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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1029–1031

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Metzdorf, Justina C.

Titel/Untertitel:

Das Matthäusevangelium. Teilbd. 6: Kapitel 19–21.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 411 S. = Novum Testamentum Patristicum, 1.6. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-54059-6.

Rezensent:

Ulrich Luz

Das von Kurt Niederwimmer angeregte und heute vom Regensburger Patristiker Andreas Merkt hauptsächlich betreute »Novum Testamentum Patristicum« ist ein Jahrhundertwerk. Nach dem »Probeband«, dem 2007 erschienenen Kommentar zum Galaterbrief von Martin Meiser (NTP 9), und dem »Modellband« des Herausgebers, der 2015 den ersten Teilband seines Kommentars zum 1. Petrusbrief erscheinen ließ (NTP 21/1), ist der vorliegende Band von Justina Metzdorf der dritte eigentliche Kommentarband, der vorliegt. Das Konzept des Gesamtwerks wurde von Andreas Merkt in »Sacra Scripta X/1«, Cluj-Napoca 2012, 15–38 vorgestellt. Das formale Konzept der Kommentarbände, die sehr übersichtlich gestaltet und durch viele Untertitel gut gegliedert sind, wurde von Friedrich W. Horn in seiner Rezension des »Modellbandes« in dieser Zeitschrift gewürdigt (ThLZ 141 [2016/6], 624 f.). Auf diese beiden Texte sei hier ausdrücklich verwiesen.
Die Darstellung der patristischen Auslegung des Matthäusevangeliums stellt vor besondere Herausforderungen, denn das Matthäusevangelium war das kirchliche Hauptevangelium, das besonders häufig ausgelegt und über das besonders häufig gepredigt wurde. M. konnte in ihrem Kommentar denn auch nur eine repräsentative Auswahl der Quellen berücksichtigen. Zu dieser Auswahl gehören über die großen Predigtsammlungen und Kommentare hinaus einige zum Teil wenig bekannte Einzelpredigten, z. B. von Asterius von Amasea über Mt 19,3–6, von einem unbekannten Schüler Augustins über Mt 19,1–15, von Basilius von Caesarea über Mt 19,16–30 und von Severianus von Gabala über Mt 21, 18–22.
Die Kommentierung des Matthäusevangeliums wird voraussichtlich in acht Teilbänden erfolgen, die aber zurzeit noch nicht alle vergeben sind und mit deren Erscheinen deshalb nicht in absehbarer Zeit gerechnet werden kann. Immerhin besteht die Hoffnung, dass wir auf den ersten Teilband zu Mt 1–2 (NTP I/1) von Thomas Karmann, dessen Erscheinen einmal für 2016 geplant war, nicht mehr allzu lange werden warten müssen. Dieser Teilband ist besonders wichtig, weil er die Gesamteinleitung zu allen Teilbänden des Matthäusevangeliums enthalten dürfte. M. kann deshalb ihre Einleitung (22–31) kurz halten und sich auf einige spezielle Fragen, vor allem auch Fragen der Hermeneutik und der Methoden patristischer Schriftauslegung beschränken.
Ihr Buch liest sich gut und ist spannend. Dies nicht nur darum, weil M. eine ausgezeichnete Stilistin ist und gut lesbar, manchmal sogar sehr pointiert schreibt. Vor allem ist das Buch spannend, weil es die Kirchenväter in einem neuen Licht zeigt: In der patristischen Sekundärliteratur dominieren theologische Fragestellungen und systematisierende Auslegungen. Wenn man aber die Kirchenväter als Exegeten betrachtet, wird das Bild viel farbiger und reicher: Die Väter erscheinen als Seelsorger, als Kirchenführer und Kirchenkritiker, als Exegeten und als Hermeneutiker. Wir erfahren Überraschendes z. B. über die Frauen: Sie seien mehr als die Männer bereit, an die Gottheit Jesu Christi zu glauben (42). Von Gen 1,27 her seien Mann und Frau gleichrangig und gleichwertig; manche Väter verbinden das mit scharfem Widerspruch gegen patriarchale Rangordnungen (44; vgl. 49). Schöne Beispiele für Kirchenkritik sind die Kritik an den Bischöfen, die oft machtgierig und überheblich sind (Origenes, 235 f., aufgrund von Mt 20,25–27) oder die Mt 21,34 f. ge­äußerte Kritik des Opus Imperfectum an den »Winzern«, die auf die christlichen Priester gedeutet werden, die oft nur ein Auge da­für haben, was sie aus ihrem Priesteramt für Gewinne erwirtschaften können, und dabei das Kirchenvolk vernachlässigen (366 f.).
Zu den seelsorgerlichen Perlen gehört z. B., dass nach Basilius d. Gr. ein Mann, der seine Frau verlassen hat und eine andere heiratet, wieder zur Kommunion zugelassen werden kann, allerdings erst nach sieben Jahren und nach aufrichtiger Buße (61). Basilius bedauert ebenfalls, dass Männer sich von ihren Frauen, wenn sie fremdgehen, scheiden lassen, Frauen dagegen nach der »Gewohnheit« ihre Männer, obwohl sie fremdgehen, behalten. Die biblischen Scheidungsregelungen seien eben von Männern konzipiert worden (so Gregor d. Gr.; 65). Verständnis zeigen manche Kirchenväter auch für geschiedene Frauen, welche aus purer sozialer Not heraus ein zweites Mal heiraten, weil das ihre einzige Überlebenschance in der spätantiken Gesellschaft war (62 f.). Die Kirchenväter sind gute Seelsorger; der größte Seelenarzt aber ist Jesus selber (137; vgl. 255 f.).
Die Deutung des Gebotes an den jungen Mann, seinen Besitz zu verkaufen (Mt 19,21), als »evangelischer Rat« geht bis auf Ambrosius zurück (123). Eine allegorische Deutung dieses Gebots hält Origenes mit Hinweis auf kynische Philosophen, die das beispielhaft vorgelebt hätten, für beschämend (124). Kaiser Julian schlug übrigens mit Berufung auf ebendieses Gebot vor, die christlichen Gemeinden zu enteignen, um ihnen den Weg in den Himmel zu ebnen (132). Die Kirchenväter sind nicht per se reichtumskritisch; Reichtum kann eine Gottesgabe sein. Vermögensbildung sei aber gefährlich; Reichtum berge – nach Basilius – ein enormes Suchtpotential (142).
Neben aus der patristischen Exegese Vertrautem, wie etwa der gesamtbiblischen Harmonisierung einzelner Bibelstellen, gibt es auch manche hermeneutischen Überraschungen: Weil jeder biblische Text nicht nur einen wörtlichen, sondern auch einen gegenwartsbezogenen Sinn hat, kann das Gericht über die zwölf Stämme Israels (Mt 19,28) auch als Gericht über die Kirche gedeutet werden (Augustin; 164). Ein anderes schönes Beispiel für einen mehrfachen Schriftsinn ist auch die Auslegung der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), die zugleich heilsgeschichtlich auf die Weltzeit gedeutet werden kann – dann sind z. B. der Apostel Paulus oder der gute Schächer am Kreuz Beispiele für Berufene der letzten Stunde –, sondern auch auf das Leben eines einzelnen Menschen. Beide Deutungen gehen bis auf Irenäus bzw. Origenes zurück (184–186.189). Origenes weiß, dass sich der Sinn der biblischen Texte nicht ein für alle mal festschreiben lässt, sondern er muss dynamisch weiterentwickelt werden, denn auch die Leser sind vom Heiligen Geist inspiriert (177). – Interessant ist auch, dass kein antiker Exeget klarer für eine metaphorische Deutung von εὐνοῦχοι (Mt 19,12) eintritt als Origenes; das spricht eindeutig gegen die verbreitete Legende von seiner angeblichen Selbstkastration (77–83).
Register und Quellenverzeichnis schließen den Band ab. Besonders das ausführliche Verzeichnis der Quellen (389–399) werden die Benutzer dieses Bandes immer wieder aufschlagen. Der Rezensent möchte M. für ihre sorgfältige Arbeit, nicht zuletzt auch für die sorgfältige Auswahl der Texte danken, die sie aus der unübersehbar großen Zahl spätantiker und frühmittelalterlicher Texte, die sich in irgendeiner Weise auf Mt 19–21 beziehen, getroffen hat. Ihr Ziel, eine repräsentative Auswahl der Quellen zu treffen, hat sie in hervorragender Weise erreicht. Der Band ist auch gut gegliedert: Jeder Einzelperikope ist eine Übersicht vorangestellt, welche die wichtigsten Auslegungstypen und Quellen nennt. Dann folgt die versweise Auslegung, die jeweils durch Untertitel thematisch gegliedert ist.
Auf die zeit- und theologiegeschichtliche Einordnung ihrer Quellen geht M. oft nur mit knappen Worten ein; es ist gut, dass sie hier nicht überbordet und keinem Perfektionismus frönt. Nur dann, wenn sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ähnlicher Weise wie M. beschränken, können wir hoffen, dass das »Jahrhundertwerk« des Novum Testamentum Patristicum noch in diesem Jahrhundert zum Abschluss kommen wird.