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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1044–1048

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Liebendörfer, Bernd

Titel/Untertitel:

Die Rezeption von Dietrich Bonhoeffers »Nachfolge« in der deutschsprachigen Theologie und Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 381 S. Kart. ISBN 978-3-17-032493-0. Vergriffen; aber als E-Book erhältlich: EUR 57,99. ISBN 978-3-17-032494-7.

Rezensent:

Florian Schmitz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Liebendörfer, Bernd: Der Nachfolge-Gedanke Dietrich Bonhoeffers und seine Potentiale in der Gegenwart. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 400 S. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-3-17-031920-2.
Liebendörfer, Bernd: Nachfolge Christi leben. Schritte des Vertrauens wagen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. 149 S. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-17-032603-3.


Bernd Liebendörfer hat 2016/17 drei im Kohlhammer-Verlag er­schienene Bücher vorgelegt, die D. Bonhoeffers Werk »Nachfolge« (1937) zum Gegenstand haben. Aus seiner Dissertationsschrift über den »Nachfolge-Gedanke[n] Dietrich Bonhoeffers und seine Potentiale in der Gegenwart« (I.) – die Gutachten der systematisch-theologischen, 2013 der Tübinger Evangelisch-Theologischen Fakultät eingereichten Arbeit besorgten E. Herms und B. Weyel – sind eine Studie zur »Rezeption von Bonhoeffers ›Nachfolge‹ in der deutschsprachigen Theologie und Kirche« (II.) sowie eine kleinere, weniger akademisch gehaltene Schrift zu »Nachfolge Christi leben. Schritte des Vertrauens wagen« (III.) hervorgegangen. L. setzt damit deutliche Akzente in einer seit wenigen Jahren zu beobachtenden Tendenz der Bonhoeffer-Forschung, derzufolge dessen »Nachfolge« auch in der akademischen Bonhoeffer-Rezeption zunehmend von Interesse und im Begriff ist, neu bewertet zu werden. L., selbst Jg. 1955, schreibt aber nicht mit dem Ziel einer universitären Karriere; er ist ein Mann der Kirche – Pfarrer und seit fast 20 Jahren Dekan in Böblingen – und widmet sich mit dem Fokus auf die Nachfolge Christi auch aus dieser beruflichen Perspektive einem persönlichen »Lebensthema« (I., 5). Der kirchengemeindliche Hintergrund und die Frömmigkeit L.s verleihen den vorliegenden Studien einen besonderen Charakter. Wissenschaftliche und erbauliche, auch homiletische und homologische Sprache stehen in allen drei Schriften dicht nebeneinander.
I. Wer sich durch das etwas sperrige Inhaltsverzeichnis der Dissertationsschrift gearbeitet hat (ein Schlagwort- und Bibelstellenregister gibt es nicht), den erwarten zwei Hauptteile, die zwar aufeinander bezogen sind, aber ebenso unabhängig voneinander gelesen werden könnten: Im ersten, systematisch-theologischen Teil (32–260) zeichnet L. zunächst entlang der Themen Gnadenlehre, Christozentrik, Theologia Crucis, Soteriologie und Heiligung die Grundlinien von D. Bonhoeffers Werk »Nachfolge« nach (29–86), um einerseits anzuzeigen, inwiefern bestimmte Topoi dieses Werks bereits in Bonhoeffers früherer Theologie angelegt gewesen sind (87–142); andererseits streicht L. die Spezifika von Bonhoeffers »Nachfolge«-Theologie heraus (143–205), die er um Abschnitte über »Bonhoeffers Nachfolge-Gedanke[n] außerhalb der ›Nachfolge‹« während und nach der Finkenwalder Zeit ergänzt (206–260). Bonhoeffers Theologie der »Nachfolge« verortet L. auf der aus seiner Sicht nicht eindeutig zu bestimmenden Grenze von Glaubenslehre und Soteriologie, auch Ekklesiologie und insbesondere einer Ethik, die sich aufgrund einer starken Fixierung auf die Gemeinschaft mit Christus im Grunde selbst überflüssig mache (vgl. 86 u. a.). Jene starke Konzentration auf Christus sieht L. durchaus in Kontinuität zur späteren Theologie Bonhoeffers (258). Während aber 1937 für Bonhoeffer das »Außerordentliche« Dreh- und Angelpunkt der Christus-Nachfolge gewesen sei, trete das aktive Tun des Menschen in der Theologie der Haft zugunsten eines eher passiven Sich-auf-Gott-Werfens zurück (259). Nachfolge sei dementsprechend für Bonhoeffer nicht mehr die alleinige Form des Glaubens, bei dem es nun, in der Theologie der Haft, stärker um den Verzicht gehe, aus sich selbst etwas zu machen (ebd.). Methodisch folgen auf »Beobachtungen bei Bonhoeffer« zu unterschiedlichen ausgewählten Kernthemen jeweils »Diskussion und Reflexion« durch L., der im Ergebnis eine Unterscheidung zwischen einer »theologischen Intention« – im Sinne einer »tragfähige[n] theologische[n] Ausarbeitung zum Thema« – und einer »pragmatischen Intention« – im Sinne einer Übersetzung der Nachfolge-Thematik »ins praktische Leben« – bei Bonhoeffer vorschlägt (260).
Diese Unterscheidung legt L. dann dem zweiten Hauptteil seiner Dissertation (261–386) zugrunde, der gegenüber dem ersten stärker praktisch-theologisch ausgerichtet ist und in drei Abschnitten »Po­tentiale des Nachfolge-Gedankens in der Gegenwart« entfaltet: (1.) Nachfolge wird begrifflich als eine theologischer- wie kirchlicherseits vernachlässigte (263) Metapher gedeutet, die zwar für eine gewisse »Hilfslosigkeit« (319) sorge, allerdings als eine »Sprachform, eine Form menschlicher Rede« (326) geeignet sei, »zentrale Anliegen des christlichen Glaubens den Menschen aller Bildungsschichten in umfassender Weise näher zu bringen« (265–278; hier 263). Ebendiesen Versuch unternimmt L. nun, dem Titel seiner Dissertation entsprechend, indem er (2.) den Nachfolge-Begriff in theologisch intendierter Richtung »mit verschiedenen systematischen Lehrstücken in Verbindung bringt« (279–340; hier 279), um Nachfolge dann (3.) in pragmatischer Richtung als »gelebte[n] Glaube[n]« inhaltlich auszudeuten (341–386). L.s zentrale These lautet: Wenn von Nachfolge die Rede ist, dann wird eigentlich vom Glauben geredet, denn Nachfolge ist eine »Redeweise über den Glauben« (329). Auch wenn sich L. damit durchaus dem Verdacht einer Spiritualisierung von Nachfolge aussetzt, seine Absicht ist in diesem letzten Abschnitt der Arbeit zur »programmatischen Intention« von Nachfolge (341–386) die umgekehrte: ob es nicht durch den Hinweis auf die Nachfolge möglich sein könnte, Glauben intensiver zu leben und zu gestalten (vgl. 331 f.)?
In den hier thematisch gesetzten Akzenten kommt Bonhoeffer zwar schon in den Überschriften unverkennbar vor (z. B. »Der Ruf Christi«, »Das Außerordentliche«, »Der Bruch«, »Einsamkeit in der Nachfolge«, »Die Gemeinschaft der Gläubigen«, »Verzicht«, »Leidvolle Erfahrungen«, »Das Kreuz auf sich nehmen«, »Gehorsam und Heiligung«); anders, als es der Titel der Dissertation suggeriert, wird aber – so mein Eindruck – gar nicht so sehr Bonhoeffers Nachfolge-Theologie auf seine Potentiale in der Gegenwart hin überprüft; eher scheinen es (insbesondere im zweiten Hauptteil) L.s eigene theologische Überzeugungen zum Thema zu sein, die vorgestellt werden – und an denen sich gerade umgekehrt Bonhoeffers Theologie messen lassen muss (37.57.162 ff.192 f.372.382 u. ö.). Diesen Eindruck verstärken neben der zunehmend auch katechetischen Sprache (331.355.382 u. ö.) und der nicht ganz stringenten biblischen Hermeneutik (dazu 331.358 u. a.) vor allem zwei methodische Entscheidungen L.s:
Erstens verzichtet L. weitgehend auf die Diskussion von Forschungsliteratur, sowohl zu Bonhoeffer (22) als auch grundsätzlich zur Christusnachfolge oder zur neutestamentlichen Exegese (re­gelmäßig verwiesen wird auf E. Herms, A. Schönherr, Ch. Tietz sowie – vor allem – auf Schriften der Brüder von Taizé); stattdessen verlässt sich L. weitgehend auf eigene Beobachtungen bzw. verweist, wenn es um Bonhoeffer geht, auf den zweiten hier besprochenen Band, in welchem L. die wichtigsten Arbeiten zu Bonhoeffers Werk »Nachfolge« vorstellt und einer kritischen Einordnung unterzieht. Dadurch ist zwar eine schöne Forschungsübersicht entstanden (s. u. II.); tatsächlich wäre eine Diskussion der Forschungslage im Text aus meiner Sicht durchaus sinnvoll gewesen, und zwar einerseits zugunsten einer stärkeren Differenzierung theologisch strittiger Punkte (z. B. im Zusammenhang der Welt-Thematik als einem stets kontrovers diskutierten Kernthema von Bonhoeffers Theologie, 78 f. u. a.), andererseits weil der zum Zeitpunkt der Publikation aktuelle Forschungsstand nicht immer Eingang in die Darstellung findet (z. B. 164 f.186).
Zweitens kommt L.s Betrachtung der Bonhoefferschen »Nachfolge« nahezu vollständig ohne einen Rekurs auf deren zeitgeschichtlichen Kontext aus (vgl., abgesehen von wenigen Verweisen, lediglich 140). Dies wird hermeneutisch vereinzelt im Zuge einer vorgetragenen Kritik Bonhoeffers zum Problem, wenn dessen in hohem Maße situativ verschärfte Theologie von L. gerade nicht als konkrete, sondern offenbar als mit dem Anspruch grundsätzlicher Gültigkeit versehene Theologie behandelt wird (z. B. 362: »Das Außerordentliche taugt nicht als Kriterium für Nachfolge«; 370: Bonhoeffer lege »insgesamt den Akzent viel zu sehr auf das Tragen des Kreuzes« und stelle »dadurch die ganze Nachfolge viel zu düster und leidvoll dar […]«; 303 u. ö.). Dies führt mich zu einer grundsätzlichen Anfrage an L.s Absicht, den Nachfolge-Begriff für den Glauben heute fruchtbar machen zu wollen: Die Faszination von Bonhoeffers Schrift über die Nachfolge bestand zum Zeitpunkt ihres Erscheinens vor allem darin, dass Bonhoeffer in einer bestimmten historischen Situation konkrete Theologie für konkrete Adressaten entwarf (vgl. 121 ff.); ebendies nennt L. die »pragmatische Intention« der Nachfolge. Wenn nun L. seinerseits induktiv verfährt, aus dem Besonderen der Theologie Bonhoeffers also auf das Allgemeine der Nachfolge Christi schließt, dann bleibt zu fragen, inwiefern eine solche (systematisch-theologische) Abstraktion selbst eigentlich noch »pragmatisches Potential« in der »Gegenwart« besitzt, gibt es »Gegenwart« schließlich nur als konkrete Gegenwart. Das »erbauliche Potential« an L.s Nachfolge-Begriff scheint mir jedenfalls deutlich stärker zu sein als dessen ethisches. Zu würdigen bleibt demgegenüber die angenehm kritische Sicht, mit der sich L. in dieser Dissertation Bonhoeffers Theologie zuwendet – und die in der Bonhoeffer-Forschung durchaus zu kurz kommt.
II. Wer mit der Interpretation von Bonhoeffers »Nachfolge« sich zu beschäftigen beabsichtigt, der kann sich mithilfe dieses zweiten der drei Bücher L.s zur Nachfolge rasch einen fundierten Überblick verschaffen. L. hat diesen Band gewissermaßen als Nebenprodukt zu seiner Dissertation herausgebracht. Während er dort weitgehend auf die Diskussion einschlägiger Fachliteratur verzichtet (s. o.), bringt er diese hier nun ausführlich zur Darstellung. Insgesamt kommen 32 Autoren zur Sprache, die sich theologisch und explizit mit Bonhoeffers »Nachfolge« auseinandergesetzt haben: größten teils Bonhoeffer-Forscher und -Forscherinnen aus dem akademisch-theologischen Bereich (Feil, Müller, Bethge, Tietz, Gremmels, Schmitz u. a.), außerdem Arbeiten, die L. dem Bereich der Kirche zuordnet (u. a. Schönherr, Huber), freilich ohne eine Trennlinie zwischen diesen und jenen ziehen zu wollen. Unter Letzteren sticht – während etwa G. Krauses TRE-Artikel über Nachfolge keine Berücksichtigung findet – die Aufnahme von Schriften der Communauté de Taizé hervor (177–212), die L. mit 14 weiteren sogar zu den »Haupt-Rezipienten« zählt. Diese »Haupt-Rezipienten« werden jeweils kurz in personam vorgestellt, gefolgt von einer inhaltlichen Skizze ihrer Arbeiten zu Bonhoeffers »Nachfolge« und einer anschließenden Bewertung durch L. (41–290), während kleinere Arbeiten von 17 weiteren Rezipienten weniger umfangreich dargestellt werden (291–356). Am Ende der abschließenden, staccato vorgetragenen »Auswertungen zur Rezeption von Bonhoeffers ›Nachfolge‹« (357–372) – methodisch orientiert sich L. an Dinger, dessen Kriterien er erweitert (vgl. 33 ff.) – stellt L. letztendlich einige »Spitzenpositionen« heraus. Der Nutzen dieses Buches bzw. dessen Beitrag zur Forschung wird allerdings weniger in dieser zusammenfassenden Auswertung zu finden sein als in dem komprimiert dargebotenen Überblick vieler Arbeiten zur »Nachfolge« Bonhoeffers.
III. Auch der dritte, deutlich schmalere Band ist ein Extrakt der Dissertation. Was L. dort über die »pragmatische Intention« der »Nachfolge« ausführt (s. o. unter I.), das greift er nun auf und macht es zum Ausgangspunkt einer Abhandlung, die sich unverkennbar an Gemeindeglieder oder theologisch interessierte Laien richtet. L. nimmt auch hier u. a. Bonhoeffers Theologie zum Anlass, zu grundsätzlichen Aussagen über die Nachfolge Christi vorzudringen. Indem aber die Rückbindung an konkrete Lebenswelten wiederum weitgehend ausbleibt – schöne Ansätze hierzu finden sich allerdings z. B. im Abschnitt »Gedanken zum Menschenbild« (65–76) –, stellt sich theologisch die Frage, wie sich der Schritt von solch allgemeinen Aussagen über die Christus-Nachfolge hin zu konkreter Nachfolge eigentlich vollziehen soll? Nichtsdestotrotz bietet dieser Band durch sein in leichter Sprache verfasstes Zusammenspiel von theologisch fundierter Sachkenntnis und durchaus er­baulichem Duktus eine aus meiner Sicht hervorragende Möglichkeit theologischer Bildung (nicht nur, aber hauptsächlich) außerhalb der Universität: sei es in der Schule, sei es in Gemeinden, sei es in kirchlichen Bildungsstätten.