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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1033–1035

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bünz, Enno, u. Hartmut Kühne [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung »Um­sonst ist der Tod«.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015. 843 S. u. 31 Taf. = Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 50. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-86583-924-4.

Rezensent:

Christopher Spehr

Das späte Mittelalter war reich an religiösen Ausdrucksformen. Nie zuvor und vielleicht auch nie wieder danach sollte es eine derartige Fülle an Kirchen und Kapellen, religiösen Gemeinschaften von Klerikern oder Laien, Stiftungen und Wallfahrten, Gnadenbildern und Ablassurkunden, Reliquien u. a. geben. Wie diese vitale Frömmigkeitsvielfalt am Vorabend der Reformation ausgestaltet wurde, veranschaulicht eindrucksvoll der vorliegende Tagungsband. In 30 Aufsätzen werden exemplarisch zahlreiche bislang unbekannte oder weniger bekannte Quellen und Objekte als Zeugen für die Frömmigkeitspraxis vorgestellt, in ihrem historischen Kontext verortet und hinsichtlich ihres »Funktionszusammenhanges« interpretiert (10). Hierbei bildet der mitteldeutsche Raum, der zugleich die Kernlande der (Wittenberger) Reformation umfasst, den Untersuchungsraum.
Dass der im Titel aufscheinende Begriff »Mitteldeutschland« natürlich ein moderner Begriff ist, der über das Territorium der Wettiner hinausgeht und auf die heutigen Bundesländer Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen angewendet wird, wissen die Herausgeber Enno Bünz und Hartmut Kühne wohltemperiert zu thematisieren. Die zahlreichen Gemeinsamkeiten, die diesen Sprach- und Kulturraum auszeichnen, rechtfertigen die über eine reine landesgeschichtliche Perspektive hinausgehende Konzentration. Der zeitliche Rahmen, der im Titel mit »Vorabend der Reformation« angegeben wird, ist keineswegs nur auf die Zeit um 1500 eingegrenzt. Großzügig abgesteckt, erstreckt er sich vom Beginn des Großen Abendländischen Schismas (1378) bis hin zur endgül-tigen Durchsetzung der Reformation in Mitteldeutschland (um 1530), wobei die 1539 im Herzogtum Sachsen eingeführte Reformation noch hinzugezählt werden dürfte.
Die versammelten Beiträge gehen im Kern auf eine vom 19. bis 21. April 2012 in Leipzig durchgeführte wissenschaftliche Tagung zurück, die den Höhepunkt eines seit 2010 laufenden Forschungsprojekts zur Bestandsaufnahme einschlägiger Zeugnisse zur religiösen Alltagspraxis am Vorabend der Reformation darstellte. Ziel des bundesländerübergreifenden Projektes war die von September 2013 bis Februar 2015 zuerst in Mühlhausen, sodann in Leipzig und schließlich in Magdeburg mit je eigenen Akzenten gezeigte mu- seale Schau »Umsonst ist der Tod. Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland«. Der im Michael Imhof Verlag von Hartmut Kühne, Enno Bünz und Thomas T. Müller 2013 herausgegebene Ausstellungskatalog dieser Schau dokumentiert eindrucksvoll den Facettenreichtum der spätmittelalterlichen Alltagsfrömmigkeit. Ergänzt wird der reich bebilderte Katalog nun durch den gleichlautenden, ebenfalls durch Bildtafeln bereicherten Tagungsband, dessen mehrperspektivische Aufsätze von großer Relevanz für die Alltags- und Frömmigkeitsforschung sind.
In seinen »Einführenden Bemerkungen« (15–40) steckt Enno Bünz den Gesamtrahmen unter Einbeziehung der Forschungsliteratur ab und definiert den Begriff »Frömmigkeit« in Anlehnung an Wolfgang Brückner als »praxis pietatis« bzw. »gelebten Glauben« (18). Diesen erweitert er durch Berndt Hamms »auf den konkreten Lebensvollzug des Glaubens durch eine bestimmte Lebensgestaltung« zielende Definition von Frömmigkeit (ebd.) und betont, dass mit dem Begriff »religiöse Handlungsweisen« bezeichnet werden können, »die sich im normativen System der Kirche abspielen« (19). Frömmigkeit komme sowohl bei Laien wie Klerikern und Religios en vor und sei »sozial offen (aber nicht ungebunden)«, indem sie die Bürger, Bauern, soziale Randgruppen, aber auch Geistliche und Fürsten umfasse (ebd.). Weil die Frömmigkeit »selbstverständlicher Teil der alltäglichen Lebenswelten« war, gehören für Bünz »Alltag und Frömmigkeit« untrennbar zusammen (20 f.). Dass hinter dieser Entscheidung nicht der Sonn- oder Feiertag als Gegensatz gedacht ist, sondern die Alltagsgeschichtsforschung als Impulsgeber dient, versteht sich fast von selbst.
Nach dieser Einleitung folgen vier Sektionen, unter denen die materialhaltigen Beiträge summiert sind: »Fürsten, Grafen und Herren«, »Stadt und Land«, »Ablass, Wallfahrt, Wunder und Memoria« sowie »Vermittlungsformen und Normen«. Instruktiv sind aus der ersten Sektion insbesondere die Beiträge von Johannes Mötsch zum »Frömmigkeitswandel in den drei letzten Generationen der Grafen von Henneberg(-Schleusingen)« (43–64) sowie von Armin Kohnle zum »Wandel fürstlicher Frömmigkeitspraxis in der Reformationszeit – der Fall Herzog Georgs von Sachsen« (65–80), die kenntnisreich zwei unterschiedliche Reaktionen auf die Einflüsse der Reformation herausarbeiten. Die von Christoph Volkmar in seinem Beitrag »Mächtig fromm? Zur Religiosität im niederen Adel um 1500« (169–188) am Ende formulierte These, dass »der« niedere Adel deutliche »Zurückhaltung« gegenüber der Reformation übte (188), bedarf zumindest für die unterschiedlichen Phasen der Reformation einer differenzierten Betrachtung.
Eine einschlägige und seit dem 19. Jh. wissenschaftlich bedachte, aber keineswegs umfangreich erforschte Quellengattung stellen die Rechnungen dar. So erstaunt es nicht, dass sich diesen Quellen verschiedene Beiträge widmen. Grundlegend für die kursächsische Perspektive ist der umfangreiche Forschungsbeitrag zu den »Fürstliche[n] Rechnungen als Quellen zur Frömmigkeitsgeschichte« (81–148) von Thomas Lang. Die Wittenberger Situation am Vorabend der Reformation wird durch diesen aus dem Projekt »Er-nestinisches Wittenberg« erwachsenen Aufsatz besonders vertieft. Auf der Basis von Rechnungsüberlieferungen arbeiten beispielsweise Christa Jeitner in ihrem Aufsatz über die »Paramentenkäufe des kursächsischen Hofes auf der Leipziger Messe« (149–168), Martin Sladeczek zu »Arnstadts Pfarrkirchen um 1500« (201–226), Antje J. Gornig zu den »Wittenberger Bruderschaften« (227–280) und Matthias Ludwig zur »Frömmigkeitspraxis am Naumburger Dom« (281–306). Insbesondere Letzterer macht anhand der Rechnungen eine Besonderheit liturgischer Praxis aus: Vermutlich wurden für ein Pfingstspiel zwei mit einem hölzernen Deckel verschließbare »Himmelslöcher« im Gewölbe des Naumburger Doms benutzt. Auch wenn sich keinerlei Informationen in Naumburg über diese liturgische Inszenierung erhalten haben, bieten die seit 1485/86 überlieferten Rechnungsbücher Indizien. Jährlich wurde der Kirchendiener zu Pfingsten für das einmalige Befördern von Wasser auf das Gewölbe des Domes bezahlt (302–305).
Die geistlichen Schauspiele und Inszenierungen werden sodann im Rahmen der vierten Sektion vertieft. Volker Honemann untersucht sie für die »mitteldeutschen Städte« (593–620) und Hannes Lemke für das »Zerbster Prozessionsspiel« (621–633). Erwähnt seien weitere Quellen, die für die Frömmigkeitsforschung hier z. T. erstmals nutzbar gemacht werden: Stadtbücher (Christian Speer, 191–200), Bürgertestamente (Henning Steinführer, 307–324), Schnitzaltäre (Sabine Zinsmeyer, 363–408), Pilgerzeichen (Carina Brumme, 491–511), Schriften über Wunderzeichen (Stefanie Funck, 513–529), Nekrologe (Christian Popp, 531–542), Grabmäler (Johannes Tripps, 635–654), Inschriften (Hans Fuhrmann, 655–672), textiler Schmuck von Bildwerken am Beispiel des Halberstädter »Marienmäntelchen« (Barbara Pregla, 673–714), »Handelnde Bildwerke« (Johannes Tripps, 715–734) und Heiligenbilder auf Wittenberger Ofenkacheln (Hans-Georg Stephan, 735–789).
Aufschlussreich sind ebenfalls die auf mehreren Quellen(-gattungen) beruhenden Untersuchungen zur »Frömmigkeit im ländlichen Raum« von Markus Cottin (325–343), zum »Terminierwesen der Bettelorden« (345–362) von Jörg Voigt sowie zur »Geißlersekte in Thüringen bis 1493« (409–426) von Ingrid Würth, die den einzigen Beitrag für die hier insgesamt unterrepräsentierten spätmittelalterlichen Ketzerbewegungen darstellt. Für die Müntzer- und Reformationsforschung von Interesse dürfte Würths moderat formulierte Beobachtung sein, dass sich »im Verbreitungsgebiet der Geißlersekte radikale reformatorische Strömungen ausbildeten« (423). Überhaupt hätte die Erforschung der Frömmigkeit in den Dörfern, unter den Bauern und im niederen Klerus größere Aufmerksamkeit verdient.
Mit den Facetten des Ablasses befassen sich Hartmut Kühne im Blick auf Raimund Peraudis Ablasskampagne (429–470) und Julia Kahleyß für Zwickau (471–490). Besonders lesenswert sind schließlich die Darstellungen von Heiner Lück zu »Alltagsfrömmigkeit und Rechtsalltag um 1500« (545–570) sowie von Andreas Odenthal zum Thema »Altgläubig oder lutherisch? Veränderungen des Gottesdienstes im Zeitalter der Konfessionalisierung« (571–592). Eine Zusammenfassung mit perspektivischem Ausblick aus der Feder von Hartmut Kühne (793–813) rundet einen insgesamt voluminösen, hoch gelehrten und die interdisziplinäre Frömmigkeitsforschung stimulierenden Band ab, der durch ein hilfreiches Orts- und Personenregister ergänzt wird. Für den mitteldeutschen Raum liegt ein neues Standardwerk vor.