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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1024–1027

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, Schliesser, Benjamin, u. Nadine Ueberschaer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt. Hrsg. unter Mitarbeit v. K. Hager.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XXV, 957 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 373. Lw. EUR 219,00. ISBN 978-3-16-153878-0.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Obwohl Glaube ein »Kernbegriff des Christentums« (so Jörg Frey in der Einleitung, XIX) ist, haben exegetische Untersuchungen oder gar neutestamentliche Gesamtdarstellungen sich des Themas mit ganz wenigen Ausnahmen in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr angenommen. Gegenwärtig jedoch ist hier eine Trendwende zu verzeichnen. Etliche der in diesem Buch beteiligten Beiträgerinnen und Beiträger haben bereits in den letzten Jahren größere Monographien zu Teilaspekten des Themas vorgelegt (so z. B. Bernhard Mutschler, Thomas Schumacher, Teresa Morgan). Vor allem aber haben die Mitherausgeber Benjamin Schliesser und Nadine Ueberschaer in ihren Qualifikationsarbeiten zentral zum Thema gearbeitet. Benjamin Schliesser hat dann neben weiteren Publikationen zum Thema in diesem Band zwei große Beiträge beigesteuert, von denen wiederum die Einführung »Faith in Early Christian-ity. An Encyclopedic and Bibliographical Outline« (3–50) Basisliteratur jeder zukünftigen Beschäftigung mit dem Thema sein muss.
Wer sich, wie auch der Rezensent, in den vergangenen Jahren intensiver mit dem Thema befasst hat, ist in der Regel auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, weshalb im frühen Christentum, ja bereits in seinen allerersten Anfängen bei Paulus, das Stichwort Glaube/glauben so intensiv auftritt. Eberhard Jüngel sprach einmal von einer »explosionsartigen Steigerung« (RGG4 III, 953), aber wo lag der zündende Funke für diese Explosion? Eine letzte Antwort wird auch dieser Band nicht geben. Schliesser schreibt: »The question why it is precisely faith that attained such unparalleled central status, has of yet not been explained conclusively and re-quires further analysis.« (46) Jörg Frey vermutet, dass die Explosion »ursprungshaft zusammenhängt mit dem Christusgeschehen, dem Auftreten, der Verkündigung und dem Geschick Jesu von Nazareth«, das Glauben aus sich heraussetzte oder provozierte (XX). An dieser Stelle müsste wohl noch weitergearbeitet werden. Wie auch immer, wir sehen dank dieses Buches jetzt schon vieles klarer und bewegen uns nicht mehr in falschen Alternativen. Zu den jüngst neu hinzugekommenen Aspekten zählt ganz sicher der Hinweis auf das Potential, das in einem Vergleich mit dem römischen Fides-Begriff liegt (Christian Strecker, Teresa Morgan, Thomas Schumacher).
Jörg Frey hält in seiner Einführung fest, »dass das Neue Testament selbst kein einheitliches Glaubensverständnis enthält, sondern signifikant unterschiedliche Konzepte und Implikationen« (XIII). Er thematisiert vier Themen oder Grundfragen, deren Beantwortung für das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum grundlegend ist: a) Der von Martin Buber eingebrachte Gegensatz von zwei Glaubensweisen (Fürwahrhalten versus Vertrauen) und der dem korrespondierende Gegensatz zwischen hebräischem und griechischem Denken ist unzutreffend. b) Die Annahme einer Diastase zwischen dem jüdischen Glauben Jesu und dem von Paulus eingebrachten christlichen Glauben ist ein überkommenes und mittlerweile überholtes forschungsgeschichtliches Konstrukt. c) Jörg Frey beobachtet eine Kontinentaldrift zwischen zentraleuropäischer und nordamerikanischer Bibelwissenschaft, die sich im Blick auf das Thema des Bandes in der Interpretation des Syntag mas πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ (Gal 2,16; 3,22 u. a.) niederschlägt (Chris-tus als Gabe oder Christus als Vorbild). d) Jörg Frey widersetzt sich einer Abwertung der neutestamentlichen Spätschriften und ihrer Glaubensvorstellungen, die zeitweise unter das Verdikt des Frühkatholizismus gestellt wurden.
Das Werk – Jörg Frey spricht von einem »Kompendium« (V) – geht zurück auf eine Fachtagung in Zürich (28.02.–02.03.2013) zum Verständnis des Glaubens bei Paulus. Im Anschluss daran wurden weitere Beiträgerinnen und Beiträger gewonnen, so dass jetzt wirklich eine Art Kompendium (mit Lücken) vorliegt, das zweiunddreißig Beiträge enthält und in sieben Bereiche aufgeteilt ist: a) Einführung (1), b) Hebräische Bibel und Septuaginta (3), c) Frühjüdisches und rabbinisches Schrifttum (5), d) Hellenistisch-römische Welt (4), e) Neues Testament (9), f) Frühchristliche und altkirchliche Perspektiven (6), g) Kirchengeschichtlicher und systematisch-theologischer Ausblick (4). Es ist also ein Verfahren gewählt wor den, das sich im Wesentlichen in chronologischer Abfolge an Schriften bzw. Schriftengruppen orientiert und nicht an Themen (Glaube und Ekklesiologie, Ethik, Sakramente, Eschatologie, frühe Glaubensformeln). Das reichhaltige Register des Bandes hilft je­doch leicht, Themen zu erschließen. Die Beiträgerinnen und Beiträger sind zu einem großen Teil durch weitere Publikationen genau zu dem Bereich, den sie in diesem Kompendium behandeln, seit Jahren bestens ausgewiesen.
Zunächst einige wenige Beobachtungen zur Durchführung dieses Programms. Knapp 1000 Seiten können natürlich jetzt nicht in einer Rezension in 1000 Worten angemessen gewürdigt werden. Es scheint mir zunächst wichtig, dass der Glaubensbegriff und das Glaubensverständnis der Septuaginta als einer eigenen Größe ne­ben der Hebräischen Bibel in zwei Beiträgen untersucht werden. An sie nämlich werden die frühchristlichen Schriftsteller u. a. durch Zitate anschließen. Die Qumrantexte begegnen nicht in einem eigenen Beitrag, sondern eher peripher und verstreut. Ihr Beitrag zum Thema scheint gering zu sein. Höchst differenziert und wegweisend für jede weitere Interpretation sind neben den Ausführungen zu frühjüdischen Autoren die Beiträge zur hellenis-tisch-römischen Welt. Neben einem sprachlichen Beitrag von Peter Arzt-Grabner zum Verständnis von πίστις in den dokumentarischen Papyri und einer Untersuchung Rainer Hirsch-Luipolds zur Philosophie Plutarchs, die zwischen fides und ratio nicht un­terscheidet, leiten Teresa Morgan und Thomas Schumacher zu dem römischen Verständnis von fides über. Hier liegt ein unübersehbarer Neueinsatz, dessen Potential angedeutet, aber noch nicht ausgeschöpft ist. Thomas Schumacher schreibt: »Die davon ausgehend entfaltete These war die, dass der römisch-lateinische Fides-Begriff mit der ihm inhärenten dialogisch-hierarchischen Grundstruktur sich als ein möglicher Verstehensschlüssel für die paulinischen πίστις-Aussagen eignet.« (341)
Die Beiträge zum Neuen Testament orientieren sich an Autoren (Paulus) und Schriften (1Kor, Lk, Apg, Mt, Joh, Jak, Hebr, Pastoralbriefe, Jud, 2Petr) und rücken bestimmte Themen dieser Schriften in den Mittelpunkt, die die Palette des Glaubensverständnisses im frühen Christentum erheblich verbreitern. So zeigt wiederum Jörg Frey (in einem von insgesamt drei englischsprachigen Beiträgen), wie Glaube im Jud/2Petr in eine Reihe mit christlichen Tugenden gesetzt wird. Karl-Wilhelm Niebuhr schließt seine Ausführungen zum Jakobusbrief mit der These, dass die Werke in dieser Schrift zur sichtbaren Seite des Glaubens werden (501). Grundlegend ist der Beitrag Michael Wolters zum Glaubensverständnis des Paulus, in dem erneut das Wesen des Glaubens als Wirklichkeitsgewissheit in der Bezogenheit auf Christus vorgestellt wird (359). Benjamin Schliesser bespricht die Rationalität des Glaubens in einem Vergleich von Hebräerbrief und Paulus in einem die anderen Beiträge hinsichtlich des Umfangs weit überschreitenden Maß. Eine um­fängliche Besprechung des Markusevangeliums oder der Johannesbriefe wäre gewiss auch sinnvoll gewesen. Hier bietet die Einführung von Benjamin Schliesser zu »Faith in Early Christianity« al-lerdings knappe Bemerkungen. Kein Platz findet sich in dem Kom­pendium in Form eines eigenen Beitrags für Jesus, dessen Worte vom Berge versetzenden Glauben oder vom Glauben im Kontext einer Wunderhandlung zu bedenken gewesen wären. Und zwar gerade angesichts der von Jörg Frey eingangs ausgesprochenen Vermutung, dass die Explosion der Glaubensthematik im frühen Christentum »ursprungshaft zusammenhängt mit dem Christusgeschehen, dem Auftreten, der Verkündigung und dem Ge­schick Jesu von Nazareth«, das Glauben aus sich heraussetzte oder provozierte (XX).
Der Schritt über die Grenzen des Kanons hinaus öffnet den Blick auf Polykarp von Smyrna, den Ersten Clemensbrief und die Ignatianen, den Zweiten Clemensbrief, Klemens von Alexandrien, die Akten des Paulus und der Thekla sowie das Thomasevangelium (in einem Vergleich mit dem Johannesevangelium). Es gefällt, wie die Glaubensthematik in diesen Schriften eingeordnet wird in deren übergreifende literarische und theologische Ausrichtung. Der Band schließt mit einem Ausblick. Einerseits beleuchten Peter Opitz und Volker Leppin die Römerbriefauslegung durch Heinrich Bullinger und Martin Luther unter spezifischen, auf das Glaubensverständnis bezogenen Fragestellungen. Andererseits eröffnet An­ne Käfer ein fundamentaltheologisches Gespräch mit Karl Barth und Friedrich Schleiermacher, das den neuzeitlichen Perspektivwechsel hinsichtlich der Subjektivität des Glaubens gegenüber der reformatorischen Theologie anzeigt. Abgeschlossen wird der Band durch die katholische Theologin Johanna Rahner mit »Katholische Thesen zu einem scheinbar protestantischen Thema«, die u. a. an das Grundprinzip katholischen Denkens erinnern, Glauben und Denken zu vereinen, und an den Neueinsatz durch das II. Vatikanische Konzil, Glaube als existentiell-personalen Grundvollzug zu verstehen.
Der Band enthält keine abschließende Zusammenschau oder Gesamtsicht des Glaubens. Ich wüsste auch nicht, wie diese aussehen sollte oder was man da überhaupt erwarten dürfte. Dieses Unterfangen wäre, so Jörg Frey mit Recht, »vielleicht auch nicht erstrebenswert« (XXV). Es ist ja gerade das Verdienst des Bandes, das Thema in Breite und Ausdifferenzierung vorgestellt und jeder Harmonisierungstendenz weitgehend widerstanden zu haben. Darin liegt der Gewinn. Das Werk ist als Kompendium zweifelsfrei ein Meilenstein. Es leistet, was der Herausgeber im Vorwort als Hoffnung anspricht, »einen Beitrag […] zum vertieften Verständnis der Entwicklung der frühchristlichen Sprache und nicht zuletzt des Phänomens ›Glaube‹ in Geschichte und Gegenwart« (VI). Stellen-, Autoren- und Sachregister umfassen 80 Seiten und sind hier unverzichtbar. Ein Verzeichnis der 32 Beiträgerinnen und Beiträger wäre angebracht gewesen.