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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1057–1059

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Landsberg, Paul Ludwig

Titel/Untertitel:

Das moralische Problem der Selbsttötung. Aus d. Franz. v. E. Moldenhauer. M. einem Essay v. W. Kamlah: Meditatio mortis. Hrsg. u. m. e. Nachwort versehen v. E. Zwierlein.

Verlag:

Berlin: Matthes & Seitz 2017. 130 S. = Fröhliche Wissenschaft, 91. Kart. EUR 14,00. ISBN 978-3-88221-978-4.

Rezensent:

Konstantin Sacher

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Landsberg, Paul Ludwig: Die Erfahrung des Todes. Hrsg., m. e. Einleitung u. e. Nachwort versehen v. E. Zwierlein. Berlin: Matthes & Seitz 2009. 175 S. = Fröhliche Wissenschaft. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-88221-660-8.


Phänomenologisch und katholisch – so lässt sich der Ansatz des 1901 in Bonn geborenen Philosophen Paul Ludwig Landsberg vielleicht beschreiben. Auf den ersten Blick mag das verwundern. L. stammte aus einem jüdischen Elternhaus. Auf den zweiten Blick scheint es weniger verwunderlich, war sein geradezu vergötterter philosophischer Lehrer, wie es ein Bekannter der Familie Landsberg einmal ausgedrückt hat, doch Max Scheler, nicht nur Mit-Begründer der Phänomenologie, sondern selbst vielfältig mit dem Katholizismus verbunden. L. schien eine glänzende Zukunft bevorzustehen. Sein Elternhaus war eines der gelehrten und gesellschaftlichen Zentren Bonns. Er wurde mit 21 Jahren promoviert und war mit 27 habilitiert. Heute ist er weitestgehend in Vergessenheit geraten. Dass er nicht ganz vergessen ist, verdankt er vor allem einer Schrift, die zuerst im Jahre 1935 auf Spanisch erschienen ist. Es handelt sich um seinen Essay Von der Erfahrung des Todes. L. war damals bereits im Exil. Er floh vor den Nazis, konnte ihnen aber letztlich nicht entkommen. Er starb im April 1944, nachdem er im Februar 1943 in Frankreich verhaftet und schließlich ins Konzentrationslager Oranienburg deportiert worden war. So kam dieser ungemein intelligente Philosoph nie ganz darüber hinaus, ein großes Talent zu sein, es zu veredeln war ihm nicht vergönnt.
Eduard Zwierlein hat Von der Erfahrung des Todes im Jahre 2009 im Berliner Matthes & Seitz Verlag neu herausgegeben, mit einer instruktiven Einleitung und einem sehr lehrreichen und gut geschriebenen Nachwort zu L.s Leben versehen. Im Jahre 2017 folgte dann die Neuausgabe einer weiteren Schrift L.s., Das moralische Problem der Selbsttötung, ein Essay, den Landsberg bereits 1942 auf Französisch schrieb und der zwei Jahre nach seinem Tod in der französischen Zeitschrift Esprit erstmals veröffentlicht wurde (ebenfalls mit Nachwort von Zwierlein). Diesem Text, in dem L., der sich ob seiner verzweifelten Lage im Exil immer wieder mit dem Gedanken der eigenen Selbsttötung auseinandersetzte, letztlich gegen die Selbsttötung argumentiert, ist Wilhelm Kamlahs Essay Meditatio Mortis beigegeben. Auch diese Schrift lebt, wie die beiden von L., davon, dass die zu behandelnde Fragestellung nicht nur von philosophischem Interesse ist, sondern von unmittelbar existenzieller Bedeutung. Kamlah argumentiert hier für ein »Recht auf den eigenen Tod« und nahm sich 1976, im Jahr der Veröffentlichung des Textes, schwer erkrankt das Leben.
Doch zunächst einmal zurück zu Von der Erfahrung des Todes. Dieser Essay ist in den mittlerweile 83 Jahren seit seiner Erstveröffentlichung immer wieder verlegt worden. Es gibt ihn in spanischer, französischer, deutscher, italienischer, englischer und rumänischer Sprache. In Deutschland ist die letzte Ausgabe 1973 im Suhrkamp Verlag erschienen. In Spanien wurde 1995 eine Neuausgabe herausgegeben – mit einer Einleitung von Paul Ricœur, in Frankreich 1993 und in Italien erschien 2004 sogar eine Sammlung der philosophischen Schriften Landsbergs aus den Jahren 1934–1944. Das zeigt, dass in dieser eher kurzen philosophischen Auseinandersetzung mit dem Tod etwas Besonderes zu finden ist, was sie von anderen Schriften abhebt. Doch worin liegt diese Besonderheit?
Die neun Teile des Essays tragen die von L. gegebenen Überschriften. Die ersten drei Teile (I. Fragestellung, II. Die Grenzen der Schelerschen Antwort, III. Todeserfahrung und Individualisation) dienen L. als Heranführung an das Thema und bereiten den zentralen Abschnitt des Textes (IV. »Wiederholung« der Erfahrung vom Tode des Nächsten) vor. In diesem Hauptteil wird L.s Hauptthese von der durch den Tod nicht zerstörbaren interpersonalen Ge­meinschaft zweier oder auch mehrerer Menschen durch eine phänomenologische Beschreibung des Erfahrens des Todes eines ge­liebten Nächsten eingeführt. Da sich die Beschreibung be­stimmter anthropologischer Voraussetzungen bedient, werden diese dann im folgenden Teil ausgeführt (V. Ontologische Grundlage).
Ein Abschnitt zu Augustins Todesdenken (VI.) fällt ein wenig aus dem Rahmen des Essays und wird von L. auch nicht allzu sehr in den Kontext eingebunden. Es erscheint so, dass L. hier seine Methode rechtfertigen möchte. Er sieht in Augustins Vorgehen der ehrlichen und genauen Beschreibung seines Lebens in den Confessiones eine Parallele zu seinem eigenen Vorgehen. Aber der Ab­schnitt zu Augustin kann auch als Überleitung zu den folgenden gelesen werden, erfolgt mit ihm doch sowohl ein Rückgriff auf die Philosophiegeschichte als auch auf die christliche Tradition. Beide Bereiche werden dann in den folgenden Abschnitten näher be­leuch-tet. Zunächst die Philosophiegeschichte (VII.), dann im Schlussteil (IX.), der fast schon erbauliche Züge annimmt, die christliche Perspektive auf den Tod. Er bezieht sich vor allem auf Teresa von Ávila. Das »Zwischenspiel« (VIII.) ist eine beeindruckende Beschreibung der Hoffnungs- und Sinnlosigkeit des »heidnischen« Lebens anhand des Stierkampfes.
Doch nochmal: Worin liegt das Besondere? Sicher sind seine anthropologischen Gedanken interessant und sicher ist die Diskussion der »christlichen Perspektive« faszinierend. Aber die An­thropologie bleibt zu wenig ausgefeilt, um nachhaltig wirken zu können, und die Hoffnung, die er aus dem Christlichen zieht, scheint irgendwie zu billig erkauft, zu einfach. Meines Erachtens liegt das Besondere in Teil IV. L. gelingt hier eine jedem unmittelbar einleuchtende Phänomenologie des Todes eines Nächsten, die er ebenso einleuchtend theoretisch auffängt. Seine These: Die andere Person ist weg, aber es bleibt eine Verbindung. Allein um dieses Teiles willen lohnt sich die Lektüre des Buches. Nebenbei angemerkt: Das Zwischenspiel über das heidnische Leben als Stierkampf ist nicht nur literarisch erstklassig, sondern kann jedem, der ab und zu Andachten zu verfassen hat, als große Fundgrube dienen.
Nun noch zu Das moralische Problem der Selbsttötung. Die beiden in diesem Band zusammengestellten Essays leben – wie schon erwähnt – von ihrer existenziellen Dringlichkeit. L. geht, nachdem er allgemeine und philosophie- und theologiegeschichtliche Argumente diskutiert, zu einem Standpunkt über, der dem heutigen Leser als Zumutung erscheinen muss. Nicht Argumente, sondern Beispiele könnten die Fragestellung aufhellen. Allen voran das Beispiel Christi, der trotz des größten Leidens am Kreuz den Tod erwartet hat und nicht nach einer Selbsttötung strebte. Deswegen müsse der Mensch diesem Beispiel folgen, sein Kreuz auf sich nehmen, das Leiden als Reinigung verstehen und im liebenden Vertrauen auf Gott dem Tod entgegengehen, ohne selbst Hand an sich zu legen. L. trug seit seiner Emigration stets Zyankali mit sich, um im Falle einer Verhaftung niemanden zu verraten, vernichtete es aber nach der Abfassung des Essays.
Kamlah beginnt seinen Essay mit der Frage, ob es möglich ist, den Tod zu verstehen, und kommt zum Schluss, dass es nicht möglich sein kann, da nur menschliche Handlungen und Worte verstehbar seien, der Tod jedoch ein Widerfahrnis ist, das vom Menschen nur hingenommen werden könne. Doch anders als etwa das Widerfahrnis des eigenen Geborenwerdens könne das Widerfahrnis des Todes vom Menschen herbeigeführt werden. Und dieses Herbeiführen sei keinem Menschen zu verbieten, solange er die moralische Grundnorm (»Beachte in jeder Situation, dass der andere Mensch bedürftig ist ebenso wie du selbst, und handle demgemäß!«, 71) einhalte. Es komme also letztlich auf eine Abwägung von Zumutbarkeit an, die nach dem Grundsatz »in dubio pro libertate« (71) erfolgen müsse.
Es ist Eduard Zwierlein und dem Verlag Matthes & Seitz hoch anzurechnen, dass sie diese philosophisch und theologisch tiefgehenden und existenziell dringlichen Schriften erneut ins Bewusstsein rufen.