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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1007–1008

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Westrup, Felix

Titel/Untertitel:

Wissenschaft, Religion und moderne Geisteskultur. Die deutschsprachige Religionspsychologie um 1900.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 206 S. = Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, 12. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-525-31037-3.

Rezensent:

Isabelle Noth

Zur Jahrtausendwende konnte man in einem von Christian Henning und Erich Nestler herausgegebenen Sammelband mit dem Titel »Religionspsychologie heute« lesen, dass die Disziplin inzwischen sogar in Deutschland wieder auferstanden sei. Wer sich mit der Geschichte dieses klassischen Querschnittfaches befasst, weiß, dass die Bemühungen um eine Institutionalisierung und Förderung der Disziplin im Verlauf des 20. Jh.s beträchtlich waren, und dennoch immer wieder zum Erliegen kamen. Angesichts der Vielzahl der seit den 1990er Jahren veröffentlichten englischsprachigen und mit leichter Verzögerung auch deutschsprachigen Einführungen und Überblickswerke kann man jedoch tatsächlich von einem erneuten Erwachen des Faches sprechen. Dieses zeigt sich u. a. in der Aufarbeitung der jeweils länderspezifisch eigenen Disziplingeschichte. Im Zuge dieses Neuaufbruchs ist die Schließung eklatanter wissenschaftshistorischer Forschungslücken wie jener der Jahre um 1900 anzusiedeln. Wir kehren damit zu den Anfängen zu­rück: Wilhelm Wundt hatte nämlich 1879 in Leipzig das erste experimentalpsychologische Labor eingerichtet und damit den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der modernen Psychologie gegeben. Die Erkenntnis, dass zu deren Gegenstandsbereich, dem menschlichen Erleben und Verhalten, auch Religion und Religiosität gehören, bedeutete die Geburtsstunde der Religionspsychologie.
Die vom Theologen Felix Westrup in München vorgelegte Dissertation verfolgt das Ziel, das Verhältnis zwischen der sich neu herausbildenden wissenschaftlichen Psychologie und der Religionsforschung sowie -praxis um 1900 im deutschen Sprachraum umfassend zu erörtern. In einer diskurs- und ideengeschichtlichen Analyse wird zuerst die interdisziplinäre Debatte zwischen ca. 1890 und 1914 in ihrer ganzen Breite präzis und kenntnisreich anhand der einschlägigen Veröffentlichungen chronologisch nachgezeichnet, danach werden in einem zweiten Schritt drei sich daraus ergebende thematische Konfliktfelder vertieft untersucht: Es handelt sich dabei erstens um die bis heute strittige und insbesondere die Theologie beschäftigende Funktionalismus- und Substantialitätsfrage, zweitens um die Nützlichkeit und Verwertbarkeit religionspsychologischer Methoden und Erkenntnisse für die Theologie und drittens um eine praktisch-theologische Erwartungshaltung gegenüber der psychologischen Religionsforschung in Sachen religiöser und spezifisch auch pfarramtlicher Praxis.
Wie disparat die modernen Vorstellungen in Bezug auf Religion und Religiosität zu jener Zeit waren, zeigt das im April 1907 erstmals und nachher monatlich bis 1913 erschienene neue Publikationsorgan »Zeitschrift für Religionspsychologie«. Dieses enthielt in seiner ersten Ausgabe als allerersten Beitrag – eine Auftragsarbeit – den berühmten kurzen Essay »Zwangshandlungen und Religionsübung« von Sigmund Freud. Gleichzeitig forderten im Geleit zu dieser Erstausgabe die beiden Herausgeber, der Theologe Gustav Vorbrodt und der Psychiater Johannes Bresler, dass sich die Religionsforschung an empirisch-naturwissenschaftlicher Methodik orientieren solle, um neue Erkenntnisse über Religion und Religiosität zu erlangen.
W.s Analyse der in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge zeigt, wie uneingelöst die ursprünglichen Forderungen und Ab­sichten blieben und wie unterschiedlich die Überzeugungen und Herangehensweisen waren, die miteinander um die Deutungshoheit im Gebiet der Religionsforschung rangen.
Die in der Studie eingehend erörterten Konfliktfelder ließen sich alle drei bis in die Gegenwart weiterverfolgen. So initiierte z. B. der Schweizer Praktische Theologe Christoph Morgenthaler die Dis­kussion, ob die Pastoralpsychologie nicht sinnvollerweise durch eine empirische Religionspsychologie abgelöst werden müsste. Die flüssig geschriebene und spannend zu lesende Studie erfüllt deshalb nicht nur den Zweck, die deutschsprachige Religionspsychologie um 1900 überzeugend darzustellen und zu analysieren, sondern hilft auch gegenwärtige Auseinandersetzungen zwischen Praktischer Theologie, Psychologie und Religionswissenschaften historisch und inhaltlich einzuordnen.