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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1041–1043

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schäufele, Wolf-Friedrich, u. Christoph Strohm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Bild der Reformation in der Aufklärung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2017. 397 S. = Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 218. Kart. EUR 72,00. ISBN 978-3-579-05998-3.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Das Verhältnis von Reformation und Aufklärung zu bestimmen, dafür sind vor allem zwei Intentionen leitend. Einmal geht es darum, die historische Abfolge beider Epochen zu verstehen: In welchem Maße steht die Aufklärung selbst im Gefolge der Reformation? Sodann ist es um die Veränderung zu tun, der das nachreformatorische Christentum – in allen seinen Konfessionen – durch die Aufklärung unterworfen wurde. Beide Perspektiven zusammen lassen sich am besten verbinden, wenn man nach den Sichtweisen fragt, die in der Aufklärung selbst von der Reformation gewonnen und vertreten wurden. Insofern besitzt die Fragestellung des Symposiums, das 2015 vom Verein für Reformationsgeschichte in Heidelberg durchgeführt wurde, eine hohe Schlüssigkeit.
Was die sachliche Zuordnung von Reformation und Aufklärung angeht, so steht unweigerlich die Interpretationsperspektive Ernst Troeltschs im Hintergrund, der bekanntlich die Hegelsche Auffassung von der Vollendung der Reformation in der Aufklärung kritisch modifiziert hatte. Troeltsch sah die Aufklärung einerseits in der Nachfolge der Reformation, sofern in ihr Züge der neuen Eigenständigkeit des Geistes angeeignet wurden, wie sie sich dort artikuliert hatten; dies freilich so, dass zugleich die dogmatisch-biblizistische Verhärtung abgestreift und der Alt- in den Neuprotestantismus transformiert wurde. Dieses Bild Troeltschs bewährt sich nicht nur grosso modo angesichts der neueren, in diesem Band vorgestellten Forschungsergebnisse, sondern bringt auch eine notwendige ergänzende Erinnerung zu Bewusstsein.
Die vorgestellten Ergebnisse der Forschung zeichnen sich vor allem durch eine Erweiterung und Differenzierung der Perspektiven aus. Den Ausgang der Untersuchungen bietet das klassische Bild des Verhältnisses, wie es von Albrecht Beutel gezeichnet wird (3–35); ihm steht gegenüber die Pluralität der aufklärerischen Selbstinterpretationen der Reformation in maßgeblichen Enzyklopädien, wie sie Wolf-Friedrich Schäufele präsentiert (36–59). Über das deutsche Luthertum hinaus gehen die Betrachtungen zum Rückgriff der Aufklärung auf Zwingli (Emidio Campi, 145–165) und Calvin (Pierre-Olivier Lèchot, 166–189) sowie die Verarbeitung der Reformation in Irland und weiter auf den britischen Inseln (Ute Lotz-Heumann, 190–202; Robert von Friedeburg, 203–220). Hinzu treten differenzierende Untersuchungen zu theologischen Verhältnisbestimmungen, die sich teils einzelnen Themen, teils me­thodischen Sichtweisen, teils einzelnen Autoren zuwenden (Friedemann Stengel über Seele, 98–130; Christopher Voigt-Goy über S. J. Baumgarten und J. S. Semler, 131–144; Martin Keßler über Lessing, 60–97; Wolfgang Breul über Gottfried Arnold, 235–251; Alexander Bitzel über J. L. von Mosheim, 319–331; Klaus Unterburger über die katholische Aufklärung, 221–234; Bridget Heal über das Geschick reformatorischer Kunstwerke in der Aufklärung, 279–299). Das ist alles durchweg erkenntnisfördernd, ohne hier diskutiert werden zu können.
Bereits Troeltsch war es klar, dass man zwischen dem – ohnehin nur von außen, also hypothetisch beschreibbaren – Ablauf der Geschichte und den Rhythmisierungen, die durch Rückblick der in der Geschichte lebenden Menschen vorgenommen werden, unterscheiden muss, also zwischen dem neutral-diachronen Zeitverlauf und der wertend-asynchronen Betrachtung. Diese unvermeidlich wertenden Begriffe sind es, die erst den Zusammenhang der Ereignisse stiften – sosehr sie selbst sich natürlich auch im geschicht-lichen Medium bewegen. Darum gewinnen vier Aufsätze des vorliegenden Sammelbandes ein besonderes methodisches Interesse. Christoph Strohm nämlich kann zeigen, in welchem Ausmaß der Hallenser Christian Thomasius als Philosoph und Universitätsreformer sich auf Luther zurückbezogen hat, um das Priestertum aller Gläubigen, den Kampf gegen das kanonische Recht und die Dogmatisierung des Christentums, auch die Öffnung der Bibel für den individuellen Glauben als Momente einer zukunftsorientierten Gegenwart für sich in Anspruch genommen hat (252–277; hier 276). Dieser wertende Rückgriff in aktueller Absicht enthält zwei unterschiedliche Momente in sich. Einmal muss es irgendwie plausibel sein, sich auf einen solchen geschichtlichen Grund in wertender Absicht zurückzubeziehen; sodann bedeutet der Rückgriff selbst natürlich eine aktualisierende Verwandlung, ja Veränderung der historischen Vergangenheit. Was Strohm im Falle von Thomasius mit besonderer Eindringlichkeit zeigen kann, erweist s ich auch in der Aneignung von Erasmus und Melanchthon als Repräsentanten des Humanismus unter aufklärerischen Bedingungen als zutreffend, wenn auch weniger markant. Das ist das Ergebnis, zu dem die Untersuchung von Matthias Pohlig gelangt, mancher methodischer Selbsteinschränkung zu Quellenbreite und Differenzierungsnotwendigkeit zum Trotz (300–318). Dies lediglich eine »instrumentelle Aneignung« zu nennen (316), trägt freilich dem unausweichlich wertenden Verfahren historischer Be­griffsbildung nicht genügend Rechnung.
Interessant ist nun, dass diese an einzelnen Vertretern der Re-formation beobachteten Wertungsgesichtspunkte sich auch in der Historiographie der Zeit abbilden. Volker Ortmann (332–344) und Dirk Fleischer (345–369) zeigen, dass sich die Rhythmisierung historischer Epochen in Mittelalter, Reformation und Neuzeit nicht zuletzt dieser aufklärerischen Deutung verdankt, bereits auf dem Übergang vom 17. ins 18. Jh. (Christoph Keller in Halle), dann aber auch bis ins 19. Jh. hinein (bei J. L. von Mosheim, G. J. Planck, J. G. Walch, C. R. Hausen und anderen).
Aneignung als verändernde (Neu-)Bewertung, das scheint als Muster des aufklärerischen Umgangs mit der Reformation auf. Nun kann man fragen, ob sich dieses Muster selbst, als historisches, nicht eben dieser Epoche verdankt, so dass man sagen könnte: Der reformatorische Impuls eines durch Rückgriff auf den unbedingten Ursprung gestalteten Neubeginns hat sich in der Aufklärung zum Typus historischer Selbstdeutung herausgebildet, von dem nun auch spätere historische Selbstdeutungen Gebrauch machen können. Dass dann der akute Rückgriff nicht mehr auf religiöse Quellen erfolgt, wiewohl er von einer Bewertungskraft religiösen Zuschnitts Gebrauch macht, gehört zur abwandelnden Folge geschichtlichen Selbstverständnisses.
Gerade dann, wenn man sich den Ertrag dieses lesenswerten Sammelbandes so klarmacht, erscheint die Kontroverse, die ihn beschließt, mit Verlaub gesagt, als unsinnig. Sie ist ausgelöst durch eine »Polemik« von Ute Lotz-Heumann und Matthias Pohlig gegen »die Kirchengeschichte« im Namen der »Allgemeingeschichte« (370–375). An dieser Gegenübersetzung ist sozusagen alles falsch. Denn ob sich jemand »Historiker« nennen darf, hängt ja, erstens, nicht von dessen Fakultätszugehörigkeit ab, sondern vom be­herrschten historisch-methodischen Handwerk. Zweitens ist auch die sogenannte »Allgemeingeschichte« alles andere als allgemein; im Gegenteil, sie findet sich immer mehr ausdifferenziert vor, in Epochen, Untersuchungsgegenstände, Schulen, methodischen Vorlieben und dergleichen. Auch Ideengeschichte, drittens, stellt eine sinnvolle historische Fragestellung dar, über deren Zuschnitt man diskutieren kann, die man aber insbesondere dann hochschätzen muss, wenn es um die Reflexion von Urteilskategorien in der historischen Forschung geht. Auch die Polemiker kommen nicht darum herum, von »Aufklärung« zu sprechen; sogar noch ihre Pluralbildung »Aufklärungen« (271), wie hässlich sie immer sein mag, zehrt von dieser Kategorie. Christoph Strohm hat in seiner Erwiderung gegen die »Polemik« das Nötige dazu gesagt, vielleicht ein wenig zu apologetisch formuliert (376–384). Dass die Replik der »Polemiker« (384–387) auf dem Dissens besteht, scheint mir darum weniger der Ausdruck einer rationalen Einsicht als vielmehr das Dokument institutionellen Durchsetzungswillens zu sein. Aber auch diese Wendung gehört zum Erbe der Aufklärung, das von unbedingten Ansprüchen auszugehen gelehrt hat; ein wenig der Religion entsprungene Mäßigung sollte freilich da besser nicht vergessen werden.