Er plädiert im Blick auf den Dialog von Naturwissenschaft und Theologie – auf dem Hintergrund, dass eine genauere Analyse der naturwissenschaftlichen Ergebnisse eine offene Wirklichkeit zeigt, die sich geschlossenen Darstellungen entzieht – dafür, »ein gegenüber objektivierenden Darstellungen erweitertes Verständnis von Wirklichkeit zu gewinnen und zugleich die Fähigkeit zu steigern, den Beitrag der Rede von Gott für die Beschreibung dieser erweiterten Wirklichkeit darzustellen« (88).
Im vierten Kapitel diskutiert der Vf. mit Thomas Nagel philosophische Einwände gegenüber einer Verabsolutierung der Objektivität und argumentiert – angelehnt an Volker Gerhardts Überlegungen zur Individualität des Glaubens sowie dessen luzider Darlegung der Defizite von Subjektivitäts-Theorien – dafür, die Rede von Gott und ihren Zusammenhang mit der Wirklichkeit nicht auf das Selbstbewusstsein zu konzentrieren, sondern die Herausforderung der naturwissenschaftlichen Deutung der Welt aufzunehmen und »nach Alternativen zu einer Verankerung der Religiosität in der Subjektivität, in unserem Selbstverhältnis zu suchen« (122).
Nach diesen vier Kapiteln ist der Boden bereitet, die leibphänomenologische Beschreibung der offenen Wirklichkeit im Anschluss an die Arbeiten von Merleau-Ponty zu explizieren. Zunächst wird dabei in einer Kurzversion zusammengefasst, was in den beiden früheren Veröffentlichungen ausführlich analysiert und erörtert wurde im Blick auf die Phänomene und Erscheinungsweisen des Leibes (123–167). Im Mittelpunkt steht die Herleitung und Interpretation des Schemas des Chiasmus (137–149), das in der weiteren Untersuchung Grundlage der Überlegungen ist, inwieweit die Rede von Gott Wirklichkeitsbezug hat und einen Beitrag zur Erschließung von (offener) Wirklichkeit leisten kann.
Besonderes Merkmal des auf Merleau-Ponty zurückgehenden Schemas ist die Unterscheidung zwischen mehreren Erscheinungsweisen der Wirklichkeit, so dass solche Phänomene, die durch die naturwissenschaftliche Forschung erschlossen werden, ebenso erfasst und dargestellt werden können wie solche Phänomene, für deren Erfassung es hermeneutischer Methoden bedarf, oder solche, für die nur phänomenologische Beschreibungsformen etabliert werden können. Die Heuristik dieses Schemas zur Wirklichkeitserfassung liegt darin, »sehr unterschiedlich strukturierte Bereiche der Wirklichkeit miteinander in Beziehung zu setzen« (155) und mit fundamentalen Spannungen umzugehen, »denen wir in unserer leiblichen Existenz immer schon ausgesetzt sind« (ebd.). Das Schema bietet aufgrund seiner Differenzierungsfähigkeit zudem einen hilfreichen heuristischen Rahmen, »um der Wirklichkeitsrelevanz der Rede von Gott auf die Spur zu kommen« (166).
Die folgenden Kapitel untersuchen nun die Rede von Gott in­nerhalb der grundlegenden Erscheinungsweisen des Schemas, das die Wirklichkeit interpretierend darstellt. Zunächst analysiert der Vf. die Phänomene der »Erscheinungsweisen Kultur« (168) mit Hilfe von Paul Ricœurs Hermeneutik und verschränkt somit phänomenologische und hermeneutische Methoden. Er hebt insbesondere auf Ricœurs Überlegungen ab, dass es das Absolute nur in der historisch vermittelten Form menschlicher Rede »gibt« (vgl. 188–191) sowie seine Theorie der Grenzausdrücke, die menschliche Rede sind, und doch eine Qualität haben, die über die Interpretationen einer Welt in den Texten als Erscheinungsweisen von Kultur hinausgeht und »zu so etwas führt, was das ganz Andere genannt werden kann, weil sie eine grundlegende Überschreitung bezeichnen« (202).
Das siebte Kapitel befasst sich mit den Phänomenen der »Er­scheinungsweise X« (240–286). Solche Phänomene sind präsent, aber »für uns begrifflich unerreichbar« (256). Sie verweisen auf die Notwendigkeit einer umfassenden Beschreibung der Wirklichkeit »jenseits der etablierten und von Ordnungen geprägten Erscheinungsweisen Gedanke und Ding« (247) und sind über diese Erscheinungsweisen hinausgehend für den Wirklichkeitsbezug der Rede von Gott in einer offenen Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Solche Phänomene werden nun mit theologischen Strategien (P. Tillich; E. Jüngel; U. Barth; I. U. Dalferth; Ph. Stoellger) im Um­gang mit der Fundamentaldifferenz von Gott und Welt ins Gespräch gebracht, die eine statische Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz zu überwinden versuchen. Der Vf. verfolgt dabei konsequent die Frage, »wie man unter den Bedingungen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Wirklichkeit diese Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz reformulieren kann« (255 f.).
Mit Hilfe der phänomenologischen Theorie von Bernhard Waldenfels bietet das achte Kapitel eine detaillierte Interpretation derjenigen Phänomene, die sich an den schwer zu bestimmenden Grenzen von Ordnungen, Gedanken und Dingen befinden. Die terminologischen Unterscheidungen von Pathos und Response bei Waldenfels werden einerseits als Beleg für das Wirklichkeitsverständnis angeführt, das der Chiasmus darstellt, indem er die immer vorgängige dynamische Verflochtenheit des Leibes mit der Wirklichkeit erfasst, zu dem auch Phänomene der Erscheinungsweise X gehören. Andererseits wird die bei Waldenfels begegnende Vorstellung der Response als Hyperphänomen im Blick auf die Interpretation von Religionen (300–302) so gelesen, dass wir es im Blick auf die Erscheinungsweisen X »stets mit einem Differenten zu tun haben […] mit etwas, was sich zeigt und zugleich entzieht, was in unseren expliziten Wirklichkeitsvorstellungen nicht aufgeht, was sich unseren Kategorien entzieht, ohne dass dadurch alles in ein rein Numinoses abgleitet« (302). Phänomenologische Einzelanalysen einiger Grenzausdrücke (u. a. »Reich Gottes«, »Himmel«, »Gott, der Vater«) schließen sich an, in denen ein spezifischer Beitrag der Rede von Gott zur Deutung der Wirklichkeit deutlich wird. Die damit verbundenen Phänomene können nur indirekt und in einem dynamischen Sinne immer wieder neu erschlossen werden.
Das abschließende neunte Kapitel (347–355) geht kurz der Frage nach, wie die Rede von Gott auf solche Phänomene der Wirklichkeit bezogen ist, die von hoher Ordnung geprägt und d. h. naturwissenschaftlich und naturphilosophisch bestimmt sind.
Die vorliegende Untersuchung rezipiert und interpretiert vielfältige philosophische und theologische Traditionen im Blick auf die Frage, wie Gott im Leben und in der Welt wirklich ist. Dabei erkundet und expliziert der Vf. in verdienstvoller Weise die Potentiale leibphänomenologisch-hermeneutischer Erschließung der Wirklichkeit für die Rede von Gott und ihren Wirklichkeitsbezug.