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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1037–1039

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, Kohnle, Armin, Rhein, Stefan, u. Ernst-Joachim Waschke[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Initia Reformationis. Wittenberg und die frühe Reformation.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt GmbH 2017. 445 S. m. Abb. = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 33. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05140-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der anzuzeigende Band dokumentiert die Beiträge der vom 17. bis 19. März 2016 abgehaltenen XII. Frühjahrstagung zur Wittenberger Reformation. In der Kombination reformationsgeschichtlicher und lokalhistorischer Studien eröffnet er facettenreiche Einblicke in den Schauplatz sowie die personellen, institutionellen und lebensweltlichen Konstellationen der beginnenden Reformation. Jeder der insgesamt 17 Beiträge bringt eine instruktive, thematisch spezifizierte Sichtweise auf die Keimzelle protestantischer Selbstwerdung ins Spiel.
Die im ersten Kapitel versammelten Studien kreisen um »Frömmigkeit und Kirchenkritik«. Dabei erkundet Christopher Spehr (Jena) präzise und gelehrt die vielgestaltige kirchliche Praxis und die theologischen Legitimationsbestrebungen sowie die nicht selten satirisch vorgetragene Kritik des Ablasses am Vorabend der Reformation. »Die Kirchenkritik des Hoch- und Spätmittelalters und ihre Bedeutung für die Reformation« profiliert in solider Kennerschaft Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg). Dazu schildern Livia Cárdenas (Basel) die im Wittenberger Heiltumsbuch festgehaltene Reliquienfrömmigkeit und Rosemarie Aulinger (München) die Vor- und Verlaufsgeschichte der auf den Reichstagen der 1520er Jahre eingebrachten Gravamina.
Das lokale monastische Umfeld des die Wittenberger Reformation auslösenden Augustinermönchs erhellt in profundem Zugriff Enno Bünz (Leipzig), der damit auch in dem zweiten, mit »Luthers Umfeld« überschriebenen Kapitel seinen Ort hätte finden können. Anhand verstreuter, ungemein instruktiver Akten und Dokumente werden hier von Insa Christiane Hennen (Wittenberg) das durch etliche Abbildungen veranschaulichte Weichbild der damaligen Elbestadt und die darin bestehenden Besitzverhältnisse sowie durch Stefan Oehmig (Berlin) die seinerzeit herrschenden Witterungsverhältnisse tiefenscharf rekonstruiert. Besondere Aufmerksamkeit verdient die von Heiner Lück (Halle) für das Jahr 1517 festgehaltene »Momentaufnahme« der jungen, erst 15 Jahre zuvor eröffneten Wittenberger Universität, als deren Komplement Ulrike Ludwig (Wittenberg) das in den Kollegien und Bursen sich abspielende studentische Alltagsleben vor Augen führt. Die enorme wirtschaftliche Auftriebskraft, die das in Leipzig und Wittenberg während der ersten Reformationsjahre forciert betriebene Drucker-gewerbe freisetzte, stellt Thomas Fuchs (Leipzig) detail- und kenntnisreich dar. Apart sind die Selbstzeugnisse des altgläubig bleibenden Studenten Johan Oldecop, den Mirko Gutjahr (Wittenberg) als einen »problematische[n] Augenzeugen der Reformation« anschaulich vergegenwärtigt.
Unter dem Titel »Beginn der Reformation und frühe Entfaltung« führt das dritte Kapitel verschiedene theologiegeschichtliche Aspekte zusammen. Dabei deutet Volker Leppin (Tübingen), eine intensive Tagungsdebatte auslösend (vgl. 6), Luthers Berichte über seine reformatorische Entdeckung einmal mehr als eine »apologetische Memorial-Konstruktion« (346). Die Verbreitung von Luthers epochalen Ablassthesen vermag Johannes Schilling (Kiel) präzise nachzuzeichnen; instruktive Klärungen bietet auch die sprach-sensible, tabellarisch unterstützte Erkundung der frühen Wittenberger Flugschriftenpublizistik durch Marcel Nieden (Duisburg-Essen). Unentbehrlich ist die von Armin Kohnle (Leipzig) fach-kundig eingebrachte Erinnerung an die von den sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen betriebene »Lutherschutzpolitik« (401), die einen wichtigen strukturellen Ermöglichungsfaktor der von Wittenberg ausgehenden religiösen Erneuerungsbewegung darstellte. Abschließend hebt Irene Dingel (Mainz) die vorkonfessionelle Vielfalt dieser Ur­sprungsetappe hervor.
Insgesamt stellt dieser Tagungsband wertvolle, gelehrte, vielfach anregende Detailstudien bereit, auf die eine noch zu schreibende integrative Gesamtdarstellung der frühen Wittenberger Reformation dankbar wird zurückgreifen können. Auch wenn es müßig, ja sogar ungerecht wäre, das Fehlen weiterer Sachthemen zu beklagen, mag die Frage vielleicht erlaubt sein, weshalb der ausdrücklich vorgebrachte Zweifel, »ob die von Wittenberg ausgehende Reformation […] von Beginn an als ›lutherisch‹ gelten kann« (6), nicht auch zur konzentrierten Inspektion anderer frühreformatorischer Protagonisten aus Luthers Umfeld veranlasste. Vereinzelt sehen sich kollegiale Animositäten kultiviert (z. B. 331 f.411), für die man sich statt polemischer Abschottung doch lieber diskursive Auseinandersetzungen gewünscht hätte. Der hohe historiographische Wert des um ein Personen- und Sachregister vermehrten Bandes bleibt davon, aufs Ganze gesehen, unberührt.