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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1043–1044

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lehner, Ulrich L.

Titel/Untertitel:

Die katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017. 271 S. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-78695-1.

Rezensent:

Jobst Reller

Ulrich L. Lehner ist als Professor für Religionsgeschichte an der Marquette Universität in Milwaukee/ USA tätig und Mitglied der »European Academy of Sciences and Arts«. Faktisch grenzt er die Epoche katholischer Aufklärung auf die Zeit zwischen 1650 und 1789 mit dem Beginn der Französischen Revolution, die den Tod dieser Epoche einläutet (227 ff.), ein. Innerhalb dieses Zeitraums entwirft L. nun ein weltweites Bild dieser Bewegung in Längsschnitten zu bestimmten inhaltlichen Fragestellungen wie Toleranz (59–85), Stellung der Frau (87–118), der Stellung zu okkulten Phänomenen wie Dämonen (141–172), der Heiligenverehrung (173–198) und Sklaverei und Rassismus (199–225). Verlaufsgeschichtlich und regional geordnet sind einleitende Kapitel zur Welt der katholischen Aufklärer in Europa (23–57), bzw. zur katholischen Aufklärung in Amerika, China und Indien (119–140). Weder Gliederung noch Darstellung sind allerdings streng systematisch oder gar erschöpfend gehalten.
Der besondere Wert der Studie, die sich in aller Regel auf Sekundärliteratur stützt, liegt m. E. darin, einem bisher in seiner Eigenheit nicht oder stiefmütterlich behandelten Feld katholischer Kirchengeschichte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Diese macht sich oft eher an überraschenden Details als an stringenten Verläufen fest, wie überhaupt ein Großteil der Akteure katholischer Aufklärung zu den großen Unbekannten der Kirchengeschichte zählen dürfte. Der sicher nur wenigen bekannte spanische Benediktiner Benito Feijoo z. B. untersuchte in seinem Buch »Verteidigung der Frauen« (1726) Geschlechtsstereotypen. U. a. legte er die Geschichte vom Sündenfall neu aus, indem er Eva als das stärkere Geschlecht ansah, weil sie durch den Teufel persönlich versucht werden musste, während bei Adam ein Mensch genügte, um zu versuchen (88). Josapha Amar wiederum führte im »Diskurs zur Verteidigung der Frauen« (1786), möglicherweise in Anknüpfung an Feijoo, dessen Auslegung weiter: Eva beweise enormen Wissensdurst, Neugier und Talent, Adam hingegen sündige aus Arroganz und geistiger Einfalt (90). Ein unerwarteter Aspekt der Emanzipationsgeschichte scheint auf.
Es wäre zu diskutieren, ob es sich wirklich um eine Bewegung katholischer Aufklärung handelte oder eher um je für sich stehende Einzelerscheinungen in der Zeit der Aufklärung, die ja bekanntlich in England und Frankreich anders terminiert war als etwa in Deutschland. Es gibt einzelne Vernetzungen, aber einen wirklichen Nachweis für eine Reformbewegung führt L. nicht.
Leider verfügt das Buch nur über ein Register der Personennamen. Die durchaus interessanten Darstellungen zur Bedeutung des Jansenismus müssen so unter dem Stichwort ihres Gründers Cornelius Jansen einzeln aufgesucht werden. Ähnliches gilt von nationalkirchlichen Strategien, die den Katholizismus und die Rolle des Papstes phasenweise verändert haben oder hätten verändern können, wie den Febronianismus eines Nikolaus von Hontheim (Stichwort »Febronius«) oder des in der Französischen Revolution kurzzeitig siegenden Gallikanismus (40.45 ff.). Die Darstellung der Nationalisierung der katholischen Kirche Frankreichs nach 1789 (227–235) ist konzis und dürfte ihresgleichen suchen. Auch die Einträge zu Richard Simon, einem der Väter historisch-kritischer Bibelauslegung aus kontroverstheologischem Anlass, oder den durch die Entdeckung des nach ihm genannten Fragments Ludovico Muratori verdienen Beachtung.
Es ist seit den Forschungen Friedrich Wilhelm Kantzenbachs bekannt, dass die Erweckungsbewegung um 1800 ökumenisch dachte und agierte, eine ihrer Wurzeln in der Wiederentdeckung der Christusmystik durch den späteren Regensburger Bischof Johann Michael Sailer hatte, der seinerseits in seinen Schülern Martin Boos und Johannes Evangelista Goßner evangelische Erwe-ckungen förderte. Sailers Weg war ohne die Aufnahme aufklärerischer Kritik am Vulgärkatholizismus seiner Zeit nicht denkbar. L. liefert hier einzelne Hinweise auf weitere Beziehungen. Leander van Eß versuchte, die private Bibellese unter Katholiken zu fördern (43 unter Verweis auf Johannes Altenberends Studie: Leander van Eß [1772–1847]. Bibelübersetzer und Bibelverbreiter zwischen ka­tholischer Aufklärung und evangelikaler Erweckungsbewegung, Pa­derborn 2001). Dass hier eine Wurzel der ökumenischen Be­wegung liegt, ist L. durchaus bewusst, indem er motivgeschichtlich den Begriff der »getrennten Brüder« vom Vaticanum II über den ökumenisch erweckten Romantiker Friedrich von Stolberg bis auf den italienischen Jansenisten Ricci, bzw. den irischen Augustiner Kenny zurückführt (60 f.).
Manches Urteil überrascht: Papst Pius VII. habe 1801 besondere Milde und Barmherzigkeit bewiesen, als er 3000 nationalkirchlichen verheirateten Priestern erlaubte, auf der Grundlage des Konkordats mit Napoleon wieder in die päpstliche katholische Kirche zurückzukehren. Fraglich bleibt, wie das die damals verstoßenen Frauen und Kinder gesehen haben werden (40).
Das in den USA für einen breiten Leserkreis geschriebene Buch ist nichtsdestotrotz eine Fundgrube für kaum beachtete Phänomene aus der katholischen Kirche in der Zeit der europäischen und weltweiten Aufklärung.