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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1054–1056

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Schulze, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Bach-Facetten. Essays – Studien – Miszellen. M. e. Geleitwort v. P. Wollny.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 824 S. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-374-04836-6.

Rezensent:

Hans-Joachim Hinrichsen

Mit dem hier zu besprechenden Band legt einer der ganz großen Bach-Forscher des 20. Jh.s einen Rückblick auf sein Lebenswerk vor, der zugleich so etwas wie eine Summe aus jahrzehntelangem Nachdenken über Leben und Musik Johann Sebastian Bachs darstellt. Hans-Joachim Schulze war 1992–2000 Direktor des Leipziger Bach-Archivs, und er hat schon lange davor (seit 1975) das Bach-Jahrbuch, das wichtigste deutschsprachige Periodikum der Bach-Forschung, mit herausgegeben (bis 2004). Seine immensen Verdienste werden durch das schöne Geleitwort aus der Feder des jetzigen Bach-Archiv-Direktors Peter Wollny angemessen und treffend formuliert gewürdigt. In die tapfer ertragenen, aber auch mit einer guten Portion Humor durchgestandenen Restriktionen der Arbeit im Kontext der DDR, zu denen auch die Beschränkung der Kontakte zu »westlichen« Kollegen gehörten, blickt S. in seinem Vorwort ohne Bitterkeit zurück.
Keineswegs ein bloßes Sammelsurium vormals verstreut publizierter Aufsätze, ist der vorliegende voluminöse Band vielmehr von jener erstaunlichen Durchdachtheit und Kohärenz, die sonst nur einer von vornherein als solche geplanten Monographie zuzukommen pflegt. Die Disposition geht zudem, wie es bei S.s breitem Interessenspektrum auch gar nicht anders sein kann, über die übliche bloße Leben-Werk-Duplizität geläufiger Bach-Monographien weit hinaus. Die sieben großen Abschnitte, unter denen die einschlägigen Einzeltexte versammelt sind, gliedern den umfang­reichen Stoff in »Biographie und Familie«, »Schüler- und Freundeskreis«, »Aufführungspraxis«, »Texte und Parodien«, Werkbesprechungen, Quellenstudien und Überlegungen zur »Wirkungsgeschichte im 18., 19. und 20. Jahrhundert«. In jeder Abteilung sind zwischen sechs und vierzehn Texte versammelt (die meisten, erfreulicherweise, in dem eröffnenden Abschnitt zur Biographie). Manche Aufsätze (etwa Studenten als Bachs Helfer bei der Leipziger Kirchenmusik [1981/84], 300–311, oder Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Passionsmusiken und ihr gattungsgeschichtlicher Kontext [1988/90], 629–642) zählen heute zu den Klassikern der Bach-Forschung und sind Muster der Verbindung von historisch-philologischer Genauigkeit mit Präzision und Eleganz der Darstellung.
Auch für jemanden, der wie der Rezensent mit der Lektüre von S.s Texten gleichsam aufgewachsen (und dabei in die Bachforschung hineingewachsen) ist, bietet die Fülle des hier Versammelten nicht etwa die Wiederbegegnung mit längst Vertrautem, sondern die überwältigende Konfrontation mit überraschend Neuem (und immer noch Taufrischem) dar. Es ist, um das gleich zusammenfassend zu sagen, ein Glücksfall, die klug ausgewählten, inzwischen oft recht schwer zugänglichen Aufsätze in dieser Form bequem beisammen zu haben, sie aber auch mit teils noch ganz jungen Texten vereint zu sehen. Man kann das Buch natürlich lesen wie irgendeine Sammlung, also hin- und herspringend je nach spontanem Interesse am einzelnen Thema. Die Abgeschlossenheit der Texte erlaubt das problemlos. Es kann aber, und das empfiehlt sich durchaus, strikt von vorn bis hinten durchgelesen werden – das verdankt der Band seiner intelligenten Disposition. Man wird ein wenig für die v. S. leider nie geschriebene (obwohl vorübergehend vor Jahrzehnten bereits geplante) Bach-Biographie entschädigt und ahnt zugleich, was einem da entgangen ist. Denn S. ist nicht nur ein Bach-Kenner und -Forscher von überragender Kompetenz, sondern er führt eine gewandte Feder, die einen bisweilen vergessen lässt, dass man auf dem Höhenkamm der Wissenschaft und in den Wüsteneien trockener Philologie unterwegs ist. Es ist kein Zufall, dass der Rezensent S.s kleine, 1985 noch in der DDR erschienene Monographie über Bachs Kaffeekantate und ihren kultur- wie sozialgeschichtlichen Kontext zu den Lieblingsbüchern seiner Bach-Bibliothek zählt (dieser Text konnte seines Umfangs wegen begreiflicherweise hier nicht aufgenommen werden). Das Lesevergnügen ist also immens, der Erkenntnisgewinn ebenso. Dass nichts von alledem veraltet ist oder auch nur Patina angesetzt hat, ist der erfreuliche Eindruck bei der Konsultation des dicken Buchs, und zum mühelosen Anschluss an die Aktualität heutiger Bach-Forschung trägt die Sorgfalt bei, mit der jeder Beitrag mit zusätzlichen Anmerkungen und, wo nötig, abschließenden Ergänzungen versehen worden ist. Wer also Bedenken trägt, mit einer Menge inzwischen erledigter und überwundener Positionen bedient zu werden, kann diese Sorge getrost vergessen.
Man kann dies allein schon an den Texten des ersten, des biographischen Abschnitts demonstrieren. Gegen die Chronologie des Lebens, aber unmittelbar nach den Gründen verständlich (frühere Stationen wie Weimar und Köthen oder Bachs Ausbildung bei seinem älteren Ohrdrufer Bruder werden etwas später nachgeholt), setzt der Band in medias res mit einem akribischen Blick auf den Wechsel im Leipziger Thomaskantorat ein, der Bach 1723 an die letzte und wichtigste Station seiner Karriere befördert hat. S.s Überlegungen dienten seinerzeit als Anregung für die späteren, auf drei Nummern des Bach-Jahrbuchs verteilten umfangreichen Studien Ulrich Siegeles, die seither (1983–1986) als Standardtexte zu dieser Thematik gelten müssen. Erstaunlicherweise aber sind S.s vorgängige Aufsätze dadurch in keiner Weise überflüssig geworden, wie sich nun einmal mehr zeigt: Sie sind, abgesehen davon, dass sachlich alles »stimmt«, von einer Konzision und stilistischen Eleganz, die den unübersichtlichen Weg durch das bizarre Gestrüpp der Leipziger Berufungsverhandlungen zu einer ebenso spannenden wie kurzweiligen Wanderung werden lassen.
Für alle Abteilungen des Bandes gilt Ähnliches. Durchaus wohltuend angesichts der vielen Irr- und Umwege der Bach-Forschung ist aber auch eine beredte Lücke: An theologischer Hermeneutik Bachscher Werke und an Spekulationen über gematrische (zahlensymbolische) Subtilitäten beteiligt sich S. nicht. Darin liegt eine Entscheidung für methodische Solidität. Das weiß zu schätzen, wer neben den unbestreitbar verdienstvollen Einzelstudien zu dieser Thematik die Fülle des Abwegigen und Unseriösen kennt. Ganz besonders hervorhebenswert scheint mir die Dokumentation jener Beiträge S.s, die sich der aus diversen Perspektiven diskutierten und immer noch keineswegs in einem allgemeinen Konsens aufgehobenen Problematik der Aufführungspraxis widmen, der ja eine ganze eigene Abteilung gewidmet ist: darunter als besonders umstrittene Themen die Besetzungsgröße des Chors und die Frage nach dem seit Arnold Scherings fundamentalen Studien so ge­nannten »Doppelaccompagnement« (Cembalo und Orgel), in deren Diskussion S. ebenso engagiert wie plausibel immer wieder dezidierte Positionen bezogen hat (hier als mit einer Fülle von Argumenten und verschiedenen Quellenbeobachtungen begründetes Plädoyer für die gemeinsame Mitwirkung beider Tasteninstrumente). Überaus schätzenswert (und geradezu den Wunsch nach Verdoppelung des Umfangs nährend) sind auch die Werkbesprechungen, unter denen ein von 1983 stammender Blick auf das autographe Stimmenmaterial der h-Moll-Messe herausragt und in seinen Überlegungen (Anlass der Komposition, Kontext der Dresdner Widmung) immer noch zu bestechen vermag.
Eine schöne Abrundung erfährt der Band durch die vielen Texte zur Wirkungsgeschichte Bachs bis in die Gegenwart. Wenn es etwas zu ergänzen gäbe, dann lediglich das kleine Detail, dass Ludwig van Beethoven (dessen Unkenntnis der h-Moll-Messe während der Arbeit an der eigenen Missa solemnis S. zu Recht bedauert) von der Ankündigung des (nicht zustande gekommenen) Drucks der h-Moll-Messe durch den Zürcher Verleger Hans Georg Nägeli 1818 nicht nur erfahren haben »könnte« (659), sondern – wie man heute weiß – sogar bei Nägeli, den er durch diese Ankündigung als Besitzer des Autographs identifizieren konnte, kurzerhand um eine Abschrift gebeten hat (statt den Druck zu subskribieren), was ihm der Angeschriebene, der ja die Druckausgabe verkaufen wollte, verständlicherweise verweigerte. Spannend und gesättigt mit eigenen (manchmal leidvollen) Erfahrungen ist der 2007 niedergeschriebene Rückblick auf die »deutsch-deutsche Geschichte« der Neuen Bach-Ausgabe (703 ff.), und glanzvoll abgerundet wird das Ganze durch eine von feiner Ironie durchzogene »Kritik des Bach-Bildes im 20. Jahrhundert« (709–722).
Wertvoll für den Benutzer sind die ausführlichen Verzeichnisse am Schluss des Bandes (Abkürzungsverzeichnis, Bibliographie der Schriften S.s [zusammengestellt von Rosemarie Nestle und Marion Söhnel], Werk- und Personenregister). Die Ausstattung des Bandes ist eine wahre Freude: sorgfältige Gestaltung, ästhetischer Sinn für das Seiten-Layout und äußerste Präzision bei den Nachträgen und Querverweisen. Es kommt nicht oft vor, dass man ein wissenschaftliches Buch einem schmalen Kenner- wie einem breiten Liebhaberpublikum gleichermaßen empfehlen kann: Aber dieser ertragreiche und gut lesbare Band gehört zwingend in die Hand jedes Bach-, Musik- und Sprachfreundes.